Fünf Jahre Krim-Annexion

Leben unter russischer Flagge

27:52 Minuten
Bewohner der Krim demonstrieren in Sewastopol gegen die Maidan-Bewegung.
Eine Demonstration 2015 auf der Krim in Sewastopol gegen die Maidan-Bewegung. © picture alliance / Ria Novosti / Vasily Batanov
Von Inga Lizengevic · 28.02.2019
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Im Februar 2014 übernahmen russische Soldaten und pro-russische Milizen die Macht auf der Krim. Fünf Jahre später sind die verbliebenen Kritiker kalt gestellt: gefoltert, gefangen, verschleppt oder im Justizapprat verstrickt. Der Rest lebt Alltag.
"Schiff 494, Baujahr 2014. Es heißt: Admiral Grigorovich und hat bereits öfter an Kampfhandlungen in Syrien teilgenommen. Es ist nach den neuesten Technologien konstruiert."
Erzählt mir ein Fremdenführer auf einem kleinen Motorboot, das Touristen durch die Buchten von Sewastopol fährt. Kriegsschiffe der russischen Schwarzmeerflotte sind hier die Hauptattraktion.
Kriegsschiffe in der strategisch wichtigen Bucht von Sewastopol.
Kriegsschiffe in der strategisch wichtigen Bucht von Sewastopol.© Deutschlandradio / Inga Lizengevic
"Die Admiral Essen hat Kalibr-Raketen auf Ziele in 2500 km Entfernung abgeschossen. Die Raketen folgten einer genauen Flugbahn, ohne die Grenzen anderer Länder zu verletzen."
Gemeint ist wahrscheinlich ein russischer Angriff auf Ziele in Syrien im Mai 2017. Teile der russischen Schwarzmeerflotte waren damals von der Hafenstadt Sewastopol ins Mittelmeer aufgebrochen. Die syrische Küste ist von hier aus in weniger als zwei Tagen zu erreichen. Die strategische Bedeutung des Hafens von Sewastopol und der Kriegsflotte dürfte der Hauptgrund für die Annexion der Krim durch Russlands Regierung sein. Seit dem Ende der Sowjetunion war die Krim ständig Zankapfel zwischen Russland und der Ukraine.
Nun ist sie seit fünf Jahren unter russischer Flagge. Wie ist das so, frage ich Grigori, der auf der Promenade Touristen für die Hafenrundfahrt einsammelt.
"Es gibt positive und negative Seiten. Allein die Tatsache, das wir keinen Krieg haben, ist positiv. Sonst hätten wir dasselbe wie in Donezk. Wäre der Krieg ausgebrochen, wäre alles ganz schrecklich. Die amerikanische Flotte würde bereits hier liegen. Sie hatten es damals schon ins Auge gefasst. Man hatte bereits angefangen, ukrainische Schiffe in NATO-Farben anzumalen. Hier dockten ja zu ukrainischen Zeiten türkische, georgische und amerikanische Schiffe an. Auch französischen Korvetten und Frigatten."

Rentnerin hat noch ukrainische Pässe

Jetzt ist alles anders. Zurück im Hotel schaue ich Stalin und Putin in die Augen. In der Rezeption hängen ihre Portraits nebeneinander an der Wand.
Auf der anderen Seite der Krim liegt Jalta – der geschichtsträchtige Kur- und Urlaubsort. Hier treffe ich an einer Bushaltestelle Olga. Die Rentnerin hat sich auf die neuen Verhältnisse eingestellt.
"Anfangs hatten wir etwas Angst, als die Preise so gestiegen sind. Jetzt haben wir uns daran gewöhnt. Das Wichtigste: Es ist stabil geworden. Die Medikamente sind früher jede Woche teurer gewesen. Jede Woche. Ich war mit der einen Packung noch nicht fertig, als die nächste bereits teurer war. Jetzt kaufe ich nicht mehr auf Vorrat. Der Preis verändert sich nicht. Früher habe ich die Tabletten gelagert."
Jalta: Der Liwadija-Palast war 1945 Schauplatz der historischen Jalta-Konferenz, wo die drei Großmächte 1945 Deutschland und Europa aufteilten.
Jalta: Der Liwadija-Palast war 1945 Schauplatz der historischen Jalta-Konferenz, wo die drei Großmächte 1945 Deutschland und Europa aufteilten.© dpa / Daniel Gammert
Die Rentnerin hat jetzt neue russische Pässe und einige alte aus ukrainischen Zeiten. Die seien noch wichtig.
"Da wir auf dem sogenannten okkupierten Territorium wohnen, dürfen wir keine Visa bekommen. Ein deutsches Visum zu bekommen, da gibt es gar keine Chance. Es gibt wohl Umwege über andere Länder, aber das ist sehr teuer. Wissen Sie, wie viele Pässe ich habe? Zwei ukrainische und zwei russische. Und bald bekommen wir noch die biometrischen. Damit wir unsere Tochter besuchen können."
Olgas Tochter lebt in Deutschland. Ukrainer mit dem neuen biometrischen Pass können ohne Visum einreisen. Sonst wird es teuer: Reisebüros bieten EU-Visa für Krimbewohner ab 650 Euro.
"So werden wir über die Ukraine ins Ausland reisen. Wir werden uns blau-gelbe Tüchlein anbinden. Visafreiheit, das ist das Einzige, was die Ukraine erreicht hat."
Olga hat eine Cousine auf dem ukrainischen Festland. Doch mit ihr versteht sich die rüstige Dame nicht mehr.
"Ich habe zu ihr keinen Kontakt mehr, weil sie gegen die Sowjets ist. Sie erzählt nur Unsinn. Die haben ja noch nicht mal russisches Fernsehen da."

Touristen lassen sich mit Stalin ablichten

Olga empfiehlt mir, die "Großen Drei" anzuschauen und beschreibt mir den Weg. Wie schon auf dem Bild in meinem Hotel – schaue ich wieder Stalin in die Augen. Er sitzt hier neben Churchill und Roosevelt. Das Denkmal für die Jalta-Konferenz von 1945 wurde von der russischen Regierung 2015 errichtet – ein Jahr nach der Annexion der Krim. Neben Stalin hat sich mittlerweile eine Schlange gebildet. Eine Gruppe von Touristen läßt sich in geordneter Reihenfolge mit dem Diktator ablichten. Das seien in diesen Tagen vor allem Gäste aus dem Norden Russlands, erklärt mir die Fremdenführerin Alexandra. Insgesamt sei die Anzahl seit der Annexion konstant geblieben.
In Jalta errichtete die russische Regierung 2015 ein Denkmal anlässlich der Konferenz mit Churchill, Roosevelt und Stalin 1945.
In Jalta errichtete die russische Regierung 2015 ein Denkmal anlässlich der Konferenz mit Churchill, Roosevelt und Stalin 1945.© Deutschlandradio / Inga Lizengevic
"2014 hat es etwas gedauert, bis es los ging. Anfangs waren die Menschen vorsichtig. Seit die Brücke nach Russland 2018 fertig wurde, kommen die Leute auch übers Wochenende. Beim Tourismus gab es nie Probleme, egal wem wir gehört haben. Die Touristen kommen entweder von der einen, oder von der anderen Seite. Früher hatte wir auch ausländischen Touristen, die Schiffe lagen hier bei uns. Oktober, November war die Zeit der Kreuzfahrtschiffe. Jetzt kommen sie natürlich nicht mehr."
Auf dem Rückweg begegne ich an der Bushaltestelle noch eimal Rentnerin Olga. Sie erinnert sich an die bewegten Tage der Krim im Februar und März 2014 und will mir noch was sagen:
"Die Züge mit Radikalen vom Festland waren ja damals schon unterwegs zu uns. Die Volkswehr hat doch den Zug erwartet. Als die Türen aufgingen, sah man, das er leer war. Sie haben mitbekommen, das sie empfangen werden, und sind woanders ausgestiegen. Wir wollten nicht, dass es hier wird, wie im Donbass."
Da bringt Olga wohl etwas durcheinander. Der Krieg im Donbass begann erst nach der Annexion der Krim. Aber die Geschichte über einen Zug voller Radikaler aus Kiew höre ich immer wieder auf der Halbinsel. Angeblich sind sie noch vor dem Erreichen der Krim ausgestiegen. Tatsächlich entstammt die Legende dem Propaganda-Film "Krim, der Weg in die Heimat." – vom russischen TV-Sender Rossija 1. Er zeigt die Moskauer Sichtweise der Ereignisse von 2014. Zu hören sind Kommentare von Kreml-Chef Wladimir Putin, dazu an Original-Schauplätzen nachgestellte Szenen der Ereignisse.

Volkswehr hat 2014 Flughafen blockiert

"Sie können mich auch im Film sehen, ich bin in der Flughafenszene dabei. Während Samvel mit den Verteidigern des Flughafens spricht, stehe ich hinter ihm. Ich habe so eine Strickmütze an. Und einen Jeansanzug. Da muss man den Fim anhalten und genau hingucken."
Vladimir ist Ende 50. Er trägt eine Tarnuniform. Gemeinsam mit einem Kameraden bewacht er eine Grünanlage im Zentrum der Hauptstadt Simferopol. Vladimir gehört zur 2014 gegründeten pro-russischen Volkswehr auf der Krim. Die Volkswehr hat damals die russischen "grünen Männlein" – also die russischen Soldaten ohne Abzeichen – bei der Annexion unterstützt. Sie haben z. B. den Flughafen blockiert.
"Das war sehr einfach. Auf die Landebahn haben wir Fässer gebracht und Feuer gelegt, damit Poroschenko nicht landen konnte. Er war doch bereits unterwegs, oder? Ich weiß es nicht genau. Jedenfalls haben wir die Landung eines Flugzeugs unterbunden, um bestimmte Ereignisse zu verhindern."
Russland ließ ein Denkmal auf der Krim errichten für die "höflichen Menschen", auch als "grüne Männlein" bekannt sind, russische Soldaten ohne Abzeichen, die 2014 die Halbinsel besetzten.
Russland ließ ein Denkmal auf der Krim errichten für die "höflichen Menschen", auch als "grüne Männlein" bekannt sind, russische Soldaten ohne Abzeichen, die 2014 die Halbinsel besetzten.© Deutschlandradio / Inga Lizengevic
Sicher ist: Die paramilitärische Volkswehr ist für die Verschleppung von zahlreichen pro-ukrainisch gestimmten Menschen im März 2014 verantwortlich. Einige dieser Menschen sind bis heute verschwunden. Während die russischen "grünen Männlein" damals überwiegend Präsenz zeigten, wurde die Volkswehr handgreiflich.

Folteropfer: "Strom an Hände und Schultern angeschlossen"

"Die Volkswehrmänner haben uns die Arme auf dem Rücken gebogen. Uns wurden Kapuzen über die Augen geschoben. Als ich versucht habe, mich zu wehren, haben sie mir ins Gesicht geschlagen. Wir wurden in einen Transporter gestoßen. Sie haben uns die Handys weggenommen. Die Hände wurden mit Klebeband gefesselt. Das Klebeband kam auch über die Augen. Dann wurden wir weggefahren."
Andrij Shekun treffe ich in Kiew. Er musste die Krim verlassen. Im Winter 2013-2014 hat er die lokale Maidan-Bewegung auf der Krim koordiniert. Am 9. März 2014 wurde er von der pro-russischen Volkswehr verschleppt.
"Sie haben uns in einen Raum gebracht. Wir mussten uns nackt ausziehen und Kniebeugen machen. Die Kleidung wurde durchsucht. Später kamen noch Menschen rein, wahrscheinlich Tschetschenen. Sie hatten einen charakteristischen Akzent. Einer hat mich geschlagen. Sie haben mich in einen Lehnstuhl gesetzt, mit Klebeband die Beine und die Hände an den Stuhl gefesselt. Dann haben sie angefangen, etwas an meine Hände zu binden. Mir wurde klar, dass es für elektrischen Strom ist."
Andrij Shekun wird im Keller des Einberufungsamts von Simferolpol festgehalten. Volkswehr und russische Soldaten ohne Abzeichen hatten das Gebäude erst einen Tag zuvor besetzt.
"Sie haben den Strom nicht gleich angeschaltet. Zuerst haben sie ein Messer über meinen Körper geführt. Das hat so ca. 15 Minuten gedauert. Eine Art psychische Attacke. Dem Akzent nach war es ein Tschetschene oder ein Armenier. Er erzählte, er habe in Somalia gekämpft, und Menschen bei lebendigem Leib die Leber rausgeschnitten. Und so einen Blödsinn. Den Strom haben sie an den Händen und im Schulterbereich angeschlossen. Ich habe gespürt, wie er mich mit dem Messer geschnitten hat, und das Blut floß. Er meinte, gleich werde jemand kommen und Fragen stellen. Ich solle laut und deutlich antworten. Bei der falschen Antwort wirst du geschlagen. Verstanden?"

Folter mit dem "Teufel"

Während Shekuns Martyrium im Keller des Einberufungsamtes sind prominente Personen zu Gast. Das bestätigen mir auch mehrere andere Folteropfer. Immer wieder fällt der Spitzname "Bes" – "Teufel" – von Igor Bezler – angeblich Ex-Agent des russischen Militärgeheimdienstes GRU. Auch Igor Girkin soll da gewesen sein. Beide werden später militärische Anführer der pro-russischen Donezker Volksrepublik.
"Verhört wurden wir von den ‚Spezies‘. Die Wächter hatten Angst vor ihnen. Wenn ‚Bes‘ kam, der ‚Teufel‘ wurde es ruhig. Er brachte den Arzt mit."
Aufgabe des Arztes im Folterkeller: Das Opfer am Leben erhalten.
"Ein anderer Mensch kam, wahrscheinlich ein Russe. Er schrie: Familienname! Name! Geburtsjahr! Geburtsort! Dann fragte er nach der Verbindung zum rechten Sektor. Ich verneinte. Da kam der erste Stromschlag. Erst ein kleiner, dann stärkere. Die Stromschläge gingen in den Brustkorb. Ich verlor nach und nach das Bewusstsein. Ich bin samt Stuhl auf den Boden gekippt. Als ich umfiel, haben sie den Strom abgestellt. Sie haben auf den Brustkorb eingeschlagen.
Sie haben es professionell gemacht, und haben nicht die Nieren oder sonst was getroffen. Dann haben sie mich aufgerichtet, und es ging wieder los. Das hat sich drei Mal wiederholt. Sie wollten nicht glauben, dass ich als Anführer der Maidan-Bewegung auf der Krim keine Verbindung zum Rechten Sektor habe. Außerdem wollten sie nicht glauben, dass die Maidan-Bewegung auf der Krim keine Gelder aus Kiew bekommt."
Andrej Shekuns Martyrium dauert insgesamt elf Tage. Er hat Glück im Unglück. Nach dem sogenannten Referendum über die Zukunft der Krim im März 2014 wird der Euromaidan-Aktivist bei einem Gefangenenaustausch freigelassen. Wie viele Menschen ein ähnliches Schiksal erlitten haben, ist unklar.
Der ukrainische Regisseur Oleg Senzow wurde auf der Krim gefangen genommen und befindet sich in russischer Haft.
Der ukrainische Regisseur Oleg Senzow wurde auf der Krim gefangen genommen und befindet sich in russischer Haft.© imago/ITAR-TASS
Nach Auskunft der Menschenrechtsorganisation "Krim SOS" sind sechs Verschleppte tot aufgefunden worden, von mindestens 17 Personen fehlt bis heute jede Spur. Die Repressionen gegen Andersdenkende dauern an.

Rechtsanwalt: "Die Krim-Tartaren sind in größter Gefahr"

"Die Krim ist eine Region, die von den russichen Machthabern unter dem Brennglas betrachtet wird. Das Ergebniss ist eine große Anzahl von Verfahren mit Anklagen wegen Extremismus. Möglicherweise halten die russischen Staatsorgane dieses Vorgehen für eine Präventivmethode. Viele Menschen von der Krim werden absolut unbegründet strafrechtlich verfolgt. Beinahe jeder dieser Fälle hat einen Schaueffekt."
Rechtsanwalt Alexey Ladin ist seit zwei Jahren für die internationale Menschenrechtsorganisation "Agora" tätig. Er setzt sich auf der Krim für die Rechte von Aktivisten, Journalisten und auch von Krim-Tartaren ein.
"Risiko-Gruppe sind alle politischen und gesellschaftlichen Aktivisten und auch die Krim-Tataren. Die Krim-Tataren sind einfach aufgrund ihrer Nationalität in weitaus größerer Gefahr, strafrechtlich verfolgt zu werden."
Die russische Justiz hat sich auf der Krim etabliert. Heimliche Entführungen durch die Volkswehr sind nicht mehr notwendig. Doch die Folterungen sind geblieben. Laut Rechtsanwalt Ladin gab es seit 2014 immer wieder Fälle von Entführung und Folter, deren Opfer später in Polizeigewahrsam auftauchten.


"Meistens hat es Krim-Tataren betroffen. Dank ihrer guten Selbsorganisation kommt es aber so gut wie nicht mehr vor. Zum Beispiel Ismail Ramazanov. Als bei ihm eine Hausdurchsuchung stattfand, wurde er in ein Auto gesetzt. Seine Bekannten sind dem Auto mit Ismail und den FSB-Mitarbeitern gefolgt. Wahrscheinlich haben sie dadurch seine Entführung verhindert.
Krim-Tataren während eines "Marsch der Solidarität" im Februar 2017 in Kiew anlässlich der Annexion der Krim 2014.
Krim-Tataren während eines "Marsch der Solidarität" im Februar 2017 in Kiew anlässlich der Annexion der Krim 2014.© picture alliance/dpa/Foto: Vladimir Shtanko
Ihm wurde gesagt, er werde in den Wald gebracht und gefoltert. Entweder werde er gestehen, oder er werde totgeschlagen. Schon im Wagen wurde er geschlagen und stranguliert. Die Finger wurden ihm ausgekugelt. Da ihnen dieses andere Auto folgte, konnten sie ihn nicht einfach woanders hinbringen. Die Folterspuren wurden übrigens von der Gerichtsmedizinerin dokumentiert. Ismail hat gegen die FSB-Mitarbeiter Anzeige erstattet. Doch der Anzeige wurde nicht nachgegangen."

Stalin deportierte 1944 rund 200.000 Krim-Tartaren

Die Krimtartaren sind die heftigsten Widersacher der Annexion. Seit Ende der 80er-Jahre sind sie in ihre historische Heimat zurückgekehrt. Sie wollen das Land nicht schon wieder verlassen. So wie diese Blumenverkäuferin, die ich in Simferopol treffe.
"Am meisten Angst hatte ich in der Übergangszeit, als der Krieg auszubrechen drohte. Wenn du weißt, dass sie deine Angehörigen einfach mitnehmen können. Einfach von zu Hause abholen, so wie während des Zweiten Weltkriegs. Wenn du keine Wahl hast, sondern einfach mitkommen musst. Das war für mich der schrecklichste Augenblick: als ich dachte, meine Angehörigen könnten mitgenommen werden."
"Deportation" ist das Wort, das Madina nicht über die Lippen bringt. Die wurde im Mai 1944 auf Befehl von Stalin innerhalb von drei Tagen vollzogen. Fast 200.000 Krimtataren wurden damals in Güterwaggons gesperrt und nach Zentralasien abtransportiert. Todesopfer während des Transports: je nach Schätzung zwischen 22 und 46 Prozent.


Und heute? Gegen Krimtataren die nicht kollaborieren, wird vorgegangen, erzählt Anwältin Lilia Hemedzhi. Selber auch eine Krim-Tatarin, unterstützt sie Angehörige von Festgenommenen.
Gedenken im Mai 2016 in Bakhchisaraisky, Krim, an die Deportation der Krim-Tataren 1944 unter Stalin.
Gedenken im Mai 2016 in Bakhchisaraisky, Krim, an die Deportation der Krim-Tataren 1944 unter Stalin.© imago/ITAR-TASS
"Die Tatsache, dass ein großer Teil der Krim-Tataren die neue Realität nicht akzeptiert, hat dazu geführt, dass ihnen entweder Terrorismus oder Extremismus vorgeworfen wird. Die gläubige Muslime werden wegen Terrorismus verurteilt, die säkular lebenden wegen Extremismus."
Lilia Hemedzhi treffe ich im ukrainischen Kherson. Sie begleitet Angehörige von auf der Krim Verhafteten. Hier beantragen sie die staatliche Gerichtshilfe der Ukraine.
"Unser Volk akzeptiert nicht, dass wir im Jahr 1944 als Verräter gebrandmarkt wurden, und seit 2014 als Terroristen und Extremisten gelten."
Die Justiz dient heute auf der Krim als Mittel der Einschüchterung. Schauprozesse werden schon aus geringfügigen Anlässen geführt. Oft sind die Vorwürfe aus der Luft gegriffenen. Neben den Krim-Tartaren trifft es auch pro-ukrainisch gestimmte Menschen, und alle, die sich trauen die Machthabenden zu kritisieren, unabhängig vom politischen Standpunkt. So kann man neben neu errichteten Stalindenkmälern auch die Rückkehr zu den Methoden der Stalin-Ära beobachten. An der Oberfläche wirkt aber alles ganz normal und friedlich. Was mir dennoch auffällt, ist das Misstrauen der Menschen auf den Straßen, wenn ich mein kleines Mikrofon auspacke.
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