Irgend jemanden knutschen!
Frank Wedekinds Drama "Frühlings Erwachen" war ein Skandalstück im Kaiserreich. In Düsseldorf haben Jugendliche diese Tragödie der Pubertät für sich entdeckt und mit eigenen Gedanken bereichert. Eine überzeugende Arbeit der neuen "Bürgerbühne", findet unser Kritiker.
Mit ihrer Inszenierung von "Ein Sommernachtstraum" hat die Regisseurin Joanna Praml in der letzten Spielzeit die neu gegründete Bürgerbühne am Düsseldorfer Schauspielhaus eröffnet. Die Inszenierung kam so gut an, dass sie damit zum NRW-Theatertreffen 2017 eingeladen war und auch für den Theaterpreis "Faust" nominiert wurde.
Jetzt hat Joanna Praml wieder an der Bürgerbühne inszeniert: Frank Wedekinds "Frühlings Erwachen", ein Stück aus dem Jahr 1891, uraufgeführt 1906 in Berlin, das davon handelt, wie Teenager im prüden wilhelminischen Kaiserreich ihre Sexualität entdecken. Angekündigt war ein Abend mit Jugendlichen und Eltern "am Rande des Nervenzusammenbruchs".
(Ausschnitt aus dem Stück, Chor) "Knutschen! Was kaputt machen! Knutschen! Drogen nehmen! Knutschen! In den Puff gehen! Knutschen! Nach Berlin fahren, Alkohol kaufen, ins Smarties gehen! Ins Berghain! Irgend jemanden … knutschen!"
Der Theaterkritiker Peter Claus lobte im Deutschlandfunk Kultur die Produktion als berührend und sagte, dass sie "Frühlings Erwachen nach Frank Wedekind" betitelt sei, "weil ganz viel eigenes Erleben der Spielerinnen und Spieler eine große Rolle auf der Bühne spielt, ich möchte sagen, die Hauptrolle". Die Darsteller seien Bürgerinnen und Bürger, Nicht-Künstlerinnen und -Künstler, "die ihr eigenes Leben einbringen in Diskussionen mit in diesem Fall Joanna Praml als für den Text Verantwortliche und Regisseurin, und über sich selbst nachdenken."
Fragen aus dem Hier und Heute
Der Abend habe einen raffinierten "wunderbaren Trick", mit dem Wedekinds Drama und die eigenen Gedanken verknüpft werden. Auf der Geburtstagsfeier eines Elfjährigen stellen die Jugendlichen fest, dass sie die "Generation Maßvoll" seien, die sich nichts mehr trauen und doch etwas erleben wollen. Einer von ihnen unterbricht das Spiel und wendet sich ans Publikum: Er müsse bis zum Morgen einen Aufsatz über "Frühlings Erwachen" schreiben, aber er könne damit nichts anfangen, er verstehe das Stück nicht…
Peter Claus: "Dann kommen die anderen auf die Idee, das Stück auseinander zu reißen, jeder kriegt sechs, sieben Seiten, liest sie, und dann schlüpfen diese Spielerinnen und Spieler ganz allmählich auch in die Rollen zumindest für Momente immer von Wendla, Moritz, Melchior und Co, den Protagonisten bei Wedekind. Sie bringen eigene Erfahrungen ein, eigene Fragen vor allem, und sind im Hier und Heute! Es geht nämlich vor allem um die Frage weniger des Knutschens, weniger der Sexualität, das spielt wie bei Wedekind auch eine Rolle, sondern um die Frage, wie kann ich mir meinen ganz persönlichen Stellenwert in dieser Gesellschaft erobern, einer Gesellschaft, die mehr und mehr über Soziale Medien definiert wird."
Die Seelen öffnen sich
Ein ganz gewichtiges Menschheitsproblem werde in Düsseldorf auf sehr kluge Art und Weise reflektiert: "Dass keiner wirklich das versucht umzusetzen, was alle propagieren, nämlich sie oder er selbst zu sein, sprich individuell, und um Himmels willen etwa auch noch Fragen zu stellen oder gar Dinge in Frage zu stellen."
Es gebe Monologe, Dialoge und sehr verrückte, laute Szenen, aber überwiegend leise Szenen, die an manchen Stellen zutiefst anrührten. Die schauspielerische Leistung des Ensembles sei überzeugend, weil die Bürgerbühne nicht versuche, "Star-Theater zu machen, sondern weil sich die Seelen öffnen, weil sich die jungen Leute vor allem scheinbar tatsächlich ihre Herzen ausreißen".
Die Regisseurin Joanna Praml habe die Informationen der Mitspieler komprimiert in dem Text zusammengeführt, ihre Inszenierung setze auf das Hintergründige und auf leise Töne: "Das hat mich überzeugt und wirklich berührt", meint Peter Claus.
(Online-Bearbeitung: cre)
Informationen des Düsseldorfer Schauspielhauses zum Stück "Frühlings Erwachen"