Fünf Jahre nach Beslan
Anfang September 2004 hielten überwiegend aus Tschetschenien und Inguschetien stammende Terroristen drei Tage lang die Schule Nr. 1 in der nordossetischen Kleinstadt Beslan besetzt. Über 1000 Menschen, vor allem Kinder, wurden als Geiseln genommen.
Bei der Erstürmung der Schule durch russische Spezialtruppen des Geheimdienstes FSB kamen über 300 Menschen ums Leben. Die genauen Umstände des blutigen Terroranschlags sind bis heute nicht geklärt.
Emilia Bzarowa wäscht ab. Sorgfältig hält sie jeden Teller, jede Tasse unter fließendes Wasser und stellt sie dann in das Fach über der Spüle zum Abtropfen. Doch ihre Gedanken sind, wie so oft, nicht bei der Sache. Sie kann sich über die geräumige helle Wohnung mit den neuen Möbeln nicht wirklich freuen, die man ihr vor einem Jahr zugewiesen hat. Die Wohnung liegt im vierten Stock eines der wenigen modernen Häuser in Beslan. Die Bewohner der 30 Appartements vereint die Trauer: Sie alle waren Geiseln oder sind Angehörige jener Geiseln, die vor fünf Jahren von Terroristen in der Schule Nr.1 festgehalten wurden. Emilia Bzarowa ist heute 38 Jahre alt. Sie arbeitet in der Verwaltung des neuen Gesundheitszentrums von Beslan. Die kleine lebhafte Frau mit dem ernsten Blick hat damals ihren jüngsten Sohn verloren. Der älteste konnte gerettet werden.
"Meinen ältesten Sohn habe ich selbst am 3. September gefunden und in einem Erste-Hilfe-Auto weggebracht. Als die Ärzte mir dann sagten, dass sein Leben nicht in Gefahr ist, habe ich ihn tagelang völlig vergessen. Meinen jüngsten Sohn habe ich einen Monat gesucht, bin von Krankenhaus zu Krankenhaus gegangen, dann ein zweites Mal. Ich dachte, er ist vielleicht so schwer verwundet, dass ich ihn nicht erkenne. Dann habe ich Blut abgegeben für die DNA-Probe und man hat mir einen Sarg geschickt."
Das Grab ihres Sohnes Aslan liegt auf einem weiten Gräberfeld aus rotem Marmor. An schönen Tagen glitzert der Marmor in der Sonne. Hier sind die meisten der 334 Opfer bestattet. Den Gedenkfriedhof hat man an der Überlandstraße angelegt, die den Flughafen mit der Hauptstadt der kleinen Kaukasusrepublik Nordossetien verbindet.
Jedes Wochenende besucht Emilia Bzarowa ihren Sohn Aslan in der so genannten Stadt der Engel. So heißt der Friedhof wegen seiner vielen Kindergräber. Sie steckt einen Strauß Plastikblumen in eine Glasvase, die sie sorgfältig auf die große Grabplatte geklebt hat. Damit der Wind sie nicht umweht. Dann wischt sie den staubigen Marmor mit einem nassen Tuch ab. Das ist alles, was sie für ihren Sohn tun kann.
In der Mitte der Platte ist ein kleines Beet eingelassen. Dort hat sie Veilchen gepflanzt, echte. Den Grabstein schmückt ein farbiges Emaille-Foto ihres Sohnes. Aslan ist nur zehn Jahre alt geworden. Und er ist, wie alle, die hier liegen, am 3. September 2004 ums Leben gekommen.
"Ich gehe oft auf den Friedhof, ich habe meinen Jungen verloren. Jeder Mutter ist ihr Kind teuer - es kostet die ganze Welt. Was hat sich verändert? Der Sinn meines Lebens besteht aus diesen Besuchen. Alle Feiertage verbringe ich hier."
Neben dem Eingang des Friedhofs steht ein Denkmal eines ossetischen Künstlers. Es besteht aus rotbraunem Kupfer und stellt einen Baum dar, den Baum der Schmerzen. Den Baumstamm bildet eine Gruppe weinender Frauen, die Äste sind hoch gestreckte Arme, von denen aus viele kleine Kinder gen Himmel fliegen. Das Denkmal wurde zum ersten Jahrestag der Geiseltragödie in der Schule von Beslan enthüllt. Tausende Menschen reisten an, nur der damalige Präsident Putin fehlte.
Vom Friedhof aus fährt man mit dem Auto fünf Minuten bis Beslan. Nicht weit vom Stadtzentrum wohnt die Lehrerin Djulietta Gutijewa. Mit ihren Eltern und zwei Töchtern lebt die 46 Jahre alte Frau in einem alten kaukasischen Haus. Das Grundstück ist zur Straße hin mit einem Holzzaun abgeschirmt. Der geräumige Innenhof schützt vor der Sommerhitze, im Garten wachsen Kartoffeln, Tomaten und Kräuter. Djulietta Gutijewa serviert starken kaukasischen Mokka in winzigen Tassen. Es fällt ihr schwer, zu reden, weil die Erinnerungen sie leicht aus der Fassung bringen.
"Der Friedhof ist gut angelegt, da sind sie alle zusammen. Aber was wird aus der Schule? Das bewegt heute in Beslan jeden. Fünf Jahre lang entscheidet man diese Frage schon. Die Meinung der Lehrer ist, dass man dort eine Kapelle bauen sollte."
Djulietta Gutijewa unterrichtete an der Schule Nr.1 die ossetische Sprache. Am 1. September feierte sie mit ihren Kollegen und Kolleginnen, den Schulkindern und deren Angehörigen den Beginn des neuen Schuljahres, den Tag des Wissens. Auch ihre damals 15 Jahre alte Tochter Kristina war dabei. Als 32 maskierte, schwer bewaffnete, vor allem tschetschenische und inguschische Terroristen die Schule überfielen, wurden Mutter und Tochter, zusammen mit über tausend anderen, als Geiseln genommen. Man trieb sie in die Schulsporthalle. Die beiden überlebten. Als alles vorbei war, wollte Djulietta ihren Beruf aufgeben. Dann aber blieb sie doch - ihrer Klasse zuliebe.
"Man hat für uns eine neue Schule gebaut, meine Schüler waren in der 10. Klasse, als wir dorthin umgezogen sind. In meiner Klasse gab es 29 Schüler, von denen sind 7 umgekommen. 20 sind dann in die Schule zurückgekehrt. Dafür bin ich ihnen sehr dankbar, denn das zeugt davon, dass sie ihrer Lehrerin vertrauen. Und dass die Eltern uns vertrauen."
Die neue Schule mit ihren über 800 Kindern liegt schräg gegenüber der alten auf der anderen Seite der Eisenbahnschienen.
"Wenn Sie in die Schule gehen, sehen Sie am Eingang drei Wachleute und drinnen sind auch noch welche. Wir haben einen speziellen Ausweis mit Fotos, die Schüler haben auch so einen. Und außerdem überprüft man noch die Schulmappen. Die Schule wird bewacht."
Djulietta Gutijewa hat immer noch viele Fragen an die politischen Verantwortlichen, auch fünf Jahre nach der Geiseltragödie. So versteht sie bis heute nicht, weshalb gerade ihre Schule von den Terroristen ausgewählt wurde, weshalb niemand die Terroristen aufgehalten hat und weshalb die Schule am 1. September nicht, wie in vergangenen Jahren, von der Polizei bewacht worden ist.
Weil so wenig aufgeklärt wurde, kursieren in Beslan Gerüchte. So behaupten einige, die Schule sei in jenem Sommer von unbekannten bärtigen Männern renoviert worden. Die sollen Waffen ins Gebäude geschmuggelt und die Geiselnahme vorbereitet haben. Angeblich hat die Schuldirektorin diese Männer mit der Renovierung beauftragt. Böse Zungen sagen, die örtliche Polizei sei womöglich von den Geiselnehmern bestochen worden und habe deshalb die Wachen aus der Schule abgezogen. Auch die genaue Anzahl der Geiselnehmer bleibt unklar. In Beslan vermutet man, dass es nicht 32, sondern bis zu 70 Terroristen waren, von denen dann die Hälfte entkommen sein soll.
"Wahrscheinlich vergeht sehr viel Zeit, bis wir die Wahrheit erfahren. Nach dem Terroranschlag haben wir all unsere Anstrengungen darauf verwandt, dass die Kinder wieder zu uns in die Schule gekommen sind. Sie wollten nicht mehr zur Schule gehen und hatten sehr große Angst. Jedes Geräusch, das Schüssen ähnelte, hat sie aus der Fassung gebracht. Sie haben nach den Eltern gerufen und sind dann sofort nach Hause gelaufen. Es war sehr schwer, sie wieder zum Schulbesuch zu bewegen. Dieser Schrecken ist geblieben, obwohl schon fünf Jahre vergangen sind. Das behält man fürs ganze Leben."
Zehn Minuten Fußweg von Djulietta Gutijewa entfernt wohnt Emilia Bzarowa. Als die Tragödie geschah, arbeitete sie in der Kantine des Moskauer Flughafens Scheremetjewo. Die allein erziehende Mutter von zwei schulpflichtigen Söhnen hatte in ihrer Heimatstadt Beslan keinen Job gefunden. Ihre Söhne im Alter von 10 und 12 Jahren blieben bei Tante und Großmutter. Sie gingen auf die Schule Nr.1. Bekannte riefen Emilia am 1. September in Moskau an, als sie aus dem Fernsehen von der Geiselnahme erfuhren. Einen Tag später stand Emilia mit vielen anderen Angehörigen vor der weiträumig abgesperrten Schule. Zuerst hoffte sie auf eine friedliche Lösung des Dramas, glaubte den Worten des damaligen Präsidenten Putin. Er hatte im Fernsehen versichert, die Hauptaufgabe sei natürlich, Leben und Gesundheit der Geiseln zu retten.
Doch schon wenig später mussten Emilia Bzarowa und die anderen Mütter mit ansehen, wie ihre Kinder starben.
Denn das Ziel war nicht, die Geiseln zu retten, sondern die Terroristen zu vernichten. Dieses Ziel hat der Staat erreicht. An die Kinder hat niemand gedacht.
Die Schule wurde von Spezialeinheiten des Geheimdienstes FSB mit Panzern und Granatenwerfern gestürmt, kurz nachdem es in der Sporthalle zwei Explosionen gegeben hatte. Bis heute ist nicht klar, wie es zu diesen Explosionen kam. Der Moskauer Abgeordnete Jurij Saweljew, Mitglied einer parlamentarischen Untersuchungs-Kommission zu Beslan, hat inzwischen ein alternatives Gutachten vorgelegt. Darin kommt Saweljew zum Schluss, dass die Explosionen in der Sporthalle von außen, also von den Spezialeinheiten verursacht wurden, nicht aber, wie offiziell behauptet, von den Geiselnehmern in der Sporthalle.
Insgesamt kamen damals auch 186 Kinder im Alter von sieben Monaten bis 17 Jahren ums Leben. Von den Geiselnehmern überlebte angeblich nur einer: Nurpaschi Kulajew. Er wurde gefasst und in der nordossetischen Hauptstadt Wladikawkas vor Gericht gestellt. Im Mai 2006 verurteilte man ihn zu lebenslänglicher Haft.
"116 Leute wurden bei lebendigem Leibe verbrannt, auch mein Sohn. Was ist mir von ihm geblieben? Man hat ihn gewissermaßen in einer einzigen Zeile verpackt - das war die Zeile des medizinischen Gutachtens: Es sei nicht möglich, die genaue Todesursache festzustellen, weil der Körper verkohlt sei. Das ist alles, was unser Staat für mich getan hat."
Die Verkäuferin Sveta Margijewa hat die Geiselnahme in der Schule miterlebt. Von Anfang bis Ende. Ihre einzige Tochter starb in ihren Armen, sie selbst schleppte sich schwer verletzt zur Tür der Sporthalle, jemand zog sie dann ins Freie. Heute ist sie 50 Jahre alt, wirkt mit ihren schlohweißen Haaren zwanzig Jahre älter und kann nicht mehr arbeiten. Wie viele Menschen in Beslan lastet auch sie dem heutigen Premier Putin die Verantwortung für die Tragödie an.
"Von Putin habe ich erwartet, das er die Kinder rettet. Ich habe in der Sporthalle gesessen und die Kinder beruhigt. Putin, habe ich ihnen gesagt, lässt euch nicht im Stich. Er fliegt her und verhandelt. Er sorgt dafür, dass man die Kinder freilässt. Das war eine naive Vorstellung. Putin ist nicht in den Sinn gekommen, die Kinder zu retten. Er hat viele Hunde, die leben besser als die Menschen hier. Wenn sein Hund im Saal gewesen wäre, dann hätte er alles getan, um diesen Hund zu retten. Aber für die Kinder da hat er absolut gar nichts getan."
Sveta Margijewa ist nicht die einzige in Beslan, die Wladimir Putin deshalb hasst. Seit der Geiseltragödie sind auch die Nord-Osseten auf Distanz zu Moskau gegangen. Dabei haben gerade sie sich bisher zuerst als Russen und erst in zweiter Linie als Osseten gefühlt. Denn im Unterschied zu den anderen Völkern des Nordkaukasus sind sie keine Moslems, sondern bekennen sich zum russisch-orthodoxen Glauben.
Die Moskauer Kaukasus-Spezialistin Irina Babitsch, Professorin im Institut für Ethnologie und Anthropologie der Russischen Akademie der Wissenschaften, befürchtet, dass der Kreml auch noch seine letzten Verbündeten im Nordkaukasus, die Osseten, verlieren könnte. Vernachlässige er sie doch sträflich.
"Wir haben dort eine ganze Generation verloren. Das russische Imperium hat sich im 19. Jahrhundert darum bemüht, im Nordkaukasus eine pro russisch gesonnene Elite zu schaffen. Es hat eine kaukasische Intelligenz, eine Art Gebirgs-Intelligenz herangebildet. Das moderne Russland befasst sich mit dieser Frage überhaupt nicht. Deshalb wächst die antirussische Stimmung bei den Völkern des Nordkaukasus in großem Maße."
In Beslan kämpfen die Frauen dafür, dass die Schuldigen an der Tragödie endlich bestraft werden, die Männer schweigen. Frauen hätten es leichter, sagt Ella Kersajewa. Den Männern unterstelle man sofort Sympathien für Terroristen, wenn sie die Politik Moskaus im Nordkaukasus kritisieren. Ella Kersajewa gehörte früher zum Komitee der "Mütter Beslans", das sich im Februar 2005 bildete und heute 200 Mitglieder hat. Doch dann, davon ist sie überzeugt, unterwanderte der Geheimdienst die Gruppe. Sie trat aus und gründete im Dezember 2005 eine neue Nichtregierungsorganisation: das Komitee "Stimme Beslans". Seither sind die Frauen Beslans in zwei gleich große Gruppen gespalten. Ella Kersajewa und ihre Mitstreiterinnen sehen ihre Aufgabe darin, zu ermitteln, was vor fünf Jahren in Beslan geschehen ist.
Ella Kersajewa: "Man sagt uns, dass die Ermittlungen noch nicht beendet sind, es liegen rund 1000 Gesuche zu unterschiedlichen Fragen vor. Fünf Mal sind wir vor Gericht gegangen. Eröffnet uns, wie die Kinder umgekommen sind und wir beruhigen uns. Alle Schuldigen sollten bestraft werden. Doch dann stellte sich heraus: die Feuerwehrleute, die den Brand zu spät löschten, sind nicht schuldig. Die Ärzte, die die Todesursachen nicht gründlich untersuchten, sind nicht schuldig. Die Mitglieder der Krisenstäbe sind nicht schuldig und die Generäle, die den Militäreinsatz leiteten, auch nicht. Daraus kann man nur den einen Schluss ziehen: Die Kinder sollten sterben. Schuldig sind wir, die Eltern, weil wir die Kinder an diesem Tag in die Schule geschickt haben."
Die frühere Cheflaborantin in einem großen Unternehmen hat ihren gut bezahlten Job nach der Geiseltragödie aufgegeben. Sie wollte - so sagt sie - nicht mehr für einen Staat arbeiten, der Krieg gegen Kinder führt.
Seither ernährt sie sich und ihre große Familie von einer kleinen Hofwirtschaft: Viehzucht, Obst- und Gemüseanbau. Ella Kersajewas Anwesen ist nur durch die Eisenbahnschienen von der Schule Nr.1 getrennt. Ab und zu fahren hier Züge aus Moskau vorbei.
Manchmal führt Ella Kersajewa Besucher in die Sporthalle der Schule. Zum ersten Jahrestag der Geiselnahme hat die Stadt ein neues Dach gebaut, die zerstörten Mauern sind mit Eisenträgern gestützt, damit sie nicht zusammenfallen. An den Wänden Kränze aus Plastikblumen, auf dem Boden verstreutes Spielzeug, verkohlte Balken. Ein schlichtes Holzkreuz für Gedenkgottesdienste. Viele Plastikflaschen, mit Wasser gefüllt. Der Durst war schrecklich, den die Kinder erleiden mussten, als die Terroristen ihnen verboten, zu trinken. An den Wänden hängen die Fotos derer, die getötet wurden, mit Ausnahme der erschossenen Terroristen. An der Stirnseite der Halle hat jemand ein riesiges Plakat mit einer Fotomontage über die Geiselnahme geklebt - von oben herab schaut Putin sich das alles an.
Ella Kersajewa: "Wie ein Satan blickt er auf das Massaker, das er angerichtet hat. Das Foto dort drüben zeigt den früheren Direktor der Schule, 40 Jahre hat er hier gearbeitet. Nach der ersten und der zweiten Explosion in der Halle hat er noch gelebt. Er hat viele Kinder aus den Flammen gezogen, auch meine Tochter. 30 Minuten später stand die ganze Halle in Flammen. Von ihm hat man dann nur noch einen Arm gefunden."
Ella Kersajewa und ihre Mitarbeiterinnen haben sich mit Erfolg dafür eingesetzt, dass die Sporthalle als Gedenkstätte erhalten bleibt, obwohl Moskau und auch einige Lehrerinnen der Schule Nr.1 sie gerne abgerissen und an ihre Stelle eine russisch orthodoxe Kapelle gebaut hätten. Sie überzeugten in Moskau kirchliche Würdenträger und Politiker davon, dass es ein Fehler wäre, die Sporthalle als Mahnmal zu entfernen.
"Ich dachte, sie hören nicht auf uns. Dann haben sie es doch getan. Ich versuchte, ihnen zu erklären, dass diese Frage alle aufregt und dass sie selbst das Thema Beslan dann wieder aufkochen. Wenn Sie das nicht wollen, sagte ich, tun Sie friedlich und leise das, worum wir Sie bitten: Konservieren Sie die Sporthalle. Sie sind uns entgegen gekommen."
Weil sie aber mit ihren grundsätzlichen Anliegen in Russland kein Gehör fanden, wandten sich die Mitglieder der "Stimme Beslans" an den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof. Im Juni 2007 reichten sie Klage gegen den russischen Staat ein, ein halbes Jahr später schickten sie Dokumente mit einem Gesamtgewicht von 43 Kilogramm nach Straßburg. Darunter sind Hunderte von Augenzeugenberichten, Aussagen von Geiseln sowie Stenogramme der Gerichtsverfahren, die es in Russland zu Beslan seit 2005 gegeben hat. Der Vorwurf: der Staat habe seine Bürger nicht vor terroristischen Anschlägen geschützt, er habe die Rechte der Geschädigten verletzt und die Umstände der Geiselnahme nicht objektiv ermittelt. Auch Emilia Bzarowa gehört, wie 200 andere, zu den Mitklägerinnen.
"Wir wollen erreichen, dass man uns international anerkennt und dass der russische Staat seine Schuld an der Geiseltragödie zugibt. Wir bestehen darauf, dass wir den Status von Geschädigten erhalten und damit verbundene Vergünstigungen. Es gibt Mütter, die nicht mehr in der Lage sind, zu arbeiten. Denn wer seinen Mann und seine Kinder verloren hat, für den ist es schwer, zu arbeiten, für den hat das Leben keinen Sinn mehr."
Seit zwei Jahren warten die Frauen auf eine Entscheidung in Straßburg. Noch haben sie die Hoffnung nicht aufgegeben.
Emilia Bzarowa wäscht ab. Sorgfältig hält sie jeden Teller, jede Tasse unter fließendes Wasser und stellt sie dann in das Fach über der Spüle zum Abtropfen. Doch ihre Gedanken sind, wie so oft, nicht bei der Sache. Sie kann sich über die geräumige helle Wohnung mit den neuen Möbeln nicht wirklich freuen, die man ihr vor einem Jahr zugewiesen hat. Die Wohnung liegt im vierten Stock eines der wenigen modernen Häuser in Beslan. Die Bewohner der 30 Appartements vereint die Trauer: Sie alle waren Geiseln oder sind Angehörige jener Geiseln, die vor fünf Jahren von Terroristen in der Schule Nr.1 festgehalten wurden. Emilia Bzarowa ist heute 38 Jahre alt. Sie arbeitet in der Verwaltung des neuen Gesundheitszentrums von Beslan. Die kleine lebhafte Frau mit dem ernsten Blick hat damals ihren jüngsten Sohn verloren. Der älteste konnte gerettet werden.
"Meinen ältesten Sohn habe ich selbst am 3. September gefunden und in einem Erste-Hilfe-Auto weggebracht. Als die Ärzte mir dann sagten, dass sein Leben nicht in Gefahr ist, habe ich ihn tagelang völlig vergessen. Meinen jüngsten Sohn habe ich einen Monat gesucht, bin von Krankenhaus zu Krankenhaus gegangen, dann ein zweites Mal. Ich dachte, er ist vielleicht so schwer verwundet, dass ich ihn nicht erkenne. Dann habe ich Blut abgegeben für die DNA-Probe und man hat mir einen Sarg geschickt."
Das Grab ihres Sohnes Aslan liegt auf einem weiten Gräberfeld aus rotem Marmor. An schönen Tagen glitzert der Marmor in der Sonne. Hier sind die meisten der 334 Opfer bestattet. Den Gedenkfriedhof hat man an der Überlandstraße angelegt, die den Flughafen mit der Hauptstadt der kleinen Kaukasusrepublik Nordossetien verbindet.
Jedes Wochenende besucht Emilia Bzarowa ihren Sohn Aslan in der so genannten Stadt der Engel. So heißt der Friedhof wegen seiner vielen Kindergräber. Sie steckt einen Strauß Plastikblumen in eine Glasvase, die sie sorgfältig auf die große Grabplatte geklebt hat. Damit der Wind sie nicht umweht. Dann wischt sie den staubigen Marmor mit einem nassen Tuch ab. Das ist alles, was sie für ihren Sohn tun kann.
In der Mitte der Platte ist ein kleines Beet eingelassen. Dort hat sie Veilchen gepflanzt, echte. Den Grabstein schmückt ein farbiges Emaille-Foto ihres Sohnes. Aslan ist nur zehn Jahre alt geworden. Und er ist, wie alle, die hier liegen, am 3. September 2004 ums Leben gekommen.
"Ich gehe oft auf den Friedhof, ich habe meinen Jungen verloren. Jeder Mutter ist ihr Kind teuer - es kostet die ganze Welt. Was hat sich verändert? Der Sinn meines Lebens besteht aus diesen Besuchen. Alle Feiertage verbringe ich hier."
Neben dem Eingang des Friedhofs steht ein Denkmal eines ossetischen Künstlers. Es besteht aus rotbraunem Kupfer und stellt einen Baum dar, den Baum der Schmerzen. Den Baumstamm bildet eine Gruppe weinender Frauen, die Äste sind hoch gestreckte Arme, von denen aus viele kleine Kinder gen Himmel fliegen. Das Denkmal wurde zum ersten Jahrestag der Geiseltragödie in der Schule von Beslan enthüllt. Tausende Menschen reisten an, nur der damalige Präsident Putin fehlte.
Vom Friedhof aus fährt man mit dem Auto fünf Minuten bis Beslan. Nicht weit vom Stadtzentrum wohnt die Lehrerin Djulietta Gutijewa. Mit ihren Eltern und zwei Töchtern lebt die 46 Jahre alte Frau in einem alten kaukasischen Haus. Das Grundstück ist zur Straße hin mit einem Holzzaun abgeschirmt. Der geräumige Innenhof schützt vor der Sommerhitze, im Garten wachsen Kartoffeln, Tomaten und Kräuter. Djulietta Gutijewa serviert starken kaukasischen Mokka in winzigen Tassen. Es fällt ihr schwer, zu reden, weil die Erinnerungen sie leicht aus der Fassung bringen.
"Der Friedhof ist gut angelegt, da sind sie alle zusammen. Aber was wird aus der Schule? Das bewegt heute in Beslan jeden. Fünf Jahre lang entscheidet man diese Frage schon. Die Meinung der Lehrer ist, dass man dort eine Kapelle bauen sollte."
Djulietta Gutijewa unterrichtete an der Schule Nr.1 die ossetische Sprache. Am 1. September feierte sie mit ihren Kollegen und Kolleginnen, den Schulkindern und deren Angehörigen den Beginn des neuen Schuljahres, den Tag des Wissens. Auch ihre damals 15 Jahre alte Tochter Kristina war dabei. Als 32 maskierte, schwer bewaffnete, vor allem tschetschenische und inguschische Terroristen die Schule überfielen, wurden Mutter und Tochter, zusammen mit über tausend anderen, als Geiseln genommen. Man trieb sie in die Schulsporthalle. Die beiden überlebten. Als alles vorbei war, wollte Djulietta ihren Beruf aufgeben. Dann aber blieb sie doch - ihrer Klasse zuliebe.
"Man hat für uns eine neue Schule gebaut, meine Schüler waren in der 10. Klasse, als wir dorthin umgezogen sind. In meiner Klasse gab es 29 Schüler, von denen sind 7 umgekommen. 20 sind dann in die Schule zurückgekehrt. Dafür bin ich ihnen sehr dankbar, denn das zeugt davon, dass sie ihrer Lehrerin vertrauen. Und dass die Eltern uns vertrauen."
Die neue Schule mit ihren über 800 Kindern liegt schräg gegenüber der alten auf der anderen Seite der Eisenbahnschienen.
"Wenn Sie in die Schule gehen, sehen Sie am Eingang drei Wachleute und drinnen sind auch noch welche. Wir haben einen speziellen Ausweis mit Fotos, die Schüler haben auch so einen. Und außerdem überprüft man noch die Schulmappen. Die Schule wird bewacht."
Djulietta Gutijewa hat immer noch viele Fragen an die politischen Verantwortlichen, auch fünf Jahre nach der Geiseltragödie. So versteht sie bis heute nicht, weshalb gerade ihre Schule von den Terroristen ausgewählt wurde, weshalb niemand die Terroristen aufgehalten hat und weshalb die Schule am 1. September nicht, wie in vergangenen Jahren, von der Polizei bewacht worden ist.
Weil so wenig aufgeklärt wurde, kursieren in Beslan Gerüchte. So behaupten einige, die Schule sei in jenem Sommer von unbekannten bärtigen Männern renoviert worden. Die sollen Waffen ins Gebäude geschmuggelt und die Geiselnahme vorbereitet haben. Angeblich hat die Schuldirektorin diese Männer mit der Renovierung beauftragt. Böse Zungen sagen, die örtliche Polizei sei womöglich von den Geiselnehmern bestochen worden und habe deshalb die Wachen aus der Schule abgezogen. Auch die genaue Anzahl der Geiselnehmer bleibt unklar. In Beslan vermutet man, dass es nicht 32, sondern bis zu 70 Terroristen waren, von denen dann die Hälfte entkommen sein soll.
"Wahrscheinlich vergeht sehr viel Zeit, bis wir die Wahrheit erfahren. Nach dem Terroranschlag haben wir all unsere Anstrengungen darauf verwandt, dass die Kinder wieder zu uns in die Schule gekommen sind. Sie wollten nicht mehr zur Schule gehen und hatten sehr große Angst. Jedes Geräusch, das Schüssen ähnelte, hat sie aus der Fassung gebracht. Sie haben nach den Eltern gerufen und sind dann sofort nach Hause gelaufen. Es war sehr schwer, sie wieder zum Schulbesuch zu bewegen. Dieser Schrecken ist geblieben, obwohl schon fünf Jahre vergangen sind. Das behält man fürs ganze Leben."
Zehn Minuten Fußweg von Djulietta Gutijewa entfernt wohnt Emilia Bzarowa. Als die Tragödie geschah, arbeitete sie in der Kantine des Moskauer Flughafens Scheremetjewo. Die allein erziehende Mutter von zwei schulpflichtigen Söhnen hatte in ihrer Heimatstadt Beslan keinen Job gefunden. Ihre Söhne im Alter von 10 und 12 Jahren blieben bei Tante und Großmutter. Sie gingen auf die Schule Nr.1. Bekannte riefen Emilia am 1. September in Moskau an, als sie aus dem Fernsehen von der Geiselnahme erfuhren. Einen Tag später stand Emilia mit vielen anderen Angehörigen vor der weiträumig abgesperrten Schule. Zuerst hoffte sie auf eine friedliche Lösung des Dramas, glaubte den Worten des damaligen Präsidenten Putin. Er hatte im Fernsehen versichert, die Hauptaufgabe sei natürlich, Leben und Gesundheit der Geiseln zu retten.
Doch schon wenig später mussten Emilia Bzarowa und die anderen Mütter mit ansehen, wie ihre Kinder starben.
Denn das Ziel war nicht, die Geiseln zu retten, sondern die Terroristen zu vernichten. Dieses Ziel hat der Staat erreicht. An die Kinder hat niemand gedacht.
Die Schule wurde von Spezialeinheiten des Geheimdienstes FSB mit Panzern und Granatenwerfern gestürmt, kurz nachdem es in der Sporthalle zwei Explosionen gegeben hatte. Bis heute ist nicht klar, wie es zu diesen Explosionen kam. Der Moskauer Abgeordnete Jurij Saweljew, Mitglied einer parlamentarischen Untersuchungs-Kommission zu Beslan, hat inzwischen ein alternatives Gutachten vorgelegt. Darin kommt Saweljew zum Schluss, dass die Explosionen in der Sporthalle von außen, also von den Spezialeinheiten verursacht wurden, nicht aber, wie offiziell behauptet, von den Geiselnehmern in der Sporthalle.
Insgesamt kamen damals auch 186 Kinder im Alter von sieben Monaten bis 17 Jahren ums Leben. Von den Geiselnehmern überlebte angeblich nur einer: Nurpaschi Kulajew. Er wurde gefasst und in der nordossetischen Hauptstadt Wladikawkas vor Gericht gestellt. Im Mai 2006 verurteilte man ihn zu lebenslänglicher Haft.
"116 Leute wurden bei lebendigem Leibe verbrannt, auch mein Sohn. Was ist mir von ihm geblieben? Man hat ihn gewissermaßen in einer einzigen Zeile verpackt - das war die Zeile des medizinischen Gutachtens: Es sei nicht möglich, die genaue Todesursache festzustellen, weil der Körper verkohlt sei. Das ist alles, was unser Staat für mich getan hat."
Die Verkäuferin Sveta Margijewa hat die Geiselnahme in der Schule miterlebt. Von Anfang bis Ende. Ihre einzige Tochter starb in ihren Armen, sie selbst schleppte sich schwer verletzt zur Tür der Sporthalle, jemand zog sie dann ins Freie. Heute ist sie 50 Jahre alt, wirkt mit ihren schlohweißen Haaren zwanzig Jahre älter und kann nicht mehr arbeiten. Wie viele Menschen in Beslan lastet auch sie dem heutigen Premier Putin die Verantwortung für die Tragödie an.
"Von Putin habe ich erwartet, das er die Kinder rettet. Ich habe in der Sporthalle gesessen und die Kinder beruhigt. Putin, habe ich ihnen gesagt, lässt euch nicht im Stich. Er fliegt her und verhandelt. Er sorgt dafür, dass man die Kinder freilässt. Das war eine naive Vorstellung. Putin ist nicht in den Sinn gekommen, die Kinder zu retten. Er hat viele Hunde, die leben besser als die Menschen hier. Wenn sein Hund im Saal gewesen wäre, dann hätte er alles getan, um diesen Hund zu retten. Aber für die Kinder da hat er absolut gar nichts getan."
Sveta Margijewa ist nicht die einzige in Beslan, die Wladimir Putin deshalb hasst. Seit der Geiseltragödie sind auch die Nord-Osseten auf Distanz zu Moskau gegangen. Dabei haben gerade sie sich bisher zuerst als Russen und erst in zweiter Linie als Osseten gefühlt. Denn im Unterschied zu den anderen Völkern des Nordkaukasus sind sie keine Moslems, sondern bekennen sich zum russisch-orthodoxen Glauben.
Die Moskauer Kaukasus-Spezialistin Irina Babitsch, Professorin im Institut für Ethnologie und Anthropologie der Russischen Akademie der Wissenschaften, befürchtet, dass der Kreml auch noch seine letzten Verbündeten im Nordkaukasus, die Osseten, verlieren könnte. Vernachlässige er sie doch sträflich.
"Wir haben dort eine ganze Generation verloren. Das russische Imperium hat sich im 19. Jahrhundert darum bemüht, im Nordkaukasus eine pro russisch gesonnene Elite zu schaffen. Es hat eine kaukasische Intelligenz, eine Art Gebirgs-Intelligenz herangebildet. Das moderne Russland befasst sich mit dieser Frage überhaupt nicht. Deshalb wächst die antirussische Stimmung bei den Völkern des Nordkaukasus in großem Maße."
In Beslan kämpfen die Frauen dafür, dass die Schuldigen an der Tragödie endlich bestraft werden, die Männer schweigen. Frauen hätten es leichter, sagt Ella Kersajewa. Den Männern unterstelle man sofort Sympathien für Terroristen, wenn sie die Politik Moskaus im Nordkaukasus kritisieren. Ella Kersajewa gehörte früher zum Komitee der "Mütter Beslans", das sich im Februar 2005 bildete und heute 200 Mitglieder hat. Doch dann, davon ist sie überzeugt, unterwanderte der Geheimdienst die Gruppe. Sie trat aus und gründete im Dezember 2005 eine neue Nichtregierungsorganisation: das Komitee "Stimme Beslans". Seither sind die Frauen Beslans in zwei gleich große Gruppen gespalten. Ella Kersajewa und ihre Mitstreiterinnen sehen ihre Aufgabe darin, zu ermitteln, was vor fünf Jahren in Beslan geschehen ist.
Ella Kersajewa: "Man sagt uns, dass die Ermittlungen noch nicht beendet sind, es liegen rund 1000 Gesuche zu unterschiedlichen Fragen vor. Fünf Mal sind wir vor Gericht gegangen. Eröffnet uns, wie die Kinder umgekommen sind und wir beruhigen uns. Alle Schuldigen sollten bestraft werden. Doch dann stellte sich heraus: die Feuerwehrleute, die den Brand zu spät löschten, sind nicht schuldig. Die Ärzte, die die Todesursachen nicht gründlich untersuchten, sind nicht schuldig. Die Mitglieder der Krisenstäbe sind nicht schuldig und die Generäle, die den Militäreinsatz leiteten, auch nicht. Daraus kann man nur den einen Schluss ziehen: Die Kinder sollten sterben. Schuldig sind wir, die Eltern, weil wir die Kinder an diesem Tag in die Schule geschickt haben."
Die frühere Cheflaborantin in einem großen Unternehmen hat ihren gut bezahlten Job nach der Geiseltragödie aufgegeben. Sie wollte - so sagt sie - nicht mehr für einen Staat arbeiten, der Krieg gegen Kinder führt.
Seither ernährt sie sich und ihre große Familie von einer kleinen Hofwirtschaft: Viehzucht, Obst- und Gemüseanbau. Ella Kersajewas Anwesen ist nur durch die Eisenbahnschienen von der Schule Nr.1 getrennt. Ab und zu fahren hier Züge aus Moskau vorbei.
Manchmal führt Ella Kersajewa Besucher in die Sporthalle der Schule. Zum ersten Jahrestag der Geiselnahme hat die Stadt ein neues Dach gebaut, die zerstörten Mauern sind mit Eisenträgern gestützt, damit sie nicht zusammenfallen. An den Wänden Kränze aus Plastikblumen, auf dem Boden verstreutes Spielzeug, verkohlte Balken. Ein schlichtes Holzkreuz für Gedenkgottesdienste. Viele Plastikflaschen, mit Wasser gefüllt. Der Durst war schrecklich, den die Kinder erleiden mussten, als die Terroristen ihnen verboten, zu trinken. An den Wänden hängen die Fotos derer, die getötet wurden, mit Ausnahme der erschossenen Terroristen. An der Stirnseite der Halle hat jemand ein riesiges Plakat mit einer Fotomontage über die Geiselnahme geklebt - von oben herab schaut Putin sich das alles an.
Ella Kersajewa: "Wie ein Satan blickt er auf das Massaker, das er angerichtet hat. Das Foto dort drüben zeigt den früheren Direktor der Schule, 40 Jahre hat er hier gearbeitet. Nach der ersten und der zweiten Explosion in der Halle hat er noch gelebt. Er hat viele Kinder aus den Flammen gezogen, auch meine Tochter. 30 Minuten später stand die ganze Halle in Flammen. Von ihm hat man dann nur noch einen Arm gefunden."
Ella Kersajewa und ihre Mitarbeiterinnen haben sich mit Erfolg dafür eingesetzt, dass die Sporthalle als Gedenkstätte erhalten bleibt, obwohl Moskau und auch einige Lehrerinnen der Schule Nr.1 sie gerne abgerissen und an ihre Stelle eine russisch orthodoxe Kapelle gebaut hätten. Sie überzeugten in Moskau kirchliche Würdenträger und Politiker davon, dass es ein Fehler wäre, die Sporthalle als Mahnmal zu entfernen.
"Ich dachte, sie hören nicht auf uns. Dann haben sie es doch getan. Ich versuchte, ihnen zu erklären, dass diese Frage alle aufregt und dass sie selbst das Thema Beslan dann wieder aufkochen. Wenn Sie das nicht wollen, sagte ich, tun Sie friedlich und leise das, worum wir Sie bitten: Konservieren Sie die Sporthalle. Sie sind uns entgegen gekommen."
Weil sie aber mit ihren grundsätzlichen Anliegen in Russland kein Gehör fanden, wandten sich die Mitglieder der "Stimme Beslans" an den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof. Im Juni 2007 reichten sie Klage gegen den russischen Staat ein, ein halbes Jahr später schickten sie Dokumente mit einem Gesamtgewicht von 43 Kilogramm nach Straßburg. Darunter sind Hunderte von Augenzeugenberichten, Aussagen von Geiseln sowie Stenogramme der Gerichtsverfahren, die es in Russland zu Beslan seit 2005 gegeben hat. Der Vorwurf: der Staat habe seine Bürger nicht vor terroristischen Anschlägen geschützt, er habe die Rechte der Geschädigten verletzt und die Umstände der Geiselnahme nicht objektiv ermittelt. Auch Emilia Bzarowa gehört, wie 200 andere, zu den Mitklägerinnen.
"Wir wollen erreichen, dass man uns international anerkennt und dass der russische Staat seine Schuld an der Geiseltragödie zugibt. Wir bestehen darauf, dass wir den Status von Geschädigten erhalten und damit verbundene Vergünstigungen. Es gibt Mütter, die nicht mehr in der Lage sind, zu arbeiten. Denn wer seinen Mann und seine Kinder verloren hat, für den ist es schwer, zu arbeiten, für den hat das Leben keinen Sinn mehr."
Seit zwei Jahren warten die Frauen auf eine Entscheidung in Straßburg. Noch haben sie die Hoffnung nicht aufgegeben.