Schwieriger Start ins Leben
Kira wog 623 Gramm, als sie zur Welt kam, ihre Schwester Stella 1075 Gramm. Werden sie Schäden davontragen? Das fragen sich die Eltern der Zwillinge. Mehrere Monate an ihrer Seite gewähren Einblicke in den Alltag auf einer Station für Frühgeborene.
"Ein winziges Baby liegt in einem Kasten aus Plexiglas. Der Körper scheint völlig unbewegt. Schläuche führen in die Nase, auf den handtellergroßen Brustkorb sind Sonden geklebt. Sie registrieren: kein Atem, die Herzfrequenz sinkt - die Überwachungsmonitore schlagen Alarm."
Alexandra steht mit besorgtem Blick neben dem Brutkasten, streichelt über das winzige Köpfchen. Endlich atmet ihre Tochter Stella wieder. Die Monitore verstummen. Kinderkrankenschwester Ute Krag holt dennoch einen Schlauch hervor, steckt ihn Stella in den Rachen.
"Sie hat ein bisschen Schleim in der Lunge, den wir rausholen müssen, weil sie das alleine nicht schafft, das hoch zu husten. Dann wird sie abgesaugt. Das ist ein bisschen unangenehm für die Kinder, die husten ein bisschen. Aber das hilft, dann kriegt man hinterher wieder besser Luft."
Die ständige Frage: Werden sie es schaffen?
Die 40-jährige, dunkelblonde Alexandra hat Stella und ihre Zwillingsschwester Kira zu früh geboren. Viel zu früh, in der 26. Schwangerschaftswoche. Bei beiden setzt häufig die Atmung aus. Das ist nicht ungewöhnlich, denn bei so kleinen Wesen sind Lunge und Gehirn noch nicht für ein Leben außerhalb des Mutterbauches ausgelegt. Aber jedes Mal ist es ein Schock für Alexandra und ihren Mann. Es war die erste Schwangerschaft von Alexandra, die Eltern haben sich riesig auf die Zwillinge gefreut.
Dann kam die unerwartete Geburt vor zweieinhalb Wochen und seither herrscht Ausnahmezustand. Kira wog gerade einmal 623 Gramm, als sie zur Welt kam, ihre Schwester Stella 1075 Gramm. Werden es die beiden schaffen? Werden sie Schäden davontragen? Und wenn ja, welche? Die Fragen quälen die Eltern Tag und Nacht. Stella, die größere der beiden Frühchen, hatte vor allem in den ersten Tagen nach der Geburt schwere Atemprobleme, erzählt Alexandra.
"Na, sie hatte so einen Ductus, das ist so ein zweites Atemsystem, mit dem die Kinder im Mutterleib atmen und das dann eigentlich bei der Geburt zugeht. Und bei der Kleinen ist es auch zugegangen und bei der Großen halt nicht. Und deswegen hatte sie so Sättigungsschwankungen. Also das sie dann auch richtig blau angelaufen ist und das war natürlich auch sehr erschreckend, dass sie dann so grau da lag und gar nicht mehr geatmet hat."
Fast hätten die Ärzte Stella operieren müssen – um den Ductus zu schließen, der unterhalb des Herzens liegt. Im Mutterleib schleust der Ductus das sauerstoffgesättigte Blut an der noch funktionslosen Lunge vorbei. Doch dann die Entwarnung: Kurz vor der OP hat sich der Ductus von selbst verschlossen. Stella mit ihren zerbrechlichen Beinen und Ärmchen, die so klein sind wie der Daumen eines Erwachsenen, blieb eine Operation erspart. Doch unregelmäßig ist ihre Atmung noch immer.
Es ist der 22. Januar, ein kalter Wintertag. Mittlerweile sind die beiden Zwillinge 18 Tage alt, haben jeweils über 100 Gramm zugenommen. Gemeinsam liegen Kira und Stella in einem Intensivzimmer an der Berliner Charité – in beheizten und transparenten Brutkästen. Umgeben von Monitoren, Beatmungsgeräten, Schläuchen. Alexandra, ihre Mutter, ist wann immer möglich bei ihnen, obwohl sie die intensivmedizinische Versorgung ihrer Kinder belastet.
"Es ist schrecklich, aber ich finde, man darf es nicht so an sich rankommen lassen. Weil sonst könnten sie ja nicht hier sein, wenn sie die Schläuche nicht hätten. Also wenn ich jetzt da völlig verzweifelt bin, dass sie überall Schläuche haben, dann könnte man sie ja jetzt gar nicht hier am Leben halten. Das ist jetzt ja notwendig, dass es so ist. Und nach und nach gehen die Schläuche ja hoffentlich weg."
Die Zwillinge werden rund um die Uhr von Kinderkrankenschwestern betreut. Sie wickeln, füttern, waschen die Frühchen, messen ihre Temperatur, geben ihnen Medikamente. Schwester Ute macht den Beruf seit vielen Jahren. Die blonde Frau mit blauem Kittel geht angstfrei mit den Kleinen um.
Sie öffnet einen Brutkasten, nimmt Kira gekonnt heraus, wickelt sie routiniert. Sie ist Stella und Kira derzeit oft näher, als deren Eltern es sein können.
"Also man baut schon eine Bindung auf. Aber ich sage mal, das geht jetzt nicht so sehr ins Private hinein. Also ich glaube, das kann man sich auch gar nicht erlauben. Die Kinder sind einfach oft sehr schwer krank, es überleben ja auch nicht alle Kinder. Also wenn man da jetzt zu jedem Kind so eine ganz persönliche Bindung aufbauen würde, ich glaube, dann könnte man diesen Beruf nicht allzu lange ausüben. Also man hat schon so einen professionellen Abstand, sag ich mal."
Der Job des Vaters: zweieinhalb Stunden das Baby auf Brusthöhe halten
Alexandra und ihr Mann Sascha werden deshalb eng in die Pflege einbezogen. Abstand ist da ganz und gar nicht gewollt.
"Mein einziger Job ist, mich hier hinzulegen, auf mein Kind zu warten, und dann für circa zwei, zweieinhalb Stunden das Kind auf meinem Oberkörper zu behalten."
Es ist Tag 29 nach der Geburt. Ein kalter, nasser Abend Anfang Februar. Der dunkelhaarige, 40-jährige Vater Sascha ist auf die Station gekommen.
Er knöpft sein Hemd auf, setzt sich in einen Liegestuhl, der neben dem Brutkasten steht, lehnt sich nach hinten.
Seine Frau Alexandra nimmt Kira vorsichtig aus dem Brutkasten. Sie legt das Frühchen auf die behaarte Brust des Vaters – und die Kabel von Magensonde und Sensoren daneben.
"Das Kind wird dann mit Pucktüchern und mit Handtüchern abgedeckt, damit das schön warm ist und nicht die Temperatur verliert. Denn auf Grund des geringen Gewichts verlieren die sehr schnell die Wärme."
1004 Gramm wiegt Stelle mittlerweile, ist 37 Zentimeter groß. Ihre Schwester Stella misst 39 Zentimeter, bringt 1325 Gramm auf die Waage. Extrem klein sind die beiden immer noch. Die Augenlieder sind zart, die Ärmchen dünn wie Finger, die Windeln riesig. Ganz weich liegt die winzige Kira auf der Brust ihres Papas.
"Das ist auch ein schönes Gefühl, das Kind jetzt bei sich zu haben. Man fühlt, wie so ein kleiner Mensch da auf der Brust liegt und fühlt sich unheimlich wohl."
Doch die kleine Kira windet sich auf der Brust ihre Vaters – und weint.
"Die kleinen Babys, die brauchen zu Anfang immer ein paar Minuten, bis sie sich an die neue Situation gewöhnt haben. Deshalb immer ein kurzer Protest. Und das hört dann nach ein paar Minuten auf, wenn sie denn ihre Eltern, in diesem Fall den Papa spüren, dann kommen sie langsam zur Ruhe."
Schwester Manuela betreut Kira, Stella und ihre Eltern heute Abend. Das Känguruing, bei dem die Frühchen auf der Brust des Vaters oder dem Bauch der Mutter liegen, ist wichtig. Aus der Forschung weiß man: Die Atmung der Kinder ist dann stabiler, der Herzschlag gleichmäßiger - die Babys beruhigen sich. Auch Kira ist auf der Brust ihres Vaters mittlerweile ganz entspannt.
"Frühgeborene sind ja auch irgendwo ganz normale Babys, die wollen Zuwendung haben, die wollen ihre Eltern spüren. Die brauchen Wärme, Geborgenheit und dann entwickeln die sich auch viel, viel besser. Eigentlich brauchen sie sehr viel Ruhe und unnötiger Stress würde diese Entwicklung auch behindern. Also daher auch der abgedunkelte Inkubator, einfach damit sie sich in Ruhe entwickeln können. Weil im Bauch kommt ja auch kein Licht rein."
Geburt passierte per Not-Kaiserschnitt
Kira öffnet die kleinen Augen, blinzelt, guckt ins Zimmer. Ihre Schwester Stella schläft derweil im mit Tüchern abgedunkelten Inkubator, dem Brustkasten. Eigentlich sollten beide noch geschützt im Bauch ihrer Mutter sein. Mittlerweile wäre die 30 Schwangerschaftswoche – also rund zweieinhalb Monate vor dem errechneten Geburtstermin. Doch es kam alles anders, erinnert sich ihre Mutter, die neben Stellas Brutkasten sitzt und die Kleine beobachtet.
"Das hat sich so angekündigt, dass ich am 4. Januar auf Toilette gegangen bin und da ist die Fruchtblase geplatzt. Das hat sich sonst gar nicht angekündigt. Also ich hatte weder irgendwelche Beschwerden, noch tat mir irgendwas weh und es ist dann ganz plötzlich so passiert."
Es ist ein Uhr in der Nacht. Alexandra weckt ihren Mann und der fährt sie sofort ins Krankenhaus. Doch die Klinik verweist die beiden weiter, weil sie auf so extrem junge Frühchen nicht spezialisiert ist. Alexandra und Sascha kommen in die Charité. Alexandra wird aufgenommen, denkt noch, alles sei nicht so schlimm. Sie hat ihre Angst verdrängt, sagt sie rückblickend.
"Es ist ja nur die Fruchtblase von der Stella geplatzt. Die Fruchtblase von der Kira war ja intakt, die war ja nicht betroffen davon. Und ich habe dann gedacht, na gut, dann bleibst du halt hier liegen, und die geben dir ein Antibiotikum und dann wird das schon irgendwie so. Und das war dann auch so, dass ich der Schwester Bescheid gesagt habe, dass ich glaube, dass ich Wehen habe und die hat dann gesagt, das könnte alles gar nicht sein. Und dann habe ich darauf bestanden, dass sie die Ärztin ruft und dann war das natürlich so. Und dann war die Not-OP, und da haben die mich dann gepackt, da waren gleich 15 Leute um mich rum, haben mich vorbereitet und dann haben sie innerhalb von ein paar Minuten die Kinder da rausgeholt."
Kira und Stella kommen zur Welt, per Not-Kaiserschnitt und mehr als drei Monate zu früh. Eine Infektion war nicht der Grund. Doch Stella war zu groß für ihr Alter – und hat die Fruchtblase wohl gesprengt, vermuten die Ärzte. Die kleinere Kira ist gesundheitlich stabiler als ihre schwerere Schwester Stella.
Dabei sind die Kinder auch heute noch – rund einen Monat nach der Geburt - von Schläuchen und Monitoren umgeben. Bekommen künstlich Luft zugeführt, werden über eine Sonde ernährt. Sascha liegt mit Kira auf dem Bauch im Liegestuhl, erinnert sich an die turbulenten ersten Lebenstage.
"Mal gab es gute Tage, aber es gab auch viele Tage, wo die Maschinen sehr häufig angeschlagen haben, weil die Atmung nicht richtig funktioniert hat, weil das Herz-Kreislauf-System noch nicht richtig funktioniert hat. Und jetzt muss ich sagen, nach dem ersten Monat, es ist, ich will nicht sagen entspannt, aber es ist lockerer geworden, die Atmung funktioniert besser, die Maschinen piepen nicht mehr so häufig, und man freut sich noch viel mehr, hier her zu kommen."
Auch einen Monat nach der Geburt sind die Lungen Stellas und Kiras noch nicht ausgebildet für das Leben. Die beiden sind zu schwach, um selbst zu trinken, wiegen zu wenig, um ihre Körpertemperatur selbst zu halten. Probleme bei der Verdauung, sogar Hirnblutungen können die Frühchen erleiden. Ihre Nieren sind unreif, das Immunsystem noch nicht vollständig entwickelt und die Kinder daher anfällig für Infektionen. Augen, Lunge, Darm – alles ist unfertig und nicht vorbereitet auf ein Leben außerhalb des Mutterleibes. In der Neonatologie der Charité bekommen sie daher alle medizinische Hilfe, die sie brauchen, um zu überleben, sagt deren Direktor Professor Christoph Bührer. Er und die anderen spezialisierten Ärzte sehen täglich mehrmals nach den Frühchen und versuchen, eine Entwicklung wie im Mutterbauch zu simulieren.
"Statt in der warmen Badewanne, sind sie bei uns in einem kleinen Gewächshaus. Sie müssen schon ein bisschen mehr arbeiten als im Mutterleib. Sie müssen zum Beispiel selber verdauen und sie atmen selber. Wir helfen ihnen dabei, zum Beispiel müssen sie die Milch nicht alle selber trinken, sondern wir können die Milch mit einer Sonde in den Magen tun, das Schlucken macht Arbeit. Aber das Verdauen machen die Kindern ganz alleine, dabei können wir ihnen auch nicht helfen."
In manchen Fällen kommt es zum Darmdurchbruch
Probleme mit der Verdauung können die Folge sein: Ein Aufstau im Darm, sogar ein Darmdurchbruch sind möglich. Einige Frühchen müssen daher in den ersten Lebenswochen eine Operation über sich ergehen lassen. Kira und Stella ist das bisher erspart geblieben.
Es ist Mitte Februar, Tag 38 nach der Geburt. Noch beherrscht der Winter Berlin, die Tage allerdings sind schon länger und heller. Um 12 Uhr mittags steht Alexandra im Eingangsbereich der Neonatologie am Virchow-Klinikum der Charité in Berlin. In der Hand hält sie eine große blaue Kunststoffbox.
"Also ich habe eine Kühltasche dabei. Und da sind meine Milchflaschen drin, also was ich abgepumpt habe. Und die gibt man unten in der Milchküche ab, bis 14 Uhr. Und die wird ja dann in der Milchküche zubereitet, aufbereitet, die wird pasteurisiert und da werden noch Vitamine und Mineralstoffe eingearbeitet, so."
Mit dem Fahrstuhl geht es hinab in den Versorgungstrakt. Unten angekommen, geht Alexandra einen langen Gang entlang, vorbei an grauen Betonwänden hin zu einer großen Glastür.
In der neonbeleuchteten Milchküche angekommen, stellt Alexandra die blaue Kühlbox ab, öffnet sie, holt einige kleine Milchfläschchen heraus: ihre abgepumpte Muttermilch. Gabi Schindler nimmt die Flaschen entgegen, schraubt sie auf.
"Ja, jetzt mit dieser Milch, das wird jetzt zusammengegossen und dann kommen hier diese Zusätze rein. Also Protein und AFEMS. Das AFEMS enthält Eiweiß,
Mineralstoffe, Spurenelemente und Vitamine."
Mineralstoffe, Spurenelemente und Vitamine."
Gabi Schindler öffnet eine Dose, löffelt etwas weißes Pulver heraus, schüttet es in die Milch. Für Kira und Stella, die noch zu schwach sind, um an der Brust ihrer Mutter zu trinken, mixt sie eine hochenergetische, proteinreiche Nahrung zusammen.
"Ja also jetzt Protein, damit halt eben das Kind mehr Muskeln aufbaut und es sind ja Frühchen und die müssen ja ganz besonders viel wachsen, um halt eben das Wachstum zu fördern."
Vier Stockwerke weiter oben liegt Stella unterdessen im Arm von Schwester Sabine. Die schwarzhaarige, resolute Kinderkrankenschwester hält ein Fläschchen in der Hand, streicht mit dem Nuckel über Stellas kleine Lippen.
"Ich stimuliere den Mund mit dem Sauger auch und biete damit auch ein bisschen Muttermilch an, dass das Kind gegebenenfalls auch ein bisschen schlucken kann. Natürlich sehr vorsichtig und sehr so, wie das Kind das möchte, ohne Druck, ohne Zwang, sie lutscht jetzt daran herum und findet das auch ganz angenehm."
Stella darf ins geheizte Übergangsbettchen
Stella guckt Schwester Sabine mit großen Augen an. Als der Sauger vorsichtig ihre Lippen streift, öffnet sie ein wenig den Mund, streckt die Zunge raus. Einen kleinen Augenblick lang sieht es so aus, als wolle sie trinken – doch ganz so weit ist sie noch nicht.
"Sie schluckt, sagen wir es so. Trinken ist es noch nicht, es ist die Vorstufe vom Trinken. Aber wir wollen sie auch nicht überfordern, es ist ein Angebot an die Kinder. Sie lernen es langsam und wenn also die Nahrung per Sonde in den Magen gelangt, dann ist es ganz gut, dass das Kind auch lernt, ach, es kommt eigentlich über den Mund. Und deswegen bieten wir den Sauger halt an, verlangen aber nicht, dass sie komplett trinken können."
Kira und Stella sind mittlerweile auf eine neue Station verlegt worden. Das Zimmer ist lichtdurchflutet, Kira liegt noch im Brutkasten, ihre Schwester Stella bereits im geheizten Übergangsbettchen.
Statt drei Monitoren ist hier nur noch ein Monitor über jedem Bettchen angebracht. Am Rollständer mit der Atemhilfe hängt eine bunte Spieluhr, über Stellas Brutkasten baumelt ein gelber Stoffstern. Die ganz intensive Betreuung der ersten Station brauchen die beiden Schwestern nicht mehr.
"Also seit Samstag ist das bei uns hier ruhig. Also wir sind ja am Samstag um vier Uhr morgens hierher verlegt worden und seitdem bimmeln die Kinder also auch kaum noch. Also der Monitor alarmiert kaum noch. Da muss man sich auch erst mal dran gewöhnen, das ist natürlich angenehm."
Nach fünfeinhalb Wochen sind beide Kinder kräftig gewachsen: Kira wiegt mittlerweile 1200 Gramm, hat ihr anfängliches Gewicht also fast verdoppelt. Stella bringt 1523 Gramm auf die Waage – und ist damit schwer genug, um ihre Körpertemperatur selbst zu halten. Beide Frühchen haben noch eine Magensonde, die Atemunterstützung ist allerdings deutlich reduziert. Bei Stella haben sich die häufigen Atemaussetzer gelegt. Die haben ihren Eltern häufig Angst gemacht – und die Ärzte veranlasst, ihre künstliche Beatmung erst ab- und dann doch wieder einzusetzen, erzählt Alexandra rückblickend.
"Einmal sind wir angerufen worden um 23 Uhr, da hatte der Arzt angerufen, weil die Stella wieder intubiert werden musste. Da hatten sie sie ja extubiert und sie hatte also ziemliche Schwierigkeiten, hatte Sättigungseinbrüche gehabt, war dann auch so grau. Und dann haben sie angerufen, dass sie nur am Atmen ist und dass es ihr nicht gut geht und dass sie sie doch lieber wieder beatmen wollen. Das war der einzige Anruf, den ich bis jetzt von hier bekommen habe und ich hoffe auch der letzte. Also ich möchte nicht noch mal angerufen werden, man erschreckt sich natürlich dann."
Mittlerweile hat sich Stellas Atmung stabilisiert. Über einen Schlauch bekommt sie lediglich noch Luft in der Nase gepustet, sagt Professor Christoph Bührer, der an ihrem Bettchen steht.
"Sie ist extubiert. Das ist eine andere Art und Weise, wie ihr die Luft zugeführt wird. Wenn die Kinder richtig beatmet sind, dann gibt es einen Schlauch, der durch die Nase und den Rachenraum bis in die Luftröhre reicht. Und dann übernimmt die Atemmaschine die meiste Arbeit. Und je größer und stabiler die Kinder werden, desto mehr Arbeit übernehmen sie selber. Dann braucht man den Schlauch nicht mehr bis in die Luftröhre zu tun, sondern es reicht, wenn man ihn nur noch in die Nase steckt."
"Hallo meine Süße. Na! Na, meine Kleine hier. Dann gucken wir jetzt erst mal Mäuschen, na, was machst du?"
25. Februar 2015 – mittlerweile ist der 52. Lebenstag von Kira und Stella. Alexandra ist auf die Station gekommen, begrüßt ihre Kinder. Auf der Glastür zu deren Zimmer pappt ein Schild: ‚Pssst, wir wachsen noch' - steht dort. Und gewachsen sind die Zwillinge ordentlich. Kira hat seit der Geburt ein Kilogramm zugenommen, wiegt jetzt 1660 Gramm, ist fast 40 Zentimeter groß. Stella misst schon 42 Zentimeter, hat die 2 Kilomarke geknackt. Die beiden sehen mittlerweile aus wie kleine Babys, pausbäckig, rosa. Mulmig ist ihrer Mutter aber noch immer, wenn sie auf die Station kommt.
"Zum Beispiel jetzt ging es darum, dass der Augenarzt kommt. Aber dann wurde nicht angekündigt, dass er zur Kontrolle kommt, sondern es wurde einfach gesagt: Er kommt. Und ich habe dann gedacht, okay, ist jetzt irgendetwas auffällig, haben die Schwestern irgendetwas festgestellt, sieht es jetzt komisch aus? Und dann stellt sich heraus, der kommt sowieso aber der 6. Lebenswoche. Solche Sachen halt. Also ich habe eigentlich immer Angst, wenn ich herkomme. Also man weiß nie so genau, was einen erwartet."
Premiere! Alexandra kann Stella zum ersten Mal waschen – bisher haben das die Schwestern gemacht. Alexandra lässt Wasser in eine Plastikschale fließen, holt einen Wachlappen – Schwester Konstanze unterstützt sie.
Alexandra: "Hallo Mäuschen! Na, schrubbe ich dich einfach ab? Ist das nicht schön? Das war nicht meine Idee! Windel auch ausziehen?"
Schwester Konstanze: "Den Windelbereich können Sie nachher zum Schluss waschen."
Alexandra (öffnet Windel): "Uiii, pffff, das können wir jetzt ganz ausziehen."
Schwester Konstanze: "Den Windelbereich können Sie nachher zum Schluss waschen."
Alexandra (öffnet Windel): "Uiii, pffff, das können wir jetzt ganz ausziehen."
Zwischen den beiden Schwestern liegt ein Kilo
Die Windel ist voll, das Waschen notwendig. Zuerst kommen Arme und der Kopf dran. Behutsam wischt Alexandra mit dem Tuch über Stellas kleine Wangen.
"Ich wasche jetzt mal gerade noch kurz ihr Gesicht, weil sie da so ein paar Krümelchen hat. Erst mal ungewohnt ist das. Man will ja nichts falsch machen, nichts kaputt mache."
Langsam gewöhnt sich Alexandra an die neue Aufgabe, wirkt mit der Zeit sicherer. Ein paar Minuten später ist Stella gewaschen, die Windel gewechselt, der weiße Strampler mit den gelben Streifen angezogen. Alexandra und ihr Mann lernen zunehmend, die Frühchen selbst zu versorgen. Auch die Ärzte kommen jetzt seltener.
"Hier ist es so, wenn man mit dem Arzt sprechen möchte, dann sage ich der Schwester Bescheid und dann kommt auch immer jemand und man wird schon informiert. Aber die Ärzte kommen jetzt nicht selber aktiv auf mich zu. Für die ist das ja alles Routine und die Kinder sind stabil, stabiler als andere Kinder hier, was ja auch gut ist. Aber für mich ist das ja immer Ausnahmezustand."
Kira und Stella stabilisieren sich zunehmend. Aus den nur handgroßen, mageren Frühchen mit ihren fingerkleinen Ärmchen und den faltigen, spindeldürren Beinen sind richtige Babys geworden. Alexandra sitzt neben Kiras Bettchen.
"Also sie sind jetzt 67. Lebenstag. Und Stella ist 46 Zentimeter lang und wiegt 2950 Gramm. Und Kira ist 43,5 Zentimeter lang und wiegt 1920 Gramm. Wird aber nicht jeden Tag gewogen, im Gegensatz zu Stella, deswegen, sie ist erst morgen wieder dran."
Kira hat sich sichtbar entwickelt. Auf ihrem Kopf wachsen bereits blonde Haare, ihre Haut ist rosa. Statt im beheizten Übergangsbettchen liegt sie jetzt in einem normalen Gitterbett. Die kräftigere Stella hat ein pausbäckiges Gesicht – wird anders als ihre Schwester allerdings noch mit einer Magensonde ernährt, erzählt der Vater.
"Stella ist sicherlich auch schon seit der Geburt der Star gewesen, mit mehr Gewicht. Aber mehr Gewicht bedeutete letztendlich auch ein bisschen mehr Probleme. Die Kira wog ja nur 623 Gramm bei der Geburt, wiegt inzwischen fast 2 Kilo. Und wie man sieht, keine Kabel, keine Sonde mehr, atmet selbstständig, trinkt selbstständig und ist in diesem Fall sogar ein bisschen weiter als die Große."
Stella hat nach wie vor eine Atemhilfe in der Nase. Und: Aktuell hat sie zusätzlich gesundheitliche Probleme.
"Sie lagert im Gewebe Wasser ein, dass sieht man an den Augen, an den Füßen, an den Händen, die etwas aufgequollen wirken. Das bedeutet, dass etwas Sauerstoff aus der Lunge dann auch abgezogen wird und die Atmung nicht voll durchgeführt wird."
Das Wasser wird nach und nach aus dem Gewebe verschwinden, die Atemhilfe dann hoffentlich bald nicht mehr nötig sein. Sascha nimmt Kira auf den Arm, legt sie zu ihrer Schwester Stella ins Bettchen. Tagsüber dürfen die Kinder seit neustem beieinander liegen.
"Was ich faszinierend finde ist, wenn sie zusammen kuscheln – wir bekommen sie ja inzwischen auch zusammen auf den Körper gelegt – dass sie dann Händchen halten. Das sieht wirklich faszinierend aus. Die halten sich direkt an den Händen fest und schlafen dabei."
Noch etwas ist neu: Kira und Stella sind erneut verlegt worden: An einen anderen Standort der Charité, nach Berlin Mitte. Das neue Zimmer ist klein, hat eine verglaste Front, eine Schiebetür. Die Verlegung kam plötzlich, erzählt Sascha.
"Die Erklärung für die Umverlegung war letztendlich, dass ein gefährlicher Keim in der beatmeten Station der Frühchen aufgetaucht ist. Die Kinder, also die Frühchen, aus der beatmeten Station in andere Frühchenstationen im Virchow umverlegt werden mussten und die Kinder, die transportfähig gewesen sind, sind dementsprechend in die andere Klinik auf den anderen Campus gebracht worden."
Schockierender Rückschlag
Für die Eltern war die Verlegung eine zusätzliche Talfahrt in der Achterbahn der Gefühle, die sie seit der Frühgeburt Anfang Januar erlebt haben. Sascha sieht erschöpft aus. Auch Alexandra hat das Erlebnis emotional mitgenommen, erzählt sie.
"Das hat sich so angefühlt, als ob unsere Kinder jetzt einfach aufgegeben werden. So nach dem Motto, wir brauchen den Platz und es gibt andere Kinder, die sind kleiner und hilfsbedürftiger, die können wir nicht verlegen und wir werden jetzt einfach verschifft, so. Also ich fand das sehr schlimm, für mich war das richtig ein Tiefpunkt. Wo man sich gerade mal so ein bisschen gesammelt hat, und so seine Routinen aufgebaut hat und so ein bisschen funktioniert und weiß, wie alles läuft und dann so eine Nachricht, das war für mich ein richtiger Zusammenbruch, also war ganz schlimm."
36 Stunden nach der Verlegung kam die Entwarnung: Der Keim hatte sich als eher harmlos heraus gestellt – Stella und Kira waren da längst in der Charité in Berlin Mitte. Ihre Gesundheit ist stabil: Sie haben sich nicht infiziert, keine Operationen über sich ergehen lassen müssen, keine Darmprobleme gehabt.
Es ist Tag 82 nach der Geburt. Der Frühling kommt langsam nach Berlin, das Licht ist intensiver, an Sträuchern und Bäumen zeigen sich die ersten Blätter und Blüten. Kira und Stelle haben sich prächtig entwickelt: Kira hat ihr Geburtsgewicht fast vervierfacht, wiegt 2,3 Kilogramm, ihre Schwester Stella 3,2 Kilogramm.
"Und da hat sie sich schon verschluckt. Ujujjuj."
Und Stella trinkt mittlerweile aus der Flasche.
"Und Luft holen Stella. Ja, hol mal Luft. Alles gut. Hol Luft Stella! Mit Luftholen hier. Hol mal Luft bitte Stella! Ja, Luft holen, genau, und weiter. Und weiter atmen. Mmmh."
Stella liegt im Arm ihres Vaters Sascha, hat den Nuckel einer Flasche im Mund, versucht zu trinken - und vergisst dabei zu atmen. Schwester Silvia steht daneben, hilft dem Vater mit der Kleinen.
"Die Kinder, die müssen ja viele Sachen auf einmal tun. Die müssen atmen, die müssen saugen, die müssen schlucken. Und die Frühgeborenen, die haben damit einfach noch ihre Probleme mit der Koordination. Und das hat sie uns eben gezeigt. Sie hat gesaugt, gesaugt, gesaugt und dabei eben das Atmen vergessen. Und das lernen eben unsere Eltern damit umzugehen, wenn die Kinder nicht mehr so rosig aussehen, dass man einfach Pause machen muss, die Kinder stimulieren muss. Aber das hat der Papa hier wunderbar im Griff. Jetzt wird man auch wieder rosig, was Stella?"
Schluck für Schluck trinkt Stella ihre Milch aus der Flasche. Selbstständig zu trinken ist noch ganz neu für sie. Ein großer Entwicklungsschritt – und ein riesen Schritt in Richtung Entlassung aus dem Krankenhaus.
"Bei Stella ist seit gestern die Magensonde gezogen worden. Sie trinkt inzwischen normal. Sie verlangt sogar noch nach Nachschlag. Eine normale Portion im Krankenhaus ist 70 Milliliter. Gestern hat sie zum Beispiel noch mal 15 Milliliter mehr verlangt. (Kira schreit). Kira ist schon seit drei Wochen ohne Magensonde und sie trinkt normal und bei ihr ist im Prinzip alles wie bei einem normalgeborenen Baby inzwischen. Im Prinzip wartet sie nur auf Stella, dass beide zusammen nach Hause können."
"Sehr gute Aussichten"
Einen Entlassungstermin haben die Eltern auch schon erhalten. In rund einer Woche soll es so weit sein. Ihre gesundheitliche Prognose ist den Umständen entsprechend gut, sagt Neonatologe Thomas Schmitz, der in seinem grünen Kittel im regen Treiben der Station zwischen Schwesterndesk und Frühchenzimmer steht.
"Also beide haben ein Risiko dafür, sich verzögert zu entwickeln, in der neurologischen Entwicklung, in der schulischen Entwicklung später. Einfach weil sie so früh geboren sind und ein sehr geringes Geburtsgewicht hatten. Aber man weiß auch, dass es Risikofaktoren gibt bei diesen Frühchen, beispielsweise schwere Lungenerkrankungen, schwere Infektionen, Augenerkrankungen, Darmerkrankungen, die damit vergesellschaftet sind, eine schlechte neurologische, schulische Entwicklung später zur Folge zu haben.
Diese Risikofaktoren gibt es bei den beiden nicht. Das heißt, die haben sich sehr gut schon in den ersten Wochen entwickelt, ohne große Komplikationen zu erleiden. Und damit muss man sagen, haben die sehr gute Aussichten, keine groben Schäden davon zu tragen, vielleicht sogar nur subtile Beeinträchtigungen zu haben, die nur ein Experte erkennt."
Es ist April und der 93. Lebenstag von Kira und Stella – kurz vor dem ursprünglich errechneten Geburtstermin. Der Frühling kommt mit aller Macht nach Berlin – und die Zwillinge sind endlich zu Hause. Nach 3 Monaten im Krankenhaus, nach drei Monaten, an denen sie von Schläuchen, Monitoren, Ärzten, Krankenschwestern und Apparaten umgeben waren. Jetzt endlich sind die Kinder stabil, liegen in ihrem Gitterbettchen im heimischen Wohnzimmer, bewegen Kopf und Ärmchen. Alexandra, Sascha und die Zwillinge sind endlich eine ganz normale Familie.
"Ich freue mich darauf, ganz viel Zeit mit den Kindern zu verbringen und mit ihnen ganz viel zu kuscheln. Es ist wirklich Wahnsinn, was die Medizin heutzutage gewährleistet. Das sind Frühchen. Deswegen möchte ich an dieser Stelle sagen, soweit so gut. Nicht Ende gut, alles gut, es geht ja noch ein bisschen weiter. Aber so weit, so gut ist denke ich das Richtige momentan. Und ich freue mich darauf, denen die ganze Welt zu zeigen, den ganz viel beizubringen und ihnen bei ihrer Zukunft auf jeden Fall ganz viel weiterzuhelfen."
Thomas Gith: "Nicht allen Menschen starten mit den gleichen Bedingungen ins Leben. Manche finden ganz einfach ihren Platz und andere haben es da wesentlich schwerer. Und zu diesen Anderen gehören zum Beispiel Frühchen. Das sind extrem unreife Neugeborene. Die kommen winzig klein zur Welt, wiegen oft nur so viel wie zwei Päckchen Butter. Und deren Schicksal, das berührt mich einfach ganz tief."