Frostige Grüße aus der Steinzeit
Russische Wissenschaftler haben eine längst ausgestorbene Pflanze wiederbelebt - mit freundlicher Unterstützung des sibirischen Permafrostbodens. Der Berliner Botaniker Johannes Vogel vermutet in dieser "Kühltruhe" noch mehr faszinierende Naturschätze.
Dieter Kassel: Eigentlich haben wir das Ganze Erdhörnchen zu verdanken, Erdhörnchen, die vor über 30.000 Jahren Nahrungsmittelvorräte angelegt haben. Das war auch damals schon nicht ungewöhnlich, ist es bei den Tierchen bis heute nicht, aber sie haben Teile der Pflanze Silene stenophylla in einer Höhle versteckt, in einer Höhle, die heute mehr als 30 Meter unter der Erde ist und in der 30.000 Jahre lang Frost herrschte. Wir reden ja auch von diesen Permafrostböden in diesem Teil der Welt, wir reden nämlich von Sibirien.
Und dort haben russische Forscher diese Pflanzenteile entdeckt, aufgetaut, und so ist es ihnen gelungen, eine längst ausgestorbene Pflanze wieder zum Blühen zu bringen. Und die Fotos dieser blühenden Pflanze und auch Fernsehbilder sind gestern um die ganze Welt gegangen. Aber was bedeutet das wirklich? Ist das nur der Anfang? Der Anfang von was genau und wie groß ist diese Sensation überhaupt?
Darüber wollen wir jetzt mit Professor Johannes Vogel reden, er ist der Generaldirektor des Berliner Naturkundemuseums. Schönen guten Tag, Herr Vogel!
Johannes Vogel: Schönen guten Tag, Herr Kassel!
Kassel: Wie schätzen Sie es denn als Fachmann ein, ist das wirklich so unglaublich, was die Kollegen in Russland da gemacht haben?
Vogel: Also, das ist schon unheimlich erstaunlich. Man muss sich das so vorstellen: In Sibirien gibt es eben halt seit vielen Tausenden von Jahren Permafrost, das heißt, der Boden ist die ganze Zeit über gefroren. Und das ist sozusagen ein Archiv des Lebens, des sibirischen Lebens über die letzten 30.000, 50.000 Jahre. Und in diesen Böden sind eben halt die Pflanzen und Tiere, die damals in dieser Tundra gelebt haben, dann gefangen und sozusagen archiviert worden. Und es ist ganz hervorragend, dass sich Leute darum bemühen zu sehen, was von diesen Teilen noch zum Leben erweckt werden kann. Zum einen kann man in diesen Archiven sehen, wie damals das Ökosystem funktioniert hat, welche Tiere und Pflanzen da gelebt haben, aber es ist schon wirklich sehr, sehr erstaunlich, dass man versucht, das auch wieder zum Leben zu erwecken, mit solchen spektakulären Erfolgen.
Kassel: Wenn nun die Wissenschaftler zum Beispiel als Erstes festgestellt haben, diese alte, ausgestorbene Pflanze ist ihren heute existierenden Verwandten aus der gleichen Gattung ähnlich, aber es gibt große Unterschiede, was hat der Biologe von dieser Erkenntnis?
Vogel: Na ja, das ist …
Kassel: … eine Laienfrage!
Vogel: Nein, nein, das ist eine sehr interessante Frage. Ich bin ja nun selber Pflanzengenetiker und habe mich sehr mit Variabilität von Pflanzen beschäftigt und ich muss schon sagen, dass ich das einen der interessanten Aspekte dieser ganzen Arbeit sehe. Zum einen glaube ich, dass es diesen Leuten gelungen ist, eine Pflanze nach 30.000 Jahren wieder zum Leben zu erwecken. Was ich nicht glaube, ist, dass sie die Variabilität, die in dieser Lichtnelke existiert, genügend studiert haben, um zu sagen, dass sie Dasselbe oder etwas Unterschiedliches ist von 30.000 Jahren. 30.000 Jahre in der Pflanzenevolution ist keine lange Zeit.
Kassel: Vielleicht, weil Sie das gerade so gesagt haben, einen Teil glauben Sie dessen, was publiziert wird, einen Teil nicht: Ist denn das, was da jetzt wächst in Russland, wirklich genau die Pflanze, wie sie vor 30.000 Jahren war, also, kann man davon ausgehen?
Vogel: Das ist eine Frage von Definition. Natürlich bin ich nicht dasselbe wie meine Großeltern oder wie meine Kinder, also, wir verändern uns schon durch die Generationen. Aber wie groß der Unterschied ist, kann man eigentlich nur richtig ableiten, wenn man genau weiß, wie groß die derzeitig existierende Variabilität innerhalb einer Art ist. Und das ist eine ganz, ganz andere Fragestellung, die in dieser Arbeit eigentlich gar nicht richtig bearbeitet worden ist.
Kassel: Nun sagen die Forscher, sagt auch die Russische Akademie der Wissenschaften, dieses Experiment spielt eine große Rolle bei der Erhaltung der Biodiversität. Das will mir nicht sofort einleuchten, wenn wir von der Vielfalt der Arten auf der Erde reden und auf der anderen Seite über eine Art reden oder zumindest dieses Exemplar dieser Gattung, die längst ausgestorben ist!
Vogel: Das, finde ich, ist ein interessantes Schlagwort, was da benutzt worden ist, dem kann ich aber so leider auch nicht zustimmen. Die Biodiversität zu erhalten ist die Aufgabe der derzeitigen Generation. Und unsere Aufgabe ist es, das zu erhalten, was es derzeit auf dem Planeten gibt. Und da gibt es sehr, sehr viel zu tun. Wie Sie vielleicht wissen, sind erst 15 Prozent der Arten, mit denen wir diesen Planeten teilen, erforscht, 85 Prozent der Arbeit sind noch zu tun, und da brauchen wir uns nicht unbedingt 30.000 Jahre nach hinten zu wenden, sondern meiner Ansicht nach sollten wir uns 30.000 Jahre nach vorne wenden und sehen, dass wir das, was wir jetzt haben, schützen und für zukünftige Generationen erhalten. Das ist meiner Ansicht nach wertvoller.
Kassel: Nun haben Sie andererseits – und das kann ich auch verstehen – mit einer gewissen Faszination in Ihrem Gesicht, fand ich, gesagt, dass dort im russischen Permafrostboden ja eine Menge liegt. Man hat nun mit dieser einen speziellen Pflanze begonnen. Ist das der Anfang von viel mehr? Denn in diesem, im ewigen Eis sind andere Pflanzen, sind kleine Lebewesen, sind aber auch Insekten und größere Lebewesen – nicht die Lebewesen selber unbedingt, aber ihr Erbgut – ja versteckt.
Vogel: Natur ist einfach unheimlich spannend und erstaunlich. Ich bin ja nun selber Botaniker, aber einiges, was die Zoologen hinkriegen oder die Tiere hinkriegen, ist ja ganz spannend. Sie wissen ja zum Beispiel, es gibt ganz kleine Tierchen, Bärtierchen heißen die, die leben in Moospolstern oder auf Dächern von Häusern, und die kann man sogar ins All schicken und da zehn Tage im All schweben lassen, ohne Schutz, mit minus 272 Grad und der ganzen Strahlung da oben, und dann bringt man die zurück auf die Erde und die leben. Also, diese Kryopräservation, dass Leben in der Kälte überleben kann, ist bei Pflanzen und Tieren sehr gut ausgeprägt. Und was dabei wichtig ist, ist, dass dieses Leben nicht allzu oft auftaut, sondern eigentlich, wenn es einmal gefroren ist, lang, über lange Zeiträume hin gefroren ist. Und darüber kann man dann dieses Überleben garantieren.
Und von daher ist so eine Sache wie der sibirische Permafrost wirklich ein unheimlich spannendes tiefgefrorenes Archiv für uns als Menschen. Und einfach zu sehen, welchen Einfluss Umweltveränderungen auf Leben, auf Ökosysteme hat, das ist eine ganz tolle Aufgabe. Und deswegen, finde ich, ist das eine spannende Sache, darauf hinzuweisen und gleichzeitig auch zu sehen, welche Möglichkeiten Permafrost als Archiv des Lebens für uns bedeutet.
Kassel: Nun gibt es da ja, Professor Vogel, noch ganz andere Projekte. Japanische Forscher zum Beispiel reden schon seit einer Weile davon, binnen fünf, sechs Jahren – das ist ja noch eine überschaubare Zeit – einen Mammut wieder zum Leben erwecken zu wollen! Wie weit ist denn der Weg von so einer Pflanze, wie wir sie mit dieser Silene stenophylla nun haben, hin zum Mammut?
Vogel: Ja, was wir hier bei den Pflanzen haben, ist eben halt … Durch die ganze Gartenindustrie ist sehr viel darüber geforscht worden, wie man aus verschiedenen Zellen in Pflanzen ganze Pflanzen produzieren kann. Und das ist bei Tieren nicht ganz so einfach wegen der Stammzellen und verschiedenster anderer Sachen. Also, das ist bei Tieren komplizierter als bei Menschen auch, gerade bei höheren Lebewesen wie Elefanten zum Beispiel oder Mammuts muss man ja … Die kann man ja nicht im Labor ziehen, sondern die muss man ja in einer Gebärmutter heranziehen und dann muss man sich überlegen, ob der Elefant das richtige Lebewesen wäre, um sozusagen ein Mammutei auszubrüten und so weiter und so fort.
Also, da sind schon viel kompliziertere Sachen als bei einer Pflanze, wo man eben halt einzelne Zellen auf ein Nährmedium stecken kann und dann eben in einem Reagenzglas sozusagen eine Pflanze ziehen kann. Ich habe große Hochachtungen vor den Anstrengungen der japanischen Forscher und ich bin eigentlich auch sicher, dass die das hinkriegen werden. Weil wiederum der Permafrost in Sibirien doch Zellen erhalten hat in dieser Kühltruhe, die es durchaus ermöglichen, daraus wieder neues Leben erwachen zu lassen.
Kassel: Aber ist das nicht auch eine alptraumhafte Vorstellung, dass man plötzlich ein Mammut hat? Ich meine, wissenschaftlich toll, aber ist das moralisch vertretbar?
Vogel: Na ja … Da kann man sich drüber unterhalten, ob Forscher immer das machen, was moralisch vertretbar ist oder nicht. Also, da muss man unterscheiden, glaube ich, zwischen der Kuriosität, die ein Forscher haben muss, um eben halt neue Horizonte zu erobern, und dann, was die Gesellschaft damit machen will. Also, wenn man ein Mammut neu erstehen lassen will und das in den Zoo packt, kann man damit höchst wahrscheinlich leben. Wenn man allerdings darüber nachdenkt, dass man dieselben Techniken unter Umständen dazu benutzen würde, um Neandertaler oder so etwas wieder auferstehen zu lassen, dann treten ganz andere moralische Fragen auf, weil wir dann ja schon nahe an den Menschen kommen und dann uns überlegen, wie können wir einen Menschen in eine Umwelt passen, in der er eigentlich gar nicht geboren ist und so weiter und so fort. Aber das sind dann breitere gesellschaftliche Diskussionen, die auf uns zukommen. Dass Wissenschaftler Horizonte eröffnen wollen, das ist deren Aufgabe.
Kassel: Wir reden im Deutschlandradio Kultur heute Nachmittag mit Professor Johannes Vogel, er ist der Generaldirektor des Naturkundemuseums in Berlin. Anlass für unser Gespräch ist der erfolgreiche Versuch russischer Wissenschaftler, eine seit 30.000 Jahren eingefrorene Pflanze wieder zum Leben zu erwecken. Reden wir mal wieder über die Biodiversität, die hatten wir schon als Thema, Herr Vogel: Wenn sich nun diese Technik, die das erste Mal so hervorragend funktioniert hat in Russland, langsam zur Routine entwickelt – das tun solche neuen Techniken früher oder später –, könnte man dann so eine Art Reservedatenbank anlegen mit sämtlichen vom Aussterben bedrohten Pflanzen und Tierarten?
Vogel: Das hat man bereits. Da wird bereits ganz hart dran gearbeitet. Es gibt da zwei große Projekte, das eine ist eine Anlage in Svalbard in Norwegen, wo in 140 Metern Tiefe das Saatgut unserer Kulturpflanzen geschützt wird. Das funktioniert bereits sehr gut, da gibt die Bill-Gates-Stiftung, die norwegische Regierung, die amerikanische Regierung, auch die deutsche Regierung Geld für. Das ist das eine. Das andere ist das Millennium Seed Bank in Kew. Das ist ein international vernetztes Projekt, wo überall in der Welt Samenbanken entstehen, um eben halt die Pflanzendiversität zu sammeln. Das ist eine sehr sinnvolle Sache auch gerade in Bezug auf die große Umweltzerstörung, die die ganze Welt zu dieser Zeit erlebt, und das große Aussterben von Arten, was wir miterleben müssen. Wir müssen aber auch gleichzeitig wissen, dass all die Anstrengungen, die wir machen, um Pflanzen außerhalb ihrer Habitate zu schützen, eigentlich ein bisschen Augenwischerei ist.
Worauf es ankommt, ist, die ganzen Ökosysteme, in denen diese Organismen leben, zu schützen. Sie müssen sich das so vorstellen: Sie gehen in einen Urwald und da ist eine seltene Banane und Sie möchten jetzt diese Banane erhalten. Dann nehmen Sie Samen dieser Banane und tun sie in eine Samenbank. Das ist ja alles schön und gut. Nach 20 Jahren holen Sie die Samen da raus und lassen die neue Banane wachsen. Dann fehlt der Banane aber vielleicht der Pilz, der früher im Boden war und die Nährstoffe bereitgestellt hat, dann fehlt der Banane vielleicht die Biene, die die Banane befruchtet und so weiter und so fort. Man kann einen Organismus nicht in Isolation betrachten, sondern man muss das Ganze als solistisches Ökosystem sehen. Und deswegen ist es wichtig, Ökosysteme zu schützen. Aber gleichzeitig macht es auch Sinn, sozusagen Reserven anzulegen, aber man muss beides machen, man kann sich nicht auf das eine verlassen und das andere vernachlässigen.
Kassel: Aber sehen Sie nicht die Gefahr, wenn wir die Reserven haben, es vielleicht immer einfacher wird, auch aus winzigen Restbeständen DNA zu isolieren und die Pflanze, vielleicht sogar das Tier wieder auferstehen zu lassen, dass man irgendwann sagt: Na ja, so was wie Aussterben gibt es ja gar nicht mehr, wir können ja alles jederzeit wieder herstellen?
Vogel: Ja, das ist durchaus die Gefahr. Aber da, denke ich, muss man einfach mit den Bürgern und den Politikern drüber reden, dass das eine sehr starke Vereinfachung ist, die nicht zum Ziel führt. Man erntet keine Äpfel ohne die Bienen. Und wenn ich auch die Äpfel schütze: Wenn ich keine Bienen habe, ernte ich trotzdem nichts. Also, das hängt alles miteinander zusammen und das versteht der Bürger auch.
Kassel: Herzlichen Dank! Johannes Vogel war da, bei uns zu Gast, der Generaldirektor des Berliner Naturkundemuseums.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Und dort haben russische Forscher diese Pflanzenteile entdeckt, aufgetaut, und so ist es ihnen gelungen, eine längst ausgestorbene Pflanze wieder zum Blühen zu bringen. Und die Fotos dieser blühenden Pflanze und auch Fernsehbilder sind gestern um die ganze Welt gegangen. Aber was bedeutet das wirklich? Ist das nur der Anfang? Der Anfang von was genau und wie groß ist diese Sensation überhaupt?
Darüber wollen wir jetzt mit Professor Johannes Vogel reden, er ist der Generaldirektor des Berliner Naturkundemuseums. Schönen guten Tag, Herr Vogel!
Johannes Vogel: Schönen guten Tag, Herr Kassel!
Kassel: Wie schätzen Sie es denn als Fachmann ein, ist das wirklich so unglaublich, was die Kollegen in Russland da gemacht haben?
Vogel: Also, das ist schon unheimlich erstaunlich. Man muss sich das so vorstellen: In Sibirien gibt es eben halt seit vielen Tausenden von Jahren Permafrost, das heißt, der Boden ist die ganze Zeit über gefroren. Und das ist sozusagen ein Archiv des Lebens, des sibirischen Lebens über die letzten 30.000, 50.000 Jahre. Und in diesen Böden sind eben halt die Pflanzen und Tiere, die damals in dieser Tundra gelebt haben, dann gefangen und sozusagen archiviert worden. Und es ist ganz hervorragend, dass sich Leute darum bemühen zu sehen, was von diesen Teilen noch zum Leben erweckt werden kann. Zum einen kann man in diesen Archiven sehen, wie damals das Ökosystem funktioniert hat, welche Tiere und Pflanzen da gelebt haben, aber es ist schon wirklich sehr, sehr erstaunlich, dass man versucht, das auch wieder zum Leben zu erwecken, mit solchen spektakulären Erfolgen.
Kassel: Wenn nun die Wissenschaftler zum Beispiel als Erstes festgestellt haben, diese alte, ausgestorbene Pflanze ist ihren heute existierenden Verwandten aus der gleichen Gattung ähnlich, aber es gibt große Unterschiede, was hat der Biologe von dieser Erkenntnis?
Vogel: Na ja, das ist …
Kassel: … eine Laienfrage!
Vogel: Nein, nein, das ist eine sehr interessante Frage. Ich bin ja nun selber Pflanzengenetiker und habe mich sehr mit Variabilität von Pflanzen beschäftigt und ich muss schon sagen, dass ich das einen der interessanten Aspekte dieser ganzen Arbeit sehe. Zum einen glaube ich, dass es diesen Leuten gelungen ist, eine Pflanze nach 30.000 Jahren wieder zum Leben zu erwecken. Was ich nicht glaube, ist, dass sie die Variabilität, die in dieser Lichtnelke existiert, genügend studiert haben, um zu sagen, dass sie Dasselbe oder etwas Unterschiedliches ist von 30.000 Jahren. 30.000 Jahre in der Pflanzenevolution ist keine lange Zeit.
Kassel: Vielleicht, weil Sie das gerade so gesagt haben, einen Teil glauben Sie dessen, was publiziert wird, einen Teil nicht: Ist denn das, was da jetzt wächst in Russland, wirklich genau die Pflanze, wie sie vor 30.000 Jahren war, also, kann man davon ausgehen?
Vogel: Das ist eine Frage von Definition. Natürlich bin ich nicht dasselbe wie meine Großeltern oder wie meine Kinder, also, wir verändern uns schon durch die Generationen. Aber wie groß der Unterschied ist, kann man eigentlich nur richtig ableiten, wenn man genau weiß, wie groß die derzeitig existierende Variabilität innerhalb einer Art ist. Und das ist eine ganz, ganz andere Fragestellung, die in dieser Arbeit eigentlich gar nicht richtig bearbeitet worden ist.
Kassel: Nun sagen die Forscher, sagt auch die Russische Akademie der Wissenschaften, dieses Experiment spielt eine große Rolle bei der Erhaltung der Biodiversität. Das will mir nicht sofort einleuchten, wenn wir von der Vielfalt der Arten auf der Erde reden und auf der anderen Seite über eine Art reden oder zumindest dieses Exemplar dieser Gattung, die längst ausgestorben ist!
Vogel: Das, finde ich, ist ein interessantes Schlagwort, was da benutzt worden ist, dem kann ich aber so leider auch nicht zustimmen. Die Biodiversität zu erhalten ist die Aufgabe der derzeitigen Generation. Und unsere Aufgabe ist es, das zu erhalten, was es derzeit auf dem Planeten gibt. Und da gibt es sehr, sehr viel zu tun. Wie Sie vielleicht wissen, sind erst 15 Prozent der Arten, mit denen wir diesen Planeten teilen, erforscht, 85 Prozent der Arbeit sind noch zu tun, und da brauchen wir uns nicht unbedingt 30.000 Jahre nach hinten zu wenden, sondern meiner Ansicht nach sollten wir uns 30.000 Jahre nach vorne wenden und sehen, dass wir das, was wir jetzt haben, schützen und für zukünftige Generationen erhalten. Das ist meiner Ansicht nach wertvoller.
Kassel: Nun haben Sie andererseits – und das kann ich auch verstehen – mit einer gewissen Faszination in Ihrem Gesicht, fand ich, gesagt, dass dort im russischen Permafrostboden ja eine Menge liegt. Man hat nun mit dieser einen speziellen Pflanze begonnen. Ist das der Anfang von viel mehr? Denn in diesem, im ewigen Eis sind andere Pflanzen, sind kleine Lebewesen, sind aber auch Insekten und größere Lebewesen – nicht die Lebewesen selber unbedingt, aber ihr Erbgut – ja versteckt.
Vogel: Natur ist einfach unheimlich spannend und erstaunlich. Ich bin ja nun selber Botaniker, aber einiges, was die Zoologen hinkriegen oder die Tiere hinkriegen, ist ja ganz spannend. Sie wissen ja zum Beispiel, es gibt ganz kleine Tierchen, Bärtierchen heißen die, die leben in Moospolstern oder auf Dächern von Häusern, und die kann man sogar ins All schicken und da zehn Tage im All schweben lassen, ohne Schutz, mit minus 272 Grad und der ganzen Strahlung da oben, und dann bringt man die zurück auf die Erde und die leben. Also, diese Kryopräservation, dass Leben in der Kälte überleben kann, ist bei Pflanzen und Tieren sehr gut ausgeprägt. Und was dabei wichtig ist, ist, dass dieses Leben nicht allzu oft auftaut, sondern eigentlich, wenn es einmal gefroren ist, lang, über lange Zeiträume hin gefroren ist. Und darüber kann man dann dieses Überleben garantieren.
Und von daher ist so eine Sache wie der sibirische Permafrost wirklich ein unheimlich spannendes tiefgefrorenes Archiv für uns als Menschen. Und einfach zu sehen, welchen Einfluss Umweltveränderungen auf Leben, auf Ökosysteme hat, das ist eine ganz tolle Aufgabe. Und deswegen, finde ich, ist das eine spannende Sache, darauf hinzuweisen und gleichzeitig auch zu sehen, welche Möglichkeiten Permafrost als Archiv des Lebens für uns bedeutet.
Kassel: Nun gibt es da ja, Professor Vogel, noch ganz andere Projekte. Japanische Forscher zum Beispiel reden schon seit einer Weile davon, binnen fünf, sechs Jahren – das ist ja noch eine überschaubare Zeit – einen Mammut wieder zum Leben erwecken zu wollen! Wie weit ist denn der Weg von so einer Pflanze, wie wir sie mit dieser Silene stenophylla nun haben, hin zum Mammut?
Vogel: Ja, was wir hier bei den Pflanzen haben, ist eben halt … Durch die ganze Gartenindustrie ist sehr viel darüber geforscht worden, wie man aus verschiedenen Zellen in Pflanzen ganze Pflanzen produzieren kann. Und das ist bei Tieren nicht ganz so einfach wegen der Stammzellen und verschiedenster anderer Sachen. Also, das ist bei Tieren komplizierter als bei Menschen auch, gerade bei höheren Lebewesen wie Elefanten zum Beispiel oder Mammuts muss man ja … Die kann man ja nicht im Labor ziehen, sondern die muss man ja in einer Gebärmutter heranziehen und dann muss man sich überlegen, ob der Elefant das richtige Lebewesen wäre, um sozusagen ein Mammutei auszubrüten und so weiter und so fort.
Also, da sind schon viel kompliziertere Sachen als bei einer Pflanze, wo man eben halt einzelne Zellen auf ein Nährmedium stecken kann und dann eben in einem Reagenzglas sozusagen eine Pflanze ziehen kann. Ich habe große Hochachtungen vor den Anstrengungen der japanischen Forscher und ich bin eigentlich auch sicher, dass die das hinkriegen werden. Weil wiederum der Permafrost in Sibirien doch Zellen erhalten hat in dieser Kühltruhe, die es durchaus ermöglichen, daraus wieder neues Leben erwachen zu lassen.
Kassel: Aber ist das nicht auch eine alptraumhafte Vorstellung, dass man plötzlich ein Mammut hat? Ich meine, wissenschaftlich toll, aber ist das moralisch vertretbar?
Vogel: Na ja … Da kann man sich drüber unterhalten, ob Forscher immer das machen, was moralisch vertretbar ist oder nicht. Also, da muss man unterscheiden, glaube ich, zwischen der Kuriosität, die ein Forscher haben muss, um eben halt neue Horizonte zu erobern, und dann, was die Gesellschaft damit machen will. Also, wenn man ein Mammut neu erstehen lassen will und das in den Zoo packt, kann man damit höchst wahrscheinlich leben. Wenn man allerdings darüber nachdenkt, dass man dieselben Techniken unter Umständen dazu benutzen würde, um Neandertaler oder so etwas wieder auferstehen zu lassen, dann treten ganz andere moralische Fragen auf, weil wir dann ja schon nahe an den Menschen kommen und dann uns überlegen, wie können wir einen Menschen in eine Umwelt passen, in der er eigentlich gar nicht geboren ist und so weiter und so fort. Aber das sind dann breitere gesellschaftliche Diskussionen, die auf uns zukommen. Dass Wissenschaftler Horizonte eröffnen wollen, das ist deren Aufgabe.
Kassel: Wir reden im Deutschlandradio Kultur heute Nachmittag mit Professor Johannes Vogel, er ist der Generaldirektor des Naturkundemuseums in Berlin. Anlass für unser Gespräch ist der erfolgreiche Versuch russischer Wissenschaftler, eine seit 30.000 Jahren eingefrorene Pflanze wieder zum Leben zu erwecken. Reden wir mal wieder über die Biodiversität, die hatten wir schon als Thema, Herr Vogel: Wenn sich nun diese Technik, die das erste Mal so hervorragend funktioniert hat in Russland, langsam zur Routine entwickelt – das tun solche neuen Techniken früher oder später –, könnte man dann so eine Art Reservedatenbank anlegen mit sämtlichen vom Aussterben bedrohten Pflanzen und Tierarten?
Vogel: Das hat man bereits. Da wird bereits ganz hart dran gearbeitet. Es gibt da zwei große Projekte, das eine ist eine Anlage in Svalbard in Norwegen, wo in 140 Metern Tiefe das Saatgut unserer Kulturpflanzen geschützt wird. Das funktioniert bereits sehr gut, da gibt die Bill-Gates-Stiftung, die norwegische Regierung, die amerikanische Regierung, auch die deutsche Regierung Geld für. Das ist das eine. Das andere ist das Millennium Seed Bank in Kew. Das ist ein international vernetztes Projekt, wo überall in der Welt Samenbanken entstehen, um eben halt die Pflanzendiversität zu sammeln. Das ist eine sehr sinnvolle Sache auch gerade in Bezug auf die große Umweltzerstörung, die die ganze Welt zu dieser Zeit erlebt, und das große Aussterben von Arten, was wir miterleben müssen. Wir müssen aber auch gleichzeitig wissen, dass all die Anstrengungen, die wir machen, um Pflanzen außerhalb ihrer Habitate zu schützen, eigentlich ein bisschen Augenwischerei ist.
Worauf es ankommt, ist, die ganzen Ökosysteme, in denen diese Organismen leben, zu schützen. Sie müssen sich das so vorstellen: Sie gehen in einen Urwald und da ist eine seltene Banane und Sie möchten jetzt diese Banane erhalten. Dann nehmen Sie Samen dieser Banane und tun sie in eine Samenbank. Das ist ja alles schön und gut. Nach 20 Jahren holen Sie die Samen da raus und lassen die neue Banane wachsen. Dann fehlt der Banane aber vielleicht der Pilz, der früher im Boden war und die Nährstoffe bereitgestellt hat, dann fehlt der Banane vielleicht die Biene, die die Banane befruchtet und so weiter und so fort. Man kann einen Organismus nicht in Isolation betrachten, sondern man muss das Ganze als solistisches Ökosystem sehen. Und deswegen ist es wichtig, Ökosysteme zu schützen. Aber gleichzeitig macht es auch Sinn, sozusagen Reserven anzulegen, aber man muss beides machen, man kann sich nicht auf das eine verlassen und das andere vernachlässigen.
Kassel: Aber sehen Sie nicht die Gefahr, wenn wir die Reserven haben, es vielleicht immer einfacher wird, auch aus winzigen Restbeständen DNA zu isolieren und die Pflanze, vielleicht sogar das Tier wieder auferstehen zu lassen, dass man irgendwann sagt: Na ja, so was wie Aussterben gibt es ja gar nicht mehr, wir können ja alles jederzeit wieder herstellen?
Vogel: Ja, das ist durchaus die Gefahr. Aber da, denke ich, muss man einfach mit den Bürgern und den Politikern drüber reden, dass das eine sehr starke Vereinfachung ist, die nicht zum Ziel führt. Man erntet keine Äpfel ohne die Bienen. Und wenn ich auch die Äpfel schütze: Wenn ich keine Bienen habe, ernte ich trotzdem nichts. Also, das hängt alles miteinander zusammen und das versteht der Bürger auch.
Kassel: Herzlichen Dank! Johannes Vogel war da, bei uns zu Gast, der Generaldirektor des Berliner Naturkundemuseums.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.