Früher "überbürdet", heute überfordert
Schon um 1900 wurde die Beschleunigung zum Stressfaktor. Autor Wolfgang Martynkewicz nimmt Erschöpfungszustände von Persönlichkeiten wie Friedrich Nietzsche oder Otto von Bismarck unter die Lupe - interessante Geschichten und eine umfängliche Bestandsaufnahme, doch die Analyse fehlt.
"In diesem Buch sollen nicht noch einmal die allseits bekannten Krisenphänomene der "vernetzten Epoche" zitiert werden, es soll vielmehr der Zusammenhang hergestellt werden zwischen der um 1900 einsetzenden Mobilmachung des Menschen und der schon sehr früh diagnostizierten Erschöpfung. Beides gehört zusammen",
schreibt Wolfgang Martynkewicz und demonstriert die Überforderung der Menschen um die Jahrhundertwende anhand zahlreicher Prominenter: Rainer Maria Rilke litt an Erschöpfung genauso wie Franz Kafka oder auch Otto von Bismarck. Und nicht nur sie.
"Der Nervenarzt Paul Julius Möbius beobachtete schon 1894, dass mehr und mehr "normale", auf den ersten Blick völlig gesunde Menschen seine Praxis aufsuchten: Kellner, Dienstboten, Pferdebahnschaffner. Sie fühlten sich überfordert und seien oft zu kontinuierlicher Tätigkeit nicht mehr in der Lage, weil ihre Lebensführung in Unordnung geraten sei …"
Woran lag das? Das Leben war zu schnell für die Menschen geworden. Was wir heute als Beschleunigung erleben, immer neue Technologien, immer größere Anforderungen, immer mehr Hektik, war offenbar auch für die Menschen um 1900 ein Stressfaktor: Die Eisenbahn sorgte für schnelle Verbindungen, die Zeitungen wurden mehrmals täglich aktualisiert, die Maschinen liefen immer schneller und, wie der amerikanische Neurologe George Miller Beard damals feststellte, die modernen Uhren, die neue Möglichkeit der exakten Zeitmessung, taten ihr Übriges.
"Die Perfektionierung der Uhren und die Erfindung der Taschenuhren hat etwas mit der modernen Nervosität zu tun, weil sie uns zwingt, pünktlich zu sein … Die Pünktlichkeit raubt uns mehr Nervenkraft als Saumseligkeit. Wir stehen unter ständigem Druck – meistens unbewusst – oft sowohl im Schlaf, wie im Wachen, zu einem bestimmten Zeitpunkt irgendwo hin zu kommen oder irgendetwas tun zu müssen."
Die nervöse Erschöpfung wurde zunächst als die Krankheit Neurasthenie diagnostiziert, von einem nervösen Zeitalter war die Rede, von der Überkomplexität des modernen Lebens und den Vergewaltigungen der Großstadt.
Erstaunlich die vielen Parallelen zum heutigen Stressempfinden, selbst die Kinder und Jugendlichen waren Ende des 19. Jahrhunderts schon ähnlich überfordert wie heute. Wolfgang Martynkewicz bezieht sich hier auf den Mediziner Wilhelm Erb und seine Veröffentlichung aus dem Jahr 1893 "Über die wachsende Nervosität unserer Zeit":
"Durch die gesteigerten Anforderungen und eine Ausweitung des Lernstoffes sei der Druck in den Schulen in bisher unbekannter Weise gestiegen, viele Schüler, aber auch viele Lehrer fühlten sich übermäßig belastet und – wie man damals sagte – ‘überbürdet‘. Auf breiter Front wurde die sogenannte Überbürdungsfrage diskutiert."
Vier Persönlichkeiten der Zeitgeschichte nimmt Wolfgang Martynkewicz näher unter die Lupe, um an ihnen die, wie er es nennt, "Krise der Willenskultur um 1900" zu beschreiben: den Reichskanzler Otto von Bismarck, den Philosophen Friedrich Nietzsche, den Soziologen Max Weber und die Wagner-Witwe und Unternehmerin Cosima Wagner. Sie alle hatten Erschöpfungszustände und psychische Probleme.
Bismarck war zu fett, ein müder Koloss, der unter Weinkrämpfen litt, Cosima Wagner übererregt und unruhig, Nietzsche, je nach Sichtweise, überreizt oder geisteskrank, und Max Weber depressiv und stets am Rande eines Nervenzusammenbruchs. Alle haben zahlreiche Therapien ausprobiert, die ihnen helfen sollten: Besonders der bayrische Arzt Ernst Schweninger hatte es den prominenten Patienten angetan. Er arbeitete mit Naturheilverfahren, verordnete strenge Diäten und viel Bewegung an der frischen Luft.
Für eine ausgewählte Klientel wurde Schweninger Ende des 19. Jahrhunderts zum Modearzt und Seelenführer
Auch andere Ärzte und Wissenschaftler entwickelten zu der Zeit neue Konzepte gegen die Erschöpfung. Sigmund Freud experimentierte mit Kokain und war ganz begeistert, wie viel Energie das verleiht. Max Bircher-Benner, der Erfinder des Bircher-Müslis, propagierte Rohkost-Ernährung, strenge Lebensregeln und viel Sonnenlicht. In seinem Sanatorium "Lebendige Kraft" behandelte er Patienten wie Thomas Mann oder Herrmann Hesse.
Andere suchten ihr Heil in fernöstlicher Spiritualität oder in streng vegetarisch und naturverbunden lebenden Gemeinschaften wie der Künstlerkolonie auf dem Monte Verità im Tessin.
Das alles sind interessante Geschichten, die Wolfgang Martynkewicz da recherchiert hat. Sie erzählen viel über den damaligen Zeitgeist. Aber dieses Werk mit seinen 350 Seiten plus 70 Seiten Anhang vermittelt auch den Eindruck, der Autor habe alles, was ihm bei seinen aufwändigen Recherchen begegnet ist, irgendwie unterbringen müssen. Da gibt es noch diese Seitenstraße und jene, manche davon enden in einer Sackgasse. Dabei ist das Ganze geschrieben wie eine wissenschaftliche Abhandlung.
Wolfgang Martynkewicz, der mit seinem vorherigen Buch "Salon Deutschland. Kunst und Macht 1900-1945" recht erfolgreich war, legt mit "Das Zeitalter der Erschöpfung. Die Überforderung des Menschen durch die Moderne" eine umfassende, in ihrer Materialfülle ziemlich erschöpfende, zeitgeschichtliche Bestandsaufnahme vor. Eine psychologische und politische Analyse mit entsprechenden Schlussfolgerungen, wie man sie bei diesem Titel erwarten würde, ist das nicht. Am Ende bedient er sich bei Hannah Arendt und ihrem Begriff der Weltlosigkeit. Sein Fazit: Gegen Erschöpfung helfe keine Medizin und keine Therapie, denn:
"Das Zeitalter der Erschöpfung ist im Kern nichts anderes als das Zeitalter einer zunehmenden Weltlosigkeit."
Was nun aber gegen die Erschöpfung hilft und wie sich die Gesellschaft ändern sollte, verrät er nicht.
schreibt Wolfgang Martynkewicz und demonstriert die Überforderung der Menschen um die Jahrhundertwende anhand zahlreicher Prominenter: Rainer Maria Rilke litt an Erschöpfung genauso wie Franz Kafka oder auch Otto von Bismarck. Und nicht nur sie.
"Der Nervenarzt Paul Julius Möbius beobachtete schon 1894, dass mehr und mehr "normale", auf den ersten Blick völlig gesunde Menschen seine Praxis aufsuchten: Kellner, Dienstboten, Pferdebahnschaffner. Sie fühlten sich überfordert und seien oft zu kontinuierlicher Tätigkeit nicht mehr in der Lage, weil ihre Lebensführung in Unordnung geraten sei …"
Woran lag das? Das Leben war zu schnell für die Menschen geworden. Was wir heute als Beschleunigung erleben, immer neue Technologien, immer größere Anforderungen, immer mehr Hektik, war offenbar auch für die Menschen um 1900 ein Stressfaktor: Die Eisenbahn sorgte für schnelle Verbindungen, die Zeitungen wurden mehrmals täglich aktualisiert, die Maschinen liefen immer schneller und, wie der amerikanische Neurologe George Miller Beard damals feststellte, die modernen Uhren, die neue Möglichkeit der exakten Zeitmessung, taten ihr Übriges.
"Die Perfektionierung der Uhren und die Erfindung der Taschenuhren hat etwas mit der modernen Nervosität zu tun, weil sie uns zwingt, pünktlich zu sein … Die Pünktlichkeit raubt uns mehr Nervenkraft als Saumseligkeit. Wir stehen unter ständigem Druck – meistens unbewusst – oft sowohl im Schlaf, wie im Wachen, zu einem bestimmten Zeitpunkt irgendwo hin zu kommen oder irgendetwas tun zu müssen."
Die nervöse Erschöpfung wurde zunächst als die Krankheit Neurasthenie diagnostiziert, von einem nervösen Zeitalter war die Rede, von der Überkomplexität des modernen Lebens und den Vergewaltigungen der Großstadt.
Erstaunlich die vielen Parallelen zum heutigen Stressempfinden, selbst die Kinder und Jugendlichen waren Ende des 19. Jahrhunderts schon ähnlich überfordert wie heute. Wolfgang Martynkewicz bezieht sich hier auf den Mediziner Wilhelm Erb und seine Veröffentlichung aus dem Jahr 1893 "Über die wachsende Nervosität unserer Zeit":
"Durch die gesteigerten Anforderungen und eine Ausweitung des Lernstoffes sei der Druck in den Schulen in bisher unbekannter Weise gestiegen, viele Schüler, aber auch viele Lehrer fühlten sich übermäßig belastet und – wie man damals sagte – ‘überbürdet‘. Auf breiter Front wurde die sogenannte Überbürdungsfrage diskutiert."
Vier Persönlichkeiten der Zeitgeschichte nimmt Wolfgang Martynkewicz näher unter die Lupe, um an ihnen die, wie er es nennt, "Krise der Willenskultur um 1900" zu beschreiben: den Reichskanzler Otto von Bismarck, den Philosophen Friedrich Nietzsche, den Soziologen Max Weber und die Wagner-Witwe und Unternehmerin Cosima Wagner. Sie alle hatten Erschöpfungszustände und psychische Probleme.
Bismarck war zu fett, ein müder Koloss, der unter Weinkrämpfen litt, Cosima Wagner übererregt und unruhig, Nietzsche, je nach Sichtweise, überreizt oder geisteskrank, und Max Weber depressiv und stets am Rande eines Nervenzusammenbruchs. Alle haben zahlreiche Therapien ausprobiert, die ihnen helfen sollten: Besonders der bayrische Arzt Ernst Schweninger hatte es den prominenten Patienten angetan. Er arbeitete mit Naturheilverfahren, verordnete strenge Diäten und viel Bewegung an der frischen Luft.
Für eine ausgewählte Klientel wurde Schweninger Ende des 19. Jahrhunderts zum Modearzt und Seelenführer
Auch andere Ärzte und Wissenschaftler entwickelten zu der Zeit neue Konzepte gegen die Erschöpfung. Sigmund Freud experimentierte mit Kokain und war ganz begeistert, wie viel Energie das verleiht. Max Bircher-Benner, der Erfinder des Bircher-Müslis, propagierte Rohkost-Ernährung, strenge Lebensregeln und viel Sonnenlicht. In seinem Sanatorium "Lebendige Kraft" behandelte er Patienten wie Thomas Mann oder Herrmann Hesse.
Andere suchten ihr Heil in fernöstlicher Spiritualität oder in streng vegetarisch und naturverbunden lebenden Gemeinschaften wie der Künstlerkolonie auf dem Monte Verità im Tessin.
Das alles sind interessante Geschichten, die Wolfgang Martynkewicz da recherchiert hat. Sie erzählen viel über den damaligen Zeitgeist. Aber dieses Werk mit seinen 350 Seiten plus 70 Seiten Anhang vermittelt auch den Eindruck, der Autor habe alles, was ihm bei seinen aufwändigen Recherchen begegnet ist, irgendwie unterbringen müssen. Da gibt es noch diese Seitenstraße und jene, manche davon enden in einer Sackgasse. Dabei ist das Ganze geschrieben wie eine wissenschaftliche Abhandlung.
Wolfgang Martynkewicz, der mit seinem vorherigen Buch "Salon Deutschland. Kunst und Macht 1900-1945" recht erfolgreich war, legt mit "Das Zeitalter der Erschöpfung. Die Überforderung des Menschen durch die Moderne" eine umfassende, in ihrer Materialfülle ziemlich erschöpfende, zeitgeschichtliche Bestandsaufnahme vor. Eine psychologische und politische Analyse mit entsprechenden Schlussfolgerungen, wie man sie bei diesem Titel erwarten würde, ist das nicht. Am Ende bedient er sich bei Hannah Arendt und ihrem Begriff der Weltlosigkeit. Sein Fazit: Gegen Erschöpfung helfe keine Medizin und keine Therapie, denn:
"Das Zeitalter der Erschöpfung ist im Kern nichts anderes als das Zeitalter einer zunehmenden Weltlosigkeit."
Was nun aber gegen die Erschöpfung hilft und wie sich die Gesellschaft ändern sollte, verrät er nicht.
Wolfgang Martynkewicz: Das Zeitalter der Erschöpfung. Die Überforderung des Menschen durch die Moderne
Aufbau Verlag, Berlin 2013
400 Seiten, 26,99 Euro
Aufbau Verlag, Berlin 2013
400 Seiten, 26,99 Euro