Frust mit der Deutschen Bahn

Demokratisiert endlich die Bahn!

Hochgeschwindigkeitszug nähert sich Abgrund (Illustration)
Mehr Bürgerbeteiligung bei der Bahn, fordert Autor Timo Rieg © imago stock&people
Von Timo Rieg · 01.09.2017
Verspätungen, überhitzte Zugabteile und überteuerte Getränke. Mehr Frust als "bahn.comfort". Kein Wunder, sagt der Autor und Journalist Timo Rieg, das Unternehmen wird völlig falsch gelenkt. Er fordert: Demokratisieren wir die Bahn!
Über die Deutsche Bahn kann jeder stöhnen: wer täglich mit ihr fährt ebenso wie all jene, die frustriert aufgegeben haben. Es ist Volkswissen: "Nichts klappt bei der Bahn".
Dabei geht es keineswegs nur um ein paar Baustellen oder mal eine Signalstörung – das lässt sich nicht ganz vermeiden. Es geht darum, dass ein verspäteter Zug gleich alle anderen aus dem Takt wirft; dass niemals ein Schaffner rennen würde, um seine Zugverspätung zu verringern; dass es bei jeder Reise in Hörweite Zoff um eine Fahrkarte gibt.
Es geht darum, dass im ICE 2 anstelle von Sitzen Folterstühle verbaut sind, die einem das Kreuz brechen; dass sich in keinem neueren Zug mehr ein Fenster öffnen lässt, weshalb der Katastrophenfall ausgerufen werden muss, wenn eine Klimaanlage ausfällt.
Es geht darum, dass wir die Infrastruktur eines Entwicklungslandes haben, wie die Schweizer zurecht sagen, Stichwort Rheintalbahn.
Unsere Bahn wird geführt wie ein Familienbetrieb. Der Patriarch sagt, welche Züge und Verbindungen es braucht, ob Reisende noch Abteile oder nur noch Großraumwagen bekommen, ob es ein Bordrestaurant mit Koch gibt oder eine rollende Kantine mit Mikrowelle. Den Patriarchen interessiert dabei nur die Bilanz, ob er seinen Gewinn nun mit dem Transport von Schülern oder Schweinehälften macht ist egal.

Die Bahn gehört uns

Demokratisieren wir die Bahn endlich! Sie soll kein Wirtschaftsunternehmen sein, sie ist ein volkseigener Betrieb zur Daseinsvorsorge. Die Bahn gehört uns, sie hat uns zu dienen. Bahnmanagement muss nicht mit Politikern, sondern direkt mit uns Bürgern abgesprochen werden. Es geht um Fahrpreise, Zugverbindungen, Bahnhöfe, Güterverkehr, Radlärm, erneuerbare Energie, private Bahnkonkurrenz, Naturschutz und tausend Dinge mehr. Das hat nichts mit Parteifarben zu tun.
Weil sich nicht alle Bürger ständig mit den Bahnprobleme befassen wollen und können, müssen sie durch eine repräsentative Auswahl vertreten werden. In einem per Los gebildeten Bürgerrat wäre jeder von uns statistisch anteilig vertreten. Und so könnte demokratisch über alles diskutiert werden: Ob es in Bahnhöfen globale Fastfood-Ketten oder lieber Regionales geben sollte. Ob drei Euro für einen halben Liter Trinkwasser im Zug eine Unverschämtheit sind. Ob es wichtiger ist, einen Dorfbahnhof zu saniert oder dort Züge halten zu lassen.

Lasst die Bürger entscheiden!

Lobbyisten und andere Fachleute gehören in einen solchen Bürgerrat nicht hinein. Die ausgelosten Bürger hören, was Fachleute denken – beraten darüber jedoch ohne sie.
Es gibt gegen eine solche Bürgerauslosung 1328 Einwände – ich kenne sie alle. Sie lassen sich alle widerlegen. Denn Erfahrungen mit solchen Bürgerräten gibt es seit Erfindung der Demokratie in der griechischen Antike, und in den letzten Jahrzehnten wird damit wieder sehr erfolgreich gearbeitet, von Deutschland bis Australien. Beispielhaft vier Einwände, die ich immer als erstes höre.

Vier gängige Einwände - und die Antworten darauf

Erstens: Eine ausgeloste Jury sei nicht repräsentativ. Doch, wenn sie groß genug ist, z.B. 200 Personen stark. Das ist zigfach repräsentativer als jedes Lobbygremium heute.
Zweitens: Ein Bürgerrat mit 200 Personen sei nicht handlungsfähig. Oh, doch. Obwohl er bereits 70 Prozent kleiner wäre als der Bundestag, fänden Beratungen nach einem speziellen Verfahren statt, u.a. nur in Kleingruppen, damit alle zu Wort kommen und kein Rede-Profi dominieren kann.
Drittens: Ausgeloste Bürger seien manipulierbar. Nein, denn ihre Amtszeit ist auf eine Woche begrenzt, danach machen andere ausgeloste Bürger weiter. Es gibt null Gelegenheit für Bestechung.
Vierter Einwand: Normale Bürger hätten keine Ahnung und könnten komplexe Probleme nicht lösen. Falsch, denn die Bürger sollen nur prüfen, ob sie Ideen der Experten und Lobbyisten überzeugend finden. Was sie nicht überzeugt, wird nicht gemacht - das sollte in einer Demokratie selbstverständlich sein. Das Gegenmodell dazu heißt Technokratie, die Herrschaft der Fachleute.
Natürlich braucht die Bahn Experten, sogar bessere als derzeit. Aber in einer Demokratie sollten Experten nichts entscheiden. Schon gar nicht, ob man im Zug ein Fenster öffnen darf.

Timo Rieg, Jahrgang 1970, hat in Bochum Biologie und in Dortmund Journalistik studiert. Seit über 25 Jahren beschäftigt er sich mit politischer Partizipation. So hat er ein auf Auslosung beruhendes Verfahren für die Mitbestimmung Jugendlicher entwickelt und erprobt (Youth Citizens Jury). Sein erstes Buch von 1993 trägt den Titel "Artgerechte Jugendhaltung", sein aktuelles heißt "Demokratie für Deutschland".
Dazwischen hat er u.a. Kurt Tucholskys "Deutschland, Deutschland über alles" neu herausgegeben, in dem es auch schon um Absurditäten des städtischen Autoverkehrs geht.

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