Frühe "Occupy"-Bewegung von innen
Vier der damals federführenden Lektoren rekonstruieren, was 1968 vor sich ging, als Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld und das Lektorat um die Macht stritten. Und der verstorbene Cheflektor Walter Boehlich kommt mit seinen Briefen zu Wort.
Er war der strahlende Held des deutschen Verlagswesens: Siegfried Unseld, der 2002 verstorbene Chef des Suhrkamp Verlags. Vom legendären Peter Suhrkamp hatte Unseld den Verlag in den 50er-Jahren als junger Mann übernommen, und was er auch anfing, es wurde zum Erfolg. So wie die regenbogenbunte Reihe "edition suhrkamp", die nicht wenig dazu beitrug, dass die Studentenbewegung in Deutschland mit theoretischem Widerstands-Material versorgt wurde.
Seit dieser Zeit stand das Haus Suhrkamp im Ruf, nicht nur ein erstrangiger literarischer Verlag mit Autoren wie Martin Walser, Uwe Johnson und Peter Handke zu sein. Er galt auch als "links", sein Verleger demgemäß selbst als Linker. Doch dem war durchaus nicht so. Vielmehr verfügte die junge Lektoren-Mannschaft unter Walter Boehlich über linkes theoretisches Rüstzeug, und folgerichtig kam es im Herbst 1968 zum Zusammenstoß zwischen den veränderungslustigen jungen Leuten und ihrem agilen Verleger. Dieser Konflikt sollte den Verlag fast an den Rand der Existenz bringen und schließlich die Lebensläufe der Protestierer entscheidend verändern.
Denn ihr rebellisches Kind fiel gründlich in den Brunnen. Als die Lektoren ihre Verträge mit Siegfried Unseld bereits gelöst hatten und einige von ihnen begannen, einen neuen Verlag nach ihren Prinzipien aufzubauen, erklärte der ausgeschiedene Cheflektor Walter Boehlich der Schriftstellerin Ingeborg Bachmann in einem Brief, was da vor sich gegangen war:
"Also: es ging nicht mehr mit Unseld und mir. Er wollte einfach nicht mehr und hatte sich eingeredet, dass ich ihm seinen perfekt funktionierenden Verlag durcheinanderbrächte und sonst nichts mehr täte. (…) Ich habe mich (…) auch nicht damit abfinden können, dass Unseld zwar mein Wissen und notfalls meine Arbeitskraft sich oder dem Verlag erhalten, meine Kritik aber nicht länger akzeptieren wollte."
Dies nämlich war der persönliche Hintergrund des Konflikts, der im Herbst 1968 eskalierte: Cheflektor und Verleger fanden keine gemeinsame Arbeitsgrundlage mehr. Boehlich hatte im neu gegründeten "Kursbuch" polemische Thesen über den "Tod der Literatur" proklamiert. Die Gruppe der mit ihm übereinstimmenden Lektoren konfrontierte den Verleger mit dem Entwurf einer demokratischen Verlagsverfassung. Diesem zufolge hätte sich der Einfluss Siegfried Unselds auf ein Minimum reduziert – derjenige der Lektoren wäre entsprechend gewachsen.
Sie wollten den Verlag im Hinblick auf die internen Entscheidungsprozesse sozialisieren: Er sollte sich nicht nur in den von ihm verlegten Theorien, sondern auch im praktischen Handeln als linke Institution bewähren. Nur eine entscheidende Größe hatten ausgerechnet sie bei alledem vergessen: die Autoren, auf deren Arbeit der Verlag immerhin basierte. Siegfried Unseld rief eilends die wichtigsten von ihnen zusammen, und es kam, was kommen musste: Die Autoren stellten sich auf die Seite ihres Verlegers, die Lektoratsverfassung wurde abgeschmettert. Abschließend schrieb Boehlich an seinen Verleger:
Ich sehe drei Möglichkeiten für die Zukunft. Wir verkehren weiter miteinander wie in diesen Briefen. Das fände ich nicht gut. Wir verkehren kaum noch oder gar nicht miteinander, was eine Lösung, aber eine kindische (…) wäre. Oder wir verkehren miteinander wie zwei erwachsene Menschen, die aufhören, einander anzuklagen, zu reizen, zu schaden, zu demütigen, zu rüffeln, und was sonst noch, wie voneinander unabhängige, gleichberechtigte, "freie" Menschen.
Doch hier war nichts mehr zu machen. Die Lektoren, die den Aufschwung des Suhrkamp Verlags in den 60er-Jahren maßgeblich bewirkt hatten, verließen das Haus, der "Verlag der Autoren" wurde gegründet – und arbeitet bis heute nach den Prinzipien, mit denen die Aufständischen weiland am Fels Unseld gescheitert waren.
In ebendiesem "Verlag der Autoren" ist jetzt ein Buch erschienen, das diese aufreibende Phase im einst bedeutendsten deutschen Verlag in hellen Farben ins Gedächtnis ruft. Vier der damals federführenden Lektoren rekonstruieren in lebendigen Erinnerungsberichten, was 1968 vor sich ging, was dies für sie persönlich und für die deutsche Verlagswelt bedeutete; Briefe von Walter Boehlich bereichern das Ensemble um eine weitere energische Stimme. So ersteht wieder auf, was heute völlig undenkbar scheint: Wie einmal ein Fähnlein von zehn Aufrechten sich daran machte, innerhalb einer etablierten Institution den Schritt von der Theorie in die Praxis zu tun. Wie sie trotz lockender Angebote des Verlegers persönliche Konsequenzen zogen, als ihr Vorhaben gescheitert war. Und wie es ihnen dennoch gelang, jenes Modell zu verwirklichen, das sie bei Unseld nicht in die Welt bringen konnten. Ein Buch voller Widerstandsgeist, noch heute, voller Intelligenz und Ironie. Staunend hält man es gegen die heutige Wirklichkeit: Es ist der frühe Fall einer "Occupy"-Bewegung von innen.
Chronik der Lektoren. Von Suhrkamp zum Verlag der Autoren
Herausgegeben von Walter Boehlich, Karlheinz Braun, Klaus Reichert, Peter Urban, Urs Widmer
Verlag der Autoren
Seit dieser Zeit stand das Haus Suhrkamp im Ruf, nicht nur ein erstrangiger literarischer Verlag mit Autoren wie Martin Walser, Uwe Johnson und Peter Handke zu sein. Er galt auch als "links", sein Verleger demgemäß selbst als Linker. Doch dem war durchaus nicht so. Vielmehr verfügte die junge Lektoren-Mannschaft unter Walter Boehlich über linkes theoretisches Rüstzeug, und folgerichtig kam es im Herbst 1968 zum Zusammenstoß zwischen den veränderungslustigen jungen Leuten und ihrem agilen Verleger. Dieser Konflikt sollte den Verlag fast an den Rand der Existenz bringen und schließlich die Lebensläufe der Protestierer entscheidend verändern.
Denn ihr rebellisches Kind fiel gründlich in den Brunnen. Als die Lektoren ihre Verträge mit Siegfried Unseld bereits gelöst hatten und einige von ihnen begannen, einen neuen Verlag nach ihren Prinzipien aufzubauen, erklärte der ausgeschiedene Cheflektor Walter Boehlich der Schriftstellerin Ingeborg Bachmann in einem Brief, was da vor sich gegangen war:
"Also: es ging nicht mehr mit Unseld und mir. Er wollte einfach nicht mehr und hatte sich eingeredet, dass ich ihm seinen perfekt funktionierenden Verlag durcheinanderbrächte und sonst nichts mehr täte. (…) Ich habe mich (…) auch nicht damit abfinden können, dass Unseld zwar mein Wissen und notfalls meine Arbeitskraft sich oder dem Verlag erhalten, meine Kritik aber nicht länger akzeptieren wollte."
Dies nämlich war der persönliche Hintergrund des Konflikts, der im Herbst 1968 eskalierte: Cheflektor und Verleger fanden keine gemeinsame Arbeitsgrundlage mehr. Boehlich hatte im neu gegründeten "Kursbuch" polemische Thesen über den "Tod der Literatur" proklamiert. Die Gruppe der mit ihm übereinstimmenden Lektoren konfrontierte den Verleger mit dem Entwurf einer demokratischen Verlagsverfassung. Diesem zufolge hätte sich der Einfluss Siegfried Unselds auf ein Minimum reduziert – derjenige der Lektoren wäre entsprechend gewachsen.
Sie wollten den Verlag im Hinblick auf die internen Entscheidungsprozesse sozialisieren: Er sollte sich nicht nur in den von ihm verlegten Theorien, sondern auch im praktischen Handeln als linke Institution bewähren. Nur eine entscheidende Größe hatten ausgerechnet sie bei alledem vergessen: die Autoren, auf deren Arbeit der Verlag immerhin basierte. Siegfried Unseld rief eilends die wichtigsten von ihnen zusammen, und es kam, was kommen musste: Die Autoren stellten sich auf die Seite ihres Verlegers, die Lektoratsverfassung wurde abgeschmettert. Abschließend schrieb Boehlich an seinen Verleger:
Ich sehe drei Möglichkeiten für die Zukunft. Wir verkehren weiter miteinander wie in diesen Briefen. Das fände ich nicht gut. Wir verkehren kaum noch oder gar nicht miteinander, was eine Lösung, aber eine kindische (…) wäre. Oder wir verkehren miteinander wie zwei erwachsene Menschen, die aufhören, einander anzuklagen, zu reizen, zu schaden, zu demütigen, zu rüffeln, und was sonst noch, wie voneinander unabhängige, gleichberechtigte, "freie" Menschen.
Doch hier war nichts mehr zu machen. Die Lektoren, die den Aufschwung des Suhrkamp Verlags in den 60er-Jahren maßgeblich bewirkt hatten, verließen das Haus, der "Verlag der Autoren" wurde gegründet – und arbeitet bis heute nach den Prinzipien, mit denen die Aufständischen weiland am Fels Unseld gescheitert waren.
In ebendiesem "Verlag der Autoren" ist jetzt ein Buch erschienen, das diese aufreibende Phase im einst bedeutendsten deutschen Verlag in hellen Farben ins Gedächtnis ruft. Vier der damals federführenden Lektoren rekonstruieren in lebendigen Erinnerungsberichten, was 1968 vor sich ging, was dies für sie persönlich und für die deutsche Verlagswelt bedeutete; Briefe von Walter Boehlich bereichern das Ensemble um eine weitere energische Stimme. So ersteht wieder auf, was heute völlig undenkbar scheint: Wie einmal ein Fähnlein von zehn Aufrechten sich daran machte, innerhalb einer etablierten Institution den Schritt von der Theorie in die Praxis zu tun. Wie sie trotz lockender Angebote des Verlegers persönliche Konsequenzen zogen, als ihr Vorhaben gescheitert war. Und wie es ihnen dennoch gelang, jenes Modell zu verwirklichen, das sie bei Unseld nicht in die Welt bringen konnten. Ein Buch voller Widerstandsgeist, noch heute, voller Intelligenz und Ironie. Staunend hält man es gegen die heutige Wirklichkeit: Es ist der frühe Fall einer "Occupy"-Bewegung von innen.
Chronik der Lektoren. Von Suhrkamp zum Verlag der Autoren
Herausgegeben von Walter Boehlich, Karlheinz Braun, Klaus Reichert, Peter Urban, Urs Widmer
Verlag der Autoren