Frühförderung in der Kita

"Erzieher sind wesentlich besser qualifiziert als Lehrer"

Spielplatz in einer Kita
Erzieher leisten mehr als nur Spielen und Basteln - hier in der 24-Stunden-Kita in Schwerin. © Sabine Demmer/Deutschlandradio
Hilde von Balluseck im Gespräch mit Dieter Kassel |
Die Bildungsarbeit von Erzieherinnen und Erzieher sei zu vergleichen mit der von Grundschullehrern, sagt die Erziehungswissenschaftlerin Hilde von Balluseck. Deshalb sei eine Aufwertung des Erzieherberufs dringend notwendig – auch finanziell.
Vor dem Hintergrund des andauernden Erzieherstreiks sagte die Erziehungswissenschaftlerin Hilde von Balluseck im Deutschlandradio Kultur:
"Die Bildungsarbeit, die Erzieherinnen und Erzieher leisten, ist zu vergleichen mit dem, was Grundschullehrerinnen leisten. Aber Grundschullehrerinnen werden von vornherein anders bezahlt, weil sie eben zum Schulsystem gehören – und darin liegt der Wurm: dass die Kinder- und Jugendhilfe eben eine andere Gehaltsstruktur hat."
Hinter der schlechten Bezahlung von Erziehern in Kindertagesstätten (Kita) stecke eine "beschränkte Auffassung von Schule und Kita", und beides führe beispielsweise auch dazu, dass kaum Männer sich für diesen Beruf interessierten. Wissenschaftlich erwiesen sei, dass Kinder in den ersten Lebensjahren am meisten lernten – "dagegen ist das, was sie dann später lernen oder was wir als Erwachsene lernen, relativ wenig, im Vergleich zu dem, was ein kleines Kind lernt und wie beweglich das Gehirn ist und was man da alles erreichen kann, indem man Kinder fördert", betonte von Balluseck.
Balluseck, die an der Alice-Salomon-Hochschule den deutschlandweit ersten Studiengang für Erzieherinnen und Erzieher etabliert hat, betonte: Eine bessere Bezahlung allein werde langfristig die Probleme nicht lösen. Wichtig sei auch eine stärkere Akademisierung des Bereichs der frühkindlichen Erziehung. Die Erziehungswissenschaftlerin verspricht sich davon eine deutliche Aufwertung des Berufs.

Das Interview im Wortlaut:
Dieter Kassel: Die "Kitastrophe – wer kümmert sich ums Kind?" Oder auch "Die Eltern sind die Dummen". So lauten einige Überschriften deutscher Zeitungen und Magazine zum Kita-Streik. Und gerade dieses letzte, "Die Eltern sind die Dummen", das führt vielleicht in die völlig falsche Richtung, denn eigentlich sind es ja die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der öffentlichen Kitas, die finden, sie seien die Dummen. Und deshalb fordern sie eine höhere tarifliche Eingruppierung, die ihnen unter anderem etwa zehn Prozent mehr Gehalt bringen würde.
Wir wollen dazu die Meinung von Hilde von Balluseck hören. Sie war bis 2007 Professorin an der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin und hat dort den ersten Studiengang für Erzieherinnen und Erzieher in Deutschland konzipiert. Und heute ist sie Chefredakteurin des Portals erzieherinnen.de im Internet und arbeitet außerdem gerade an der Neuauflage des von ihr herausgegebenen Buches "Die Professionalisierung der Frühpädagogik". Schönen guten Morgen, Frau von Balluseck!
Hilde von Balluseck: Guten Morgen!
Kassel: Verdienen die Erzieherinnen und Erzieher in Deutschland zu wenig Geld?
von Balluseck: Ja. Was soll ich dazu sonst noch sagen? Allerdings. Sie verdienen deswegen zu wenig Geld, weil ihre Arbeit, der Umfang ihrer Arbeit und die Qualifikation ihrer Arbeit überhaupt nicht entsprechend in diesem Gehalt aufgehoben ist.
Und wenn ich das gleich mal dazufügen darf: Die Bildungsarbeit, die Erzieherinnen und Erzieher leisten, ist zu vergleichen mit dem, was Grundschullehrerinnen leisten. Aber Grundschullehrerinnen werden von vornherein anders bezahlt, weil sie eben zum Schulsystem gehören. Und da liegt der Wurm, dass die Jugendhilfe, die Kinder- und Jugendhilfe eben eine andere Gehaltsstruktur hat.
Kassel: Ich höre von vielen Menschen, ob sie nun Eltern sind oder nicht, in diesem Zusammenhang doch immer wieder den Satz, na ja, aber eine Lehrerin, das ist doch noch mal was anderes ...
"Kita leistet eine ganzheitliche Erziehung und Bildung"
von Balluseck: Ja, das ist eine – Entschuldigung – sehr beschränkte Auffassung von Schule und Kita. Kita leistet eine ganzheitliche Erziehung und Bildung und arbeitet auch sehr viel mit den Eltern zusammen.
Die Schule ist stärker auf dem Leistungssektor, und da werden dann viele Kinder auch im Laufe der Schulzeit ausgesondert, schaffen den Übergang zum Gymnasium oder zur Realschule nicht und so weiter.
Das alles ist in der Kita nicht, sondern in der Kita ist Integration ganz groß angesagt, und zwar Integration von allen. Von den Armen und von den Flüchtlingskindern und auch von denen, die mit Behinderungen auf die Welt kommen.
Kassel: Was natürlich auch bedeutet, die Aufgaben und Herausforderungen von Frauen und Männern, die in Kitas arbeiten, haben sich ziemlich verändert in den letzten Jahren und Jahrzehnten.
von Balluseck: So ist es. Weil die Ansprüche gestiegen sind an die außerhäusliche Kinderbetreuung. Das war früher eben eine Sache einmal für die Armen, und zum anderen haben eben diejenigen, die Geld hatten, die hatten dann eben ihre Kindermädchen und so weiter und so fort. Das alles ist natürlich jetzt vollkommen anders, weil das Berufsleben erwartet einfach, dass die Eltern ihre Kinder gut unterbringen können, beziehungsweise die Eltern wollen dann eben, dass die Kinder gut untergebracht sind.
Und gut Unterbringen bedeutet auch, dass man die wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Frühpädagogik nutzt. Die sehen ja so aus, dass die Kinder in den ersten Lebensjahren am meisten lernen. Also dagegen ist das, was sie dann später lernen oder was wir eben als Erwachsene lernen können, relativ wenig im Vergleich zu dem, was ein kleines Kind alles lernt und wie beweglich da das Gehirn ist und was man da alles eben erreichen kann, indem man Kinder fördert.
Das ist eine Erkenntnis, die ist eigentlich schon uralt, aber jetzt weiß es eben fast jeder. Und von daher ist eben diese Bildungsarbeit in der Kita so unheimlich wichtig. Und das ist auch nicht getan mit Spielen und Basteln, obwohl das auch wichtige Dinge sind.
Erziehungswissenschaftlerin Hilde von Balluseck
Erziehungswissenschaftlerin Hilde von Balluseck© picture alliance/dpa/Klaus Franke
Kassel: Sie nehmen mir die Worte aus dem Mund. Ich wollte nämlich gerade genau sagen, diese wissenschaftlichen Erkenntnisse, die Sie beschrieben haben, die sind ja nicht brandneu. Aber woran liegt es denn trotzdem, dass in vielen Köpfen noch nicht angekommen ist, dass eben diese Menschen, über die wir hier reden, mehr zu leisten haben, als nur dafür zu sorgen, dass die Kinder sechs, sieben Stunden am Tag beschäftigt sind und nicht weglaufen?
"In vielen Bereichen sind die Erzieherinnen und Erzieher wesentlich besser qualifiziert als die Lehrer"
von Balluseck: Na ja, ein Grund dafür ist natürlich, dass es ein Frauenberuf ist. Also Frauen werden ja häufig auf die in Anführungsstrichen "typisch weiblichen" Eigenschaften reduziert: nett sein, lieb sein, sorgen. Ja, das ist auch wichtig. Aber erstens mal können das Männer auch, und zweitens können Frauen noch viel mehr. Und das lernen sie ja auch.
Ich meine, die Ausbildungsinstanzen, die leisten ja sehr viel, indem sie also Kompetenzen vermitteln, die die Erzieherinnen dann hinterher anwenden können. Und in vielen Bereichen, sage ich jetzt mal ganz mutig, sind die Erzieherinnen und Erzieher wesentlich besser qualifiziert als die Lehrer, und zwar für Verhandlungen mit den Eltern, für die Erziehungspartnerschaft mit den Eltern, für die Förderung von Kindern, die ein bisschen hintendran bleiben.
Schule hat ein ganz anders Prinzip, und ich sage immer, die Kita soll nicht auf die Schule vorbereiten, sondern die Schule sollte sich an der Kita orientieren in der ganzheitlichen Erziehung. Die Schule muss sich ändern, nicht die Kita.
Kassel: Aber wenn Sie über Männer und Frauen reden: Ist das nicht eine Art Teufelskreis, wenn Sie jetzt sagen, einer der Gründe für die mangelnde Anerkennung und sicherlich auch Bezahlung ist der hohe Frauenanteil. Der ist sehr hoch, ich glaube, Männer machen immer noch nur ungefähr drei, vier Prozent der Erzieher aus. Aber umgekehrt ist es doch sicherlich so, dass auch die mangelnde Anerkennung und die schlechte Bezahlung ein Grund ist, warum Männer so ein geringes Interesse an diesem Beruf haben.
von Balluseck: In der Tat. Was soll ich sagen? In der Tat.
Kassel: Sagen Sie mir, wie wir es ändern!
von Balluseck: Wenn Sie den Beruf aufwerten, dann kommen Männer auch über diese Hürde, dass das kein typisch männliches Verhalten ist, sich mit kleinen Kindern zu beschäftigen. Weil das ist ja auch eine Sache, dass wir ein Männerbild hatten, wo das gar nicht dazu passte.
Kassel: Nun hätte man ja denken können, dass das neue Gesetz, das Menschen einen Kitaplatz garantiert für Kinder in einem gewissen Alter, da was Positives bewirkt, auch bei der Anerkennung dieses Berufs. Hat es das? Hat es da überhaupt etwas bewirkt, vielleicht sogar eher was Negatives?
Frühkindliche Bildungsarbeit hat hohen Stellenwert, aber zu wenig Geld
von Balluseck: Nein. Da denke ich schon, dass das eine ganze Menge bewirkt hat. Also da muss ich sagen, muss ich Frau von der Leyen mal loben, dass sie das auf den Weg gebracht hat. Weil der Punkt war ja der, dass die außerhäusliche Erziehung und Bildung für kleine Kinder überhaupt nicht hoch angesehen war, sondern als Notnagel galt. Das ist heute anders.
Es ist heute so, dass die Bildungsarbeit in den ersten Lebensjahren durchaus einen hohen Stellenwert hat, auch bei den Kommunen, die aber leider nicht genug Geld haben, um das zu finanzieren.
Kita-Mitarbeiter in München stellen sich auf Plakaten dar als "Familienfriedensretterin", "Traumabewältiger", "Gewaltopferschützerin" u.a.
Kita-Mitarbeiter fordern mehr Geld - wie hier in München.© imago / Michael Westermann
Kassel: Endlich das Thema Geld. Ist es denn wirklich nur das? Ich rede jetzt nicht nur über höhere Gehälter, sondern generell mehr Geld für frühkindliche Bildungseinrichtungen. Kann man mit Geld allein die Probleme lösen?
von Balluseck: Nein, natürlich nicht. Aber Geld ist ein ganz wesentlicher Mechanismus, damit die Probleme in Angriff genommen werden können. Ein weiterer Aspekt ist ja diese Akademisierung. Die hat ja schon sehr dazu verholfen, dass diese Arbeit stärker anerkannt wird und dass die Bedeutung dieser Arbeit im Bewusstsein der Ausbildungsinstanzen zumindest größer geworden ist, also dass sie mehr anerkannt wird.
Und ich denke auch, wenn zum Beispiel jetzt immer mehr junge Männer und Frauen an Hochschulen, um Kleinkindpädagogik, also Kindheitspädagogik zu studieren, ist das auch ein Punkt, wodurch also die Arbeit besser anerkannt wird. Da gibt es natürlich noch viele andere, aber zum Beispiel, dass die Forschung in Deutschland jetzt also enorm zugenommen hat für diesen Bereich. Das sind alles Kriterien, wo man sagen kann, zumindest in der Mittelschicht ist die Anerkennung gewachsen, und ich denke aber auch, bei den Schichten, die also ökonomisch nicht so gut gestellt sind, die erleben schon auch sehr deutlich, dass Erzieherinnen und Erzieher für ihre Kinder sehr, sehr viel leisten.
Kassel: Dann kann man nur hoffen, dass es in diese Richtung auch weitergeht, vielleicht auch durch diesen Streit. Hilde von Balluseck, ich danke Ihnen sehr für dieses Gespräch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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