Fthenakis: Wir müssen Kinder auf eine veränderte Welt vorbereiten

Katrin Heise im Gespräch mit Wassilios Fthenakis |
Am Rande der Bildungsmesse didacta, die derzeit in Hannover stattfindet, hat Wassilios Fthenakis das zweite Konjunkturprogramm der Bundesregierung kritisiert. Es enthalte zu wenig Geld für Bildung. In Deutschland brauche es neue Konzepte, Fachkräfte und vor allem interaktive Lehrmaterialien und Software, sagte der Präsident des Didacta-Verbandes.
Katrin Heise: 8,7 Milliarden Euro für die Bildung, davon 6,5 Milliarden vom Bund – das klingt gut. So viel Geld gibt es durch das Konjunkturpaket II. So mancher spricht gar von einer Bildungsoffensive. Die verschiedenen Investitionen sind jedoch nicht geeignet, die Qualität der Bildung in Deutschland nachhaltig zu verbessern, das meint Professor Wassilios Fthenakis. Er ist Direktor des Staatsinstituts für Frühpädagogik und Präsident des didacta-Verbandes der Bildungswirtschaft. Als solcher steht er Europas größter Bildungsmesse, die derzeit in Hannover stattfindet, der didacta vor. Guten Morgen, Herr Fthenakis!

Wassilios Fthenakis Guten Morgen!

Heise: Ich zitiere Sie mal: "Die Zeit ist reif für eine ernst gemeinte Anschaffungswelle." Welche Investitionen nötig sind, um die Bildungssituation in Deutschland wirklich zu verbessern, das wollen wir jetzt erörtern. Der niedersächsische Ministerpräsident Christian Wulff, der kündigte bei Ihnen auf der Messe ja an, das von Niedersachsen beigesteuerte Geld, das geht nicht nur in Gebäude, sondern auch in die Ausstattung. Bei welchen Bildungsmedien besteht denn der größte Nachholbedarf Ihrer Meinung nach?

Fthenakis: Also ich denke, dass das Investitionspaket II ein Paket ist, das in die richtige Richtung geht. Wir brauchen Mittel zur Weiterbeschäftigung unserer Menschen in der Bundesrepublik. Allerdings, wenn man damit meint, dass dadurch eine höhere Bildungsqualität in den Einrichtungen geboten wird, dann muss man nicht nur die Beschäftigungspolitik, sondern ebenso die Bildungspolitik ins Auge fassen. Wir brauchen in den Einrichtungen neue Konzepte, wir brauchen zusätzliche Materialien von guter Qualität und wir brauchen gut ausgebildete Fachkräfte. Alle drei Elemente in Kombination können heute die höhere Qualität in den Einrichtungen sichern. Und das Beschäftigungspaket, das Investitionspaket II, ist zumindest nicht in diese Richtung gedacht. Der Ministerpräsident Christian Wulff hat erfreulicherweise auf der Messe verkündet, dass er dieses Paket in diese Richtung auslegt. Und das ist auch der richtige Weg.

Heise: Denn das können ja eigentlich die Bundesländer – denn so festgezurrt ist es ja nicht, so fest sind die Bestimmungen ja nicht – auch ein bisschen selbst bestimmen, wohin das Geld dann gehen soll. Im Vordergrund des Bildungsbemühens soll eigentlich das einzelne Kind stehen, egal aus welcher Familie es kommt, egal welchen Bildungshintergrund es hat. Dazu muss natürlich Unterricht erst mal individuell auf die Kinder zugeschnitten werden. Sind denn die heutigen Schulmaterialien eigentlich darauf ausgerichtet?

Fthenakis: Also wir haben ein großes Problem im Bildungssystem insgesamt, den Blick weg von der Institution auf das Kind zu richten. Im Mittelpunkt an sich, moderne Bildung, sollte das Kind und seine individuelle Biografie stehen. Und die Materialien und die Fachkräfte sollten sich darauf konzentrieren. Allerdings haben wir auch Entwicklungen aus der jüngsten Zeit, die diesen Prozess unterstützen. Ich will ein Beispiel nehmen: Die Deutsche Telekom Stiftung hat an der Universität Bremen Materialien entwickelt, wie man die Bildungsprozesse in den Naturwissenschaften, in Technik, in früher Medienbildung und in der frühen mathematischen Bildung so gestalten kann, dass sie auf hohem fachlichen Niveau individualisiert das Kind adressieren.

Heise: Was sind denn das für Materialien?

Fthenakis: Wir haben hier in der Bundesrepublik Bildungspläne entworfen, aber wir haben die Fachkräfte im Grunde genommen allein gelassen, wenn es darum geht, diese umzusetzen. Und diese Materialien sind Handreichungen, die der Fachkraft helfen, zu lernen, wie man diesen Bildungsplan individuell auf das Kind gerichtet in ihrer Praxis umsetzen kann.

Heise: Dabei sprechen Sie aber wahrscheinlich nicht nur von Schulbüchern, sondern auch von zum Beispiel interaktiven Medien oder Software?

Fthenakis: Natürlich. Wir brauchen interaktive Medien, wir brauchen Software, wir brauchen neue Gegenstände, bis hin zu den Tafeln, die wir benutzen. Wir können nicht mit einer Tafel aus Holz die Bildung des 21. Jahrhunderts allein bewältigen. Wir müssen begreifen, dass wir die Kinder auf eine völlig veränderte Welt vorbereiten müssen, und dafür nicht nur eine neue Qualität des Konzeptes, sondern auch zusätzliche neue Materialien benötigen.

Heise: Und die werden auf der didacta im Moment vorgestellt und diskutiert. Was würden Sie denn da zum Beispiel herausheben?

Fthenakis: Also wir haben zum Beispiel … Wenn Sie die Firma Nintendo sehen, sie hat bereits den Unterricht in der Klasse neu gestaltet. Wenn Sie andere Firmen sehen, dann werden Sie sehen, dass neue Technologien den Unterricht begleitend unterstützen.

Heise: Was heißt das, dass die Kinder jeder an einem Computer sitzen müssen oder wie muss ich mir das vorstellen?

Fthenakis: Das muss nicht sein, aber ein Kind kann über das Internet Informationen einholen, kann eine Lerngemeinschaft mit anderen Kindern bilden. Eine Klasse kann mittels Benutzen dieser Technologien ein Projekt mit einer Klasse aus Brasilien gemeinsam gestalten. Das heißt, wir sprengen den engeren Klassenraum. Wir geben den Kindern die Chance, mit anderen zu kommunizieren, mit anderen zu kooperieren. Und dafür benötigen wir völlig neue Lernmittel und auch neue Technologien.

Heise: Wassilios Fthenakis, Direktor des Staatsinstitutes für Frühpädagogik, wünscht sich eine ernst gemeinte Anschaffungswelle für die Bildung, hier im "Radiofeuilleton". Wir haben jetzt den frühkindlichen Bereich noch gar nicht angesprochen, das ist ja Ihr Fachgebiet. Was hat die Bildungsmesse denn da zu bieten?

Fthenakis: Also ich glaube, dass der frühkindliche Bereich große Erfolge feiert, weil er nicht nur mit neuen Materialien aufwartet, sondern auch mit neuen Konzepten. Zum Beispiel der blaue Elefant von dem WDR versucht, den Kindern Englisch spielerisch beizubringen. Wir haben sehr viele Materialien, was die Stärkung von Bildungsprozessen in den Einrichtungen betrifft. Und die Produzenten sind auf dem besten Weg, hier völlig neue Konzepte vorzulegen, wie man Bildungsprozesse bei Kindern unter sechs Jahren begleiten und stärken kann.

Heise: Das ist jetzt so quasi das, was vielleicht sogar schon auf dem Markt ist, was entwickelt wird, was aber auch in den Wunschvorstellungen ist, was aber noch nicht im Klassenraum und auch noch nicht im Kindergarten angeschafft ist. Herr Fthenakis, was wäre denn so eine ernst gemeinte Anschaffungswelle, in welcher Kostenhöhe bewegen wir uns denn da?

Fthenakis: Es ist natürlich individuell bedingt, aber eine Minimalgröße von 5000 bis 10.000, was Materialien betrifft, für einen Kindergarten, das würde schon eine empfindliche Verbesserung der Situation nach sich ziehen.

Heise: Ist denn so was denkbar im Rahmen zum Beispiel eines Konjunkturpaketes? Ich meine, das geht dann ja indirekt auch in die Wirtschaft, die Anschaffung?

Fthenakis: Ich denke, das wäre auch die vernünftigste Investition. Denn wir sollten wirklich zur Kenntnis nehmen, das hohe Bildungsqualität mit Produktivität auf das Engste verbunden ist.

Heise: Wir haben vorhin die notwendige individuelle Förderung eines Schülers, einer Schülerin angesprochen. Dafür müssen natürlich die Pädagogen ausgebildet sein. Das, was Sie vorhin entworfen haben, so ein Szenario, dass die Kinder Lerneinheiten bilden usw., da ist der Pädagoge ja mehr oder weniger der Anleiter und nicht mehr derjenige, der da vorne steht und irgendwie referiert. Wie ist da die Ausbildung der Pädagogen, die Weiterbildung der Pädagogen? Sie beklagen, wir hätten in Deutschland noch lange nicht internationales Niveau. Was meinen Sie konkret?

Fthenakis: Also wir haben leider in der Ausbildung immer noch Konzepte des 20., aber nicht des 21. Jahrhunderts. Die Fachkräfte müssen so professionalisiert werden, dass sie nicht lehren, dass sie nicht Wissen vermitteln, sondern dass sie gemeinsam mit dem Kind Wissen konstruieren und Sinn herstellen. Das heißt, sie sind Ko-Konstrukteure kindlicher Bildungsbiografien. Und das bedeutet auch zusätzlich, dass diese Biografien individueller Natur sind. Das heißt, jedes Kind muss individuell betrachtet werden, mit seinen Stärken, und mit jedem Kind muss im Grunde genommen ein Bildungsplan entworfen werden. Dafür sind die Fachkräfte leider nicht hinreichend vorbereitet. Deswegen brauchen wir eine Reform der Ausbildung. Ich habe selbst für Italien die Aufgabe demnächst, einen solchen Ausbildungsgang zu entwerfen. Wir werden gemeinsam die Fachkräfte ausbilden, die für den Kindergarten, den Grundschulbereich zuständig sein werden, und beide werden fünf Jahre lang ausgebildet. Das heißt, wir brauchen in der Tat eine Reform der Organisation und vor allem eine Reform der Ausbildungsqualität. Hier wird wiederum, ich muss das sagen, die Deutsche Telekom Stiftung Gutes leisten, weil sie jetzt in den nächsten Jahren sich dieser Thematik zuwendet.

Heise: Jetzt haben wir einen langen Wunschzettel aufgestellt. Die Bildungsmesse bietet Dutzende von Vorträgen, Gesprächen, Diskussionsrunden, da sind Lehrer, Eltern, Schüler, Verleger, aber auch Politiker. Sie sind außerdem Leiter eines Staatsinstituts für Frühpädagogik, haben also durchaus auch immer wieder mit der Politik zu tun. Welche Chancen sehen Sie denn, dass tatsächlich die Krise sozusagen als Chance genutzt wird?

Fthenakis: Gestatten Sie eine Korrektur, ich war der Leiter, ich bin jetzt pensioniert, ich bin Ordinarius an einer italienischen Universität und ich bin Mitglied der Universität Bremen. Wir haben in Hannover auf dieser Messe 1.400 Professionalisierungsangebote für die Fachkräfte. Das ist zunächst mal das größte Fortbildungsangebot, was bundesweit existiert. Und wir sprechen natürlich mit Politikern. Ich habe mit vielen Ministern gesprochen …

Heise: Treffen Sie auf offene Ohren?

Fthenakis: Das ist sehr unterschiedlich, aber bei allen ist eins klar geworden: Ohne hohe Qualität in der Bildung kann das Land seine Zukunft nicht sichern, wenn auch mit unterschiedlichen Akzentuierungen. Ich habe erkannt, dass die frühe Bildung bei allen plötzlich an Bedeutung gewonnen hat, aber was ich vermisse, ist eine Konzeption, die Institutionen übergreifend es schafft, dass man die Kinder nicht von einer Bildungsphilosophie zur anderen wirft, sondern dass man ein konsistentes Bildungssystem von unten nach oben entwickelt. Da sind wir noch nicht so weit, allerdings Anzeichen dieser Art sind zu erkennen. Das Land Hessen hat diese Entwicklung eingeleitet, Thüringen ist auf diesem Weg. Und in einem Gespräch mit Christian Wulff habe ich von ihm erfahren, dass er auch diesen Weg gehen wird. Das heißt, wir sind am Beginn einer spannenden Entwicklung.

Heise: Sanieren reicht nicht, Anschaffungen, die die Bildung voranbringen, sind wichtig. Wassilios Fthenakis, Präsident des didacta-Verbandes der Bildungswirtschaft, ich danke Ihnen recht herzlich!

Fthenakis: Ich danke Ihnen auch!