Die deutsche Angst vor dem Erfolg
09:16 Minuten
Angela Merkels "Wir schaffen das" sollte das Land vereinen, spaltete es aber langfristig. Jagoda Marinić sieht die deutsche Reaktion auf die Migrationsbewegungen 2015 dennoch als Erfolgsgeschichte, von der viel zu wenig erzählt wird.
Bewunderung bei Studenten, Rührung bei Kindern von Exilanten, großes Interesse am deutschen Kurs in der Migrationspolitik: Das waren ehemals die Reaktionen in den USA auf Angela Merkels berühmten Ausspruch "Wir schaffen das" mitten in den starken Migrationsbewegungen im Jahr 2015.
Begeisterung im Einwandererland USA
So berichtet es die Schriftstellerin Jagoda Marinić. Sie befand sich damals in den USA und hat die dortige Anerkennung der merkelschen Migrationspolitik miterlebt:
"Das war mit Sicherheit eine meiner beeindruckendsten Phasen in den USA. Die Begeisterung, die mir da entgegenschlug, das kannte ich überhaupt nicht. Plötzlich war Deutschland das Ziel Nummer eins für die Träume der Menschen. Ich glaube, da wäre ein ganz großer Paradigmenwechsel möglich gewesen."
Man habe Deutschland in den USA viel Bewunderung entgegengebracht, sagt Marinić. Auf dem Campus hätten Jugendliche ihre Freude darüber ausgedrückt, dass Deutschland den amerikanischen Traum lebe und Menschen eine Chance gebe. Auch in New York seien viele beeindruckt gewesen, darunter auch Ältere oder Amerikaner der zweiten oder dritten Generation mit jüdischen Vorfahren, die vor den Nazis aus Deutschland geflohen waren.
Politik als humanitäre Leistung
Marinić sagt, dass die Bewunderung dort nach wie vor anhalte - auch wenn das in Deutschland selbst mittlerweile in weiten Teilen anders gesehen werde. Die deutsche Gesellschaft sei in der Migrationsfrage schon immer sehr polarisiert gewesen. Studien des Soziologen Wilhelm Heitmeyer hätten rechte Positionen bis in die Mitte der Gesellschaft hinein bestätigt.
Merkel habe mit ihrer Politik eine humanitäre Leistung vollbracht, betont die Schriftstellerin. Sie habe eine deutsche Haltung innerhalb Europas mit dem Ziel eingenommen, daraus eine europäische Haltung zu schaffen. Das sei aber nicht gelungen:
"Wir haben jetzt die Bilder aus dem Flüchtlingslager Moria, in Zeiten von Covid, wo man sieht, was uns alles nicht gelungen ist. Und man hat fast das Gefühl: Es gab eine zu große Gruppe, die gesagt hat, wir wollen das nicht schaffen! Die hat sich hinter einer Partei versammelt, die diese Politik bis heute vorantreibt, damit in den Bundestag und in verschiedene Landesparlamente eingezogen ist. Ja, das Land ist gespalten - es ist aber eher die Offenbarung einer Spaltung, die ohnehin schon gekocht hat."
Viele erfolgreiche Integrationsgeschichten
Es gebe viele negative Narrative in Deutschland, sagt Marinić. "Wenn wir eines nicht können, dann ist es, Erfolgsgeschichten groß zu erzählen." Wenn man sich die Zahlen ansehe, habe Deutschland es nämlich geschafft. "Jetzt, nach fünf Jahren, ist jeder zweite Mensch, der damals geflüchtet ist, in einer Vollzeitstelle tätig und hat eine eigene Wohnung. Wir haben hier sehr viele Menschen tatsächlich integriert. Das ist längst Realität geworden. Aber da ist diese unglaubliche Angst vor der eigenen Erfolgsgeschichte."
Die früher Gastarbeiter genannten Einwanderer, zu denen auch ihre Eltern zählten, hätten ehemals auch viele Erfolgsgeschichten geschrieben, die nicht erzählt worden seien, so die Autorin:
"Ich fände es fast tragisch, wenn wir jetzt die Erfolge von 2015 auch wieder nicht erzählen aus Angst vor irgendwelchen Instrumentalisierungen von rechts oder aus Angst vor diesem Thema an sich. Ich wünsche mir noch mal so eine Durchschlagskraft, wie sie für Momente spürbar war in 2015."
(rja)