Autorin: Jenni Roth
Sprecherin: Ilka Teichmüller
Technik: Jan Fraune
Regie: Giuseppe Maio
Redakteur: Martin Hartwig
Euphorie, Ernüchterung und Pragmatismus
29:53 Minuten
Freiwillige, Kommunen und Hilfsorganisationen improvisierten: Von einer deutschen Willkommenskultur war die Rede, als die Kanzlerin den Satz "Wir schaffen das" sagte. Haben wir es geschafft? Eine durchwachsene Zwischenbilanz nach fünf Jahren.
"Jetzt gehen wir mal drumrum", sagt Dorothee Stäbler. "Die Container hat das Landratsamt, den Rest haben wir angelegt mit der Bepflanzung. Das war mal die Kräuterschnecke, sieht man noch."
Weil der Stadt, eine Kleinstadt 30 Kilometer westlich von Stuttgart, an der Grenze zum Schwarzwald.
"Da ist ein Stängel, aber nicht viel übrig. Die haben da einfach keinen Sinn dafür. Gut, ich bin sehr strukturiert, ich bin ja am Anfang immer so motiviert – Apfelbäume haben wir hier gepflanzt –, dass ich jemand was weitergeben kann, oder dass er was von mir übernimmt. Das habe ich aufgegeben, grundsätzlich, nicht nur bei Flüchtlingen."
Die Unternehmerin Dorothee Stäbler dreht eine Runde um die Container, die das Landratsamt hier auf dem Firmengrundstück im Industriegebiet aufgestellt hat.
"Schön angelegt alles, aber wenn keiner was draus macht", sagt sie. "Aber es hat keiner was gestohlen, ich kann echt in der Beziehung nix Negatives sagen. In der Werkstatt haben wir Tische und Bänke geschreinert."
"Das war was ganz anderes"
Die Firma Stäbler kennt in Weil der Stadt jeder. Ein Familienbetrieb in vierter Generation. Auf etwa 30 Baustellen ist er im Jahr unterwegs: im Erdbau, im Rohbau, beim Abbruch.
"Wir haben hier ein Wohnheim für unsere Leute, das hat mein Schwiegervater gebaut, in den 80ern, als er noch Italiener und Türken und Jugoslawen und so weiter hergeholt hat. Das war was ganz anderes."
Damit meint die Unternehmerin: Was ganz anderes als die Flüchtlinge, die 2015 kamen und danach.
Am 4. September 2015 öffneten Deutschland und Österreich ihre Grenzen für Tausende Geflüchtete, die in Ungarn festsaßen. Fünf Tage zuvor hatte Angela Merkel die berühmt gewordene Losung ausgegeben: "Wir schaffen das!"
Die deutsche Bevölkerung nimmt die Aufgabe an – in großen Teilen zumindest. Viele helfen, wo es geht. In München beklatschen Tausende, Zehntausende Deutsche die Ankommenden. Die Bilder gehen um die Welt. Am Hauptbahnhof werden Willkommen-Schilder hochgehalten, Freiwillige versorgen die Geflüchteten. Genau wie in Berlin, oder in Bielefeld.
Und in Weil der Stadt, wo sich auch Dorothee Stäbler ehrenamtlich engagiert: "Ich fand das auch toll, die jungen Familien mit den Kindern. Ich habe mich dann intensiv bemüht, mit den Leuten in Kontakt zu kommen. Ich habe gebacken, Ostermalkurse gemacht, Sportgruppe. Ich habe dann mal ein Bier getrunken und bin von der Security fast rausgeschmissen worden. Wusste ich nicht, dass man das nicht mit reinbringen darf. Ich bin mit denen Joggen gegangen. Dann gab es eine Fußballgruppe. Die haben auch fleißig geübt, die haben Trikots gekriegt von uns. Also wir haben wirklich alles versucht."
"Wir haben ein Riesenengagement gehabt"
Mahmoud Qasem ist der Integrationsbeauftragte der Stadt Weil der Stadt. "Wir haben ein Riesenengagement gehabt", erzählt er. "Der Arbeitskreis Asyl, am Anfang, wussten die nicht, wohin mit den Leuten, da kamen Tausende Leute, die sich engagieren wollten."
Er sitzt in seinem kleinen aufgeräumten Büro, neben den Schaltern des Bürgeramts im Stadtzentrum. Das Haus ist auch eine Art Schaltzentrale für die Integrationsarbeit: Schließlich findet Integration nicht im Reichstag statt oder im Bundesgesetzblatt, sondern in den Städten, vor Ort. Mit dem "Wir" aus "Wir schaffen das" waren und sind neben Ehrenamtlichen vor allem auch die Kommunen gemeint.
"Wir schaffen das!" - und fünf Jahre später? Haben wir es geschafft? Ein klares Ja oder Nein wäre vermessen. Man könnte sagen: Viel ist geschafft. Viel bleibt noch zu tun. Der Versuch einer Zwischenbilanz.
"Das war wirklich eine stürmische Zeit", sagt Anne Krätschmer. "Und dann kamen Busladungen Menschen, mit ihren Kindern, große Familien, Afghanen mit traditioneller Kleidung. Es war wie im Film. Die Personalien aufzunehmen dauerte teils Stunden, weil keine Ausweise da waren, weil Papiere in Landeserstaufnahmeeinrichtung waren, wir der Sprache nicht mächtig waren, wir mit Bildkärtchen, Händen und Füßen gearbeitet haben."
Ernüchterung nach der Euphorie
Anne Krätschmer, 51 Jahre alt, Juristin und Sozialpädagogin, nahm nach Merkels Ansprache einen Job als Integrationsmanagerin an, als "eierlegende Wollmilchsau", wie sie sagt. Krätschmer erzählt von der Euphorie, der Aufbruchsstimmung, von den vielen Ehrenamtlichen, die Tag für Tag und bis in die Nacht mit im Einsatz waren. Sie kümmerte sich um Deutschkurse, Arztbesuche, um einen geregelten Tagesablauf, das Andocken an Paten.
Aber nach den ersten euphorischen Wochen folgte die Ernüchterung: "Ich weiß auch nicht, welche Erwartungen da von Schleusern und von der heimischen Presse verbreitet wurden, ob sie wirklich dachten, sie kriegen hier alle Wohnung und Auto. Ist natürlich frustrierend, wenn sie hier ankommen und sie kommen in ein Flüchtlingscamp mit 100 anderen Leuten und sie haben Gemeinschaftsküche und Gemeinschaftsbad. Da lagen schon oft die Nerven blank."
In der Frage ob "geschafft" oder "nicht geschafft" sind Wohnungen tatsächlich eines der Hauptprobleme – zumal die Geflüchteten auf einen ohnehin schon überhitzten Wohnungsmarkt treffen. Und dort haben sie oft schlechte Karten. Weil sie wenig Geld verdienen, keine Arbeit haben – oder den falschen Namen.
"Viele Flüchtlinge, die seit drei, vier Jahren hier sind, kommen heulend hierher, und sagen, ich geh zu Wohnungsbesichtigung, die sehen, ich bin Flüchtling und ich habe verloren", erzählt Mahmoud Qasem. "Vor allem, wenn sie noch gebrochenes Deutsch sprechen, kommen die nicht so gut rüber. Da nimmt der Vermieter lieber Familie Müller, Meier, Schulze. Jetzt sind wir auch noch im Großraum Stuttgart, Wohnungssuche ist sowieso nicht einfach. Dann bewegen wir uns in Mietpreisen, wo das Jobcenter sagt, für die Wohnung zahle ich keine 700 Euro Kaltmiete. Dann haben viele Wohnsitzauflage, sind gezwungen in ersten drei Jahren eine Wohnung in Weil der Stadt zu finden. Mittlerweile hat das Landratsamt das gelockert, aber nur die wenigsten können sich deutschlandweit niederlassen."
Qasem erzählt von dem Problem, von jetzt auf gleich 250 bis 300 Personen unterbringen zu müssen: "Hier war es so, dass wir die zwei Unterkünfte hatten, die aber hinten und vorn nicht gereicht haben. Wir haben in Zeitungen geschaltet, ob Bürger bereit sind, uns Wohnungen zu vermieten. Da ist die Stadt als Mieterin aufgetreten, um den Bürgern auch eine gewisse Sicherheit zu geben und zu sagen, wir haften auch für Schäden, und so weiter."
Hier kam auch die Firma Stäbler ins Spiel. Sie vermietete erst dem Land, dann der Stadt das leere Grundstück auf dem Firmengelände. Seither stehen dort die Wohncontainer.
"Dann hatten wir noch ein altes Haus von der Oma, eine Villa von 400 Quadratmetern, die hat das Land auch angemietet", erzählt Dorothee Stäbler. "Das ist in einem schönen Wohngebiet. Da haben ja viele hier gemeint: Aja, die machen jetzt das große Geld. So ein Aberglaube! Die Leute meinten, man kriegt pro Person so und so viel. Das gab es nie. Zumindest bei mir nicht. Ich habe mit dem Landratsamt von vorne herein einfach einen Mietpreis ausgemacht, ob die zehn Leute reintun oder 50, das war mir egal. Jetzt rechnen Sie mal, 40 Leute waren immer mindestens da oben drin, das ist Peanuts. So gierig wie da manche eine Bude für 600, 700 Euro vermieten."
Die Wohnsituation hat sich beruhigt
"Da waren Angebote mit dabei, das ist jenseits von Gut und Böse", erinnert sich Mahmoud Qasem. "Was die verlangen für wirkliche Bruchbuden, weil die gesagt haben, die Stadt braucht es jetzt, versuche ich es mal."
Allerdings hat sich die Lage etwas beruhigt, sagt der Integrationsbeauftragte Qasem. Heute gibt es sechs Gemeinschaftsunterkünfte statt wie anfangs einer. Einige der Wohnungen, die die Stadt damals anmietete, konnten gekündigt werden. Aber geschafft habe man es trotzdem nicht, findet Qasem. Noch nicht.
"Ich habe es geschafft, wenn ich keine Leute mehr in Containern unterbringen muss", sagt er. "Die Herausforderung ist eigentlich nicht, die Leute unterzubringen. Das ist der erste Schritt. Sondern: Wie kriegt man die Leute wieder raus, wie kriegst du die integriert, in die Gesellschaft, auf die eigenen Beine gestellt. Da ist der Landkreis raus, da ist die Regierung raus, das ist ein lokales Problem."
Immerhin: Inzwischen sind die Kommunen gut aufgestellt, sagt Petra Bendel, Vorsitzendes des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration, ein unabhängiges, interdisziplinäres Gremium, das die Politik berät und aktuelle Entwicklungen bewertet.
"Die Studie 'Zwei Welten - Flüchtlingsintegration in Stadt und Land' hat deutlich gemacht, dass es die Kommunen sind, die es geschafft haben", sagt sie. "Die Zuwanderung der Jahre 2015/16 hat in fast allen Kommunen dafür gesorgt, dass diese sich wesentlich breiter und strategischer auf Migration eingestellt haben. Hier ist die Frage, wie nachhaltig ist die Kommunalpolitik? Viele haben geklagt, dass die Integrationspolitik immer noch von Projektgeldern abhängig ist, von Bundes- und Landesförderungen, die berühmte 'Projektitis'. Hier muss man gucken, wenn die Coronakrise die kommunalen Haushalte noch stärker belastet, und andere Förderprogramme auslaufen, dass der Druck zunimmt."
"Versucht, die Leute in Jobs zu integrieren"
Dorothee Stäbler ist auf dem Weg zu Rahav. Eine Art Patenkind, mit dem sie bis heute Kontakt hält. Sie feiern zusammen Weihnachten, und im Sommer schwimmt Rahav bei ihr im Garten im Pool. Rahav, acht Jahre alt, aus dem Irak, wohnt mit ihrer kleinen Schwester und den Eltern am Ortseingang.
Die Wohnung in einem kleinen Haus hat Dorothee Stäbler für sie organisiert. Rahav dreht an ihrem dicken geflochtenen Zopf, sie hat ein einnehmendes Lachen. Erzählt von der Schule, in die sie jetzt - coronabedingt - nur stundenweise geht.
Dorothee Stäbler: "Wo ist der Papa?"
Rahav: "Der Papa hat heute den Garten gemacht. Dann hat ihn jemand angerufen. Ach, der Papa muss alles machen, hat ganz viel Arbeit."
Dorothee Stäbler: "Der Vater ist halt so ein Charmeur. Die Frauen bei der Stadt hat er immer um den Finger gewickelt."
Rahav: "Der Papa hat heute den Garten gemacht. Dann hat ihn jemand angerufen. Ach, der Papa muss alles machen, hat ganz viel Arbeit."
Dorothee Stäbler: "Der Vater ist halt so ein Charmeur. Die Frauen bei der Stadt hat er immer um den Finger gewickelt."
Rasenmähen, entrümpeln, renovieren: Hilfsjobs bekommen Menschen wie Rahavs Vater immer wieder, etwas Festes, Dauerhaftes – eher nicht.
"Da haben wir versucht, die Leute in Jobs zu integrieren", sagt Dorothee Stäbler. "Da habe ich echt einen Frust gekriegt. So wie es am Anfang geheißen hat, gehobene Ausbildung oder Schulabschluss, das war bei fast allen nicht der Fall."
Nur etwa 16 Prozent der Geflüchteten haben bei ihrer Ankunft einen beruflichen oder akademischen Abschluss.
"Es waren oft sehr einfache Leute mit fast keinem Schulabschluss", sagt Dorothee Stäbler. "Oder einfache Handwerksberufe. Aber ein Automechaniker ist heute Mechaniker kein mehr, sondern Elektroniker. Das hat hier mit den Jobs einfach nicht so funktioniert. Die waren willig irgendwas zu machen, aber dann auf Dauer nicht konsequent - mit morgens aufstehen und pünktlich kommen. Bei denen, wo ich es probiert habe, hat es überhaupt nicht funktioniert. Es hat mich sehr gefrustet. Ich habe dann immer Jobs organisiert durch meine Beziehungen, beim Bäcker oder beim Gärtner. Und nach einer Weile habe ich immer mitgekriegt, dass die da nicht mehr arbeiten. So ging das reihenweise."
Eine hohe Motivation, sich weiterzubilden
Das muss nicht so sein, sagt Petra Bendel vom Sachverständigenrat: Gerade die Geflüchteten, die zwischen 2013 und 2016 angekommen sind, scheinen sich schneller in den Arbeitsmarkt zu integrieren als in den Jahren zuvor.
"Studien des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung des BAMF haben eine hohe Bildungsaspiration nachgewiesen", erklärt Petra Bendel. "Also die Motivation, sich weiterzubilden und sich in Deutschland eine Existenz aufzubauen. Aber man muss auch hinschauen, ob die Jobs langfristig existenzsichernd sind und ihren Qualifikationen entsprechen."
Im März 2020 bezogen 3,82 Millionen Menschen Arbeitslosengeld II, also Hartz IV. 15 Prozent davon waren Schutzsuchende. Das sind elf Prozent mehr als im Vorjahr. Die meisten arbeitslosen Geflüchteten sind jung und männlich. Bei Bewerbungen kommen für sie oft Jobs infrage, in denen Sprachkenntnisse oder formale Berufsabschlüsse nicht entscheidend sind. So waren im März 2020 etwa 29.000 von ihnen auf der Suche nach Arbeit in der Logistik, 27.000 in Reinigungsberufen, knapp 19.000 wollten als Küchenhelfer und 12.000 im Verkauf arbeiten.
"Da war auch einer, der bestimmt zwei Monate bei uns geschafft hat", erzählt Dorothee Stäbler. "Ich habe beim Arbeitsamt beantragt, dass er keinen Mindestlohn kriegt aus der Baubranche, weil der ist relativ hoch - der konnte kein Deutsch, er hatte keinerlei Vorkenntnisse. Ich hätte ihm aber einen Stundenlohn von elf Euro gezahlt und ihn angemeldet, alles vorübergehend, bis er es lernt. Er hatte dann eine Betreuerin gehabt, die hat gesagt, er soll für das Geld nicht arbeiten. Dann hat der wieder aufgehört."
"Frauen sind noch mal anders"
"Frau Stäbler hat vor allem auch mit Männern zu tun", sagt Anne Krätschmer. "Ich habe hier mehr die Frauen. Frauen sind noch mal anders."
Anne Krätschmer sah die Frauen in den Flüchtlingsunterkünften, die teilweise sehr gut ausgebildet waren, aber kein Wort Deutsch sprachen. Weil ihre Männer arbeiteten oder im Deutschkurs waren und es keine Kinderbetreuung gab. Also gründete Krätschmer die "Krümelkiste": eine Kita für Kleinkinder, und gleichzeitig ein Programm zur beruflichen Qualifizierung von geflüchteten Frauen.
"Das Thema Frauenarbeit ist für mich ganz wichtig", sagt sie. "Das Haus richten und das Fundament richten für Kinder mit Migrationshintergrund, die hier in Deutschland ankommen, die den Zugang zur deutschen Sprache und Kultur legen. Das machen wir ja hier. Ich denke, für die Elterngeneration wird es schwierig werden, für die Kindergeneration wird es eher eine Integration geben."
Die Stadt schreibt dem Projekt Modellcharakter zu und gibt jährlich 150.000 Euro dazu. Mittlerweile beschäftigt Krätschmer zwölf Mitarbeiterinnen, darunter drei mit Fluchthintergrund.
In der Krümelkiste haben die Frauen die Möglichkeit zur Tagesmutter ausbilden zu lassen: "Bei mir haben alle Frauen durchgehalten. Alle. Ein deutsches Papier in der Hand zu haben, einen Arbeitsplatz zu haben, war die Motivation. Man hat einen Job, man verdient vielleicht mehr Geld als die Männer. Man bekommt mehr Wertschätzung und Respekt von den eigenen Landsleuten. Das ist schon teils eine exponierte Stellung."
Frauen seien der Motor der Integration, sagt Anne Krätschmer. Und die Zusammenarbeit funktioniert. Aber sie hat aber auch schwierige Erfahrungen gemacht. Hat viel Widerstand ausgehalten.
"Ich habe gelernt, dass die Frau in dieser Kultur eine ganz andere Rolle hat", sagt sie. "Auch eine starke Rolle, innerhalb der Familie, aber dass der Mann der ist, der ins Außen geht und der letztlich über seine Familie und seine Frau bestimmt. Dass die Frau sich dem Mann oft anpasst und unterordnet. Ich denke, auch für die andere Seite war es schwer, dass da eine deutsche Frau stand, die sagte: Jetzt machen wir das mal so und so. Da gab es ziemlich spannende Situationen und ich denke, der eine oder andere hätte mich auch gern mal geschüttelt."
"Ich habe in Syrien Jura studiert"
"Mein Name ist Tareq, bin in Deutschland seit 2015, im September bin ich angekommen, in Berlin seit 2018, da bin ich aus NRW umgezogen. Gerade arbeite ich bei 'S27 Kunst und Bildung', leite ich den Bereich Krisenmanagement, Sicherheit, Prävention, mache rechtliche Beratung. Ich habe in Syrien Jura studiert."
Berlin-Kreuzberg. Tareq Alaows führt durch das Kulturzentrum, in dem er arbeitet. Küche, Werkstatt, Besprechungsräume. Tareq ist aus politischen und religiösen Gründen aus Syrien geflohen. Die genauen Hintergründe will er lieber nicht erzählen. 45 Tage war er unterwegs, zu Fuß und mit dem Bus.
"Ich hatte auch das Glück, die deutsche Sprache innerhalb von sechs Monaten zu lernen", sagt er. "Ich war auch in keinem Deutschkurs. Habe das gelernt durch Arbeit, durch Kontakt mit Menschen, durch Lesen."
Der 24-Jährige fand schnell einen Job, fand Freunde, gründete eine ganze Reihe von Vereinen und ist politisch aktiv. Man könnte sagen: Er hat es geschafft. Andere hatten und haben es da schwerer.
"Ich kenne eine Person, die als Buchhalterin gearbeitet hat in Syrien", erzählt Tareq Alaows. "Aber dadurch, dass sie 50 ist und die Sprache nicht so schnell lernen konnte, dass das immer noch schwer ist, mit fremder Sprache als Buchhalterin zu lernen. Eine Person, die 50 ist, mit ihren Erfahrungen, die das ganze Leben im Herkunftsland verloren hatte und hier ein neues Leben aufbauen sollte. Dann überlegt sie, in einem anderen Bereich zu arbeiten, wo sie die Sprache nicht so viel braucht. Aber die Frage ist, hat sie wirklich Interesse, dort zu arbeiten? Und wenn man kein Interesse hat, hat man keine Motivation."
Alaows den Verdacht, dass seitens der Behörden das Interesse an Integration nicht wirklich da ist - stattdessen: Unsinnige Maßnahmen und Sanktionen.
"Deutschland ist ein Land der Bürokratie"
Der Integrationsbeauftragte von Weil der Stadt Mahmoud Qasem kennt das Unverständnis – auf beiden Seiten.
"Deutschland ist ein Land der Bürokratie, das ist einfach so. Ich bin selbst aus Libanon, ich sehe es in Ländern wie Libanon und Syrien, da kommen sie weit, wenn sie aufs Amt gehen und sagen: Hier hast du was und gib mir was, und gut. Hier ist das Papier sehr, sehr wichtig. Klar, wenn der jetzt hier Arbeit findet und lernt bei der Arbeit die Sprache viel besser, als wenn er als Voraussetzung für diese Arbeit den B1-Schein von der VHS braucht: Er ist dann demotiviert. Er denkt: Ich könnte schon arbeiten, aber nein, ich krieg 380 Euro vom Amt und muss zu dieser doofen Schule. Ich versuch dann, zu erklären: Klar, jetzt findest du vielleicht was auf dem Bau, am Band, aber willst du das dein Leben lang machen? Also nutze die Chance, bilde dich erst mal. Schaffe Abschlüsse! Da trifft man auf viel Unverständnis."
Tareq Alaows aus Kreuzberg findet, bei vielen Integrationsmaßnahmen gehe es mehr darum, ein Lebenssystem zu diktieren. Und vor allem darum, dass Geflüchtete schnell Deutsch lernen und einen Job finden – das Zwischenmenschliche interessiere kaum.
"Wir haben zwei Stunden am Tag Deutschunterricht, aber vier Stunden am Tag Praxisunterricht in den Werkstätten, wo die Menschen durch die Arbeit lernen. Es geht nicht nur um handwerkliche Arbeit, sondern: Wie läuft das, wie heißen die Maschinen. Da lerne ich viel schneller, als sechs Stunden in einem Deutschkurs zu sitzen und theoretisch zu lernen. Die Menschen, die hierhergekommen sind, haben so viele Expertisen und Erfahrungen, sie können an ihrer Zukunft beteiligt werden. Solange ein Integrationskonzept von oben nach unten diktiert wird, durch Menschen, die in Büros arbeiten, die die Lebenssituation der geflüchteten Menschen nicht kennen, wird es nicht geschafft werden."
Schritt für Schritt ans Ziel
In Weil der Stadt hätten die Integrationsmanager diese Idee auf dem Schirm, versichert Mahmoud Qasem. Aber wenn man die Menschen frage, komme, außer der Forderung nach einer eigenen Wohnung, nicht viel.
Man binde die Flüchtlinge trotzdem ein, frage sie danach, was sie bräuchten: "Klar, da gucken wir: Wo ist der Bedarf? Erster Schritt, so eine Art Zielvereinbarung: Was kannst du, wohin möchtest du? Aufgrund des Portfolios versuchen die, so einen Weg aufzubauen: Alles klar, bis dahin brauchst du die und die Schritte, dass man das Ziel erreicht. Und da arbeiten wir jetzt zusammen dran."
Anne Krätschmer: "Wir haben viel gefragt. Aber Wunder konnten wir auch nicht vollbringen. 150 Wohnungen auf einen Haufen hatten wir nicht.
Autorin: "Was gab es da für Wünsche?"
Anne Krätschmer: "Ach, Internet! Wohnung, Arbeit, wo man dann drei Tage hinging. Anerkennung der Schulabschlüsse, Familiennachzug."
Autorin: "Was gab es da für Wünsche?"
Anne Krätschmer: "Ach, Internet! Wohnung, Arbeit, wo man dann drei Tage hinging. Anerkennung der Schulabschlüsse, Familiennachzug."
Autorin: "Und gab es den Wunsch nach sozialer, menschlicher Integration?"
Anne Krätschmer: "Teilweise war der Wunsch da, aber nicht so, dass man sagt, ach, ich würde gern zu dir kommen, und können wir nicht mal kochen. Sondern die Menschen blieben ein Stück weit unter sich. Wir haben ganz viel angeboten. Aber wenn man am Schluss allein dasitzt, macht es auch keinen Spaß."
Anne Krätschmer: "Teilweise war der Wunsch da, aber nicht so, dass man sagt, ach, ich würde gern zu dir kommen, und können wir nicht mal kochen. Sondern die Menschen blieben ein Stück weit unter sich. Wir haben ganz viel angeboten. Aber wenn man am Schluss allein dasitzt, macht es auch keinen Spaß."
Es brauche aber eben auch Zeit, Menschen zu integrieren. Und einiges findet Anne Krätschmer, einiges habe man ja geschafft.
"Dann habe ich in der Zeit Freunde gefunden, Freunde in anderen Kulturen", erzählt sie. "Ich habe mittlerweile ein offenes Haus. Hatte ich früher nicht, ich bin anders erzogen. Sie können bei mir jederzeit vor der Tür stehen, das wäre früher nicht möglich gewesen. Ich habe eine unheimliche Gastfreundschaft kennengelernt. Bei uns kam man um 15 Uhr zum Tee oder 18 Uhr zum Abendessen, aber nicht zwischendurch. Aber ich habe auch gelernt, dass wir aus verschiedenen Welten kommen."
"Irgendwann kippte das Ganze"
Und: Von Euphorie sei nicht mehr viel zu spüren. Die Stimmung sei gekippt. Nicht nur in Weil der Stadt ist der Arbeitskreis Asyl auf den harten Kern geschrumpft.
"Irgendwann kippte das Ganze", sagt Mahmoud Qasem. "Das Thema Flüchtlinge fing an, die Leute zu nerven. Am Anfang, mit Welcome in Deutschland, da war es 'in', ein bisschen soziale Ader zu zeigen, irgendwann war es den Leuten zu viel und das Engagement ist zurückgegangen."
Und es gibt Konflikte. An manchen Orten fallen Sozialarbeiter ein halbes Jahr aus, wegen Burn-out, weil sie bedroht wurden oder sexuell belästigt. Und wer wirklich besorgt ist, findet dafür auch Gründe.
Immer wieder gibt es Schlagzeilen über Gewaltdelikte in Verbindung mit Geflüchteten: Es gab die Silvesternacht auf der Kölner Domplatte. Freiburg, Kandel und Wiesbaden stehen für brutale Verbrechen, für die sich Flüchtlinge vor Gericht verantworten müssen.
Jan Mönikes sitzt in einem Besprechungsraum seiner Anwaltskanzlei in Berlin-Mitte.
Jahrelang war er Vormund von zwei Jugendlichen aus Syrien. Der eine hat es geschafft, Abitur gemacht. Der andere sitzt im Gefängnis. Wenn keine Eltern da sind, die Erziehung und Fürsorge übernehmen können, springt normalerweise das Jugendamt ein. Weil es gerade 2015 nicht genug berufsmäßige Betreuer gab, kümmerten sich auch Ehrenamtliche um die so unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge.
"Nicht gewöhnt, Entscheidungen zu treffen"
Keine ganz einfache Aufgabe, sagt Mönikes: Natürlich haben 14-, 15-, 16-Jährige ohnehin schon ihren eigenen Kopf und rebellieren auch mal. Und dann werden sie auch noch in eine ganz fremde Welt geworfen.
"Die, die in großfamiliären Strukturen auf dem Land groß geworden sind, sind nicht gewöhnt, Entscheidungen zu treffen", sagt Jan Mönikes. "Da wird nicht gesagt, du musst dich dran gewöhnen, morgens um sieben aufzustehen, sondern es kommt jemand um sieben, der schmeißt ihn aus dem Bett. Es wird nicht gefragt, willst du die Schule zu Ende machen, sondern es wird gesagt: Du machst die Schule zu Ende. Dann kommen die hierher in eine Gesellschaft, die darauf getrimmt ist, antiautoritär, selbstbestimmt, individuell zu erziehen.
Dann sind sie zum Teil auch viel zu stolz. Stellen Sie sich vor, Sie kommen aus der ersten Familie eines Dorfes, wo die Schule nach ihrer Familie heißt, der Ort heißt wie ihre Familie. Und dann vertreiben Sie jemanden, der 13, 14 ist aus diesen Zusammenhängen, und der ist hier ein Nichts. Man signalisiert ihm das, bietet ihm aber auch keine Perspektive, die ihn motivieren könnte, sein Verhalten anzupassen. Das halte ich für tragisch, weil ich glaube, dass man hier ohne Not einen Teil dieser Generation der Zuwanderer verloren hat."
Mönikes hat gute Erfahrungen mit den Jugendämtern gemacht, mit den Schulen. Aber wie mit Jugendlichen umgehen, die ihre Fluchterfahrungen mit nach Deutschland gebracht haben?
Erwartungshaltung und Druck
Dazu kommt: Die Jugendlichen stehen unter Druck. Wenn die Familie sie vorschickt, ist da eine klare Erwartungshaltung, der Auftrag, die Familie zu versorgen.
"Ich kann keinem der Kinder und Jugendlichen klarmachen", sagt er, "warum er drei Jahre bei geringem Einkommen eine Lehre machen soll, mit der Perspektive, dass er danach auf dem Arbeitsmarkt dann vielleicht Geld verdient und ab in vier Jahren in der Lage ist, die Familie adäquat zu unterstützen. Das hält der nicht durch. Also, was passiert? Wenn ich keine Perspektive biete für das, weswegen ich eigentlich da bin, werde ich natürlich empfänglich für Angebote, schnell Geld zu verdienen."
Mönikes glaubt, dass viel verschenkt wird: Weil Kinder und Jugendliche in dieser prägenden Phase viele gute wie schlechte Dinge für die Zukunft lernen, einen Kompass entwickeln für ihr eigenes Verhalten. Und er glaubt, dass sich viele Versäumnisse der letzten fünf Jahre noch aufholen ließen – zum Beispiel, mehr Jugendliche individuell zu betreuen, und sie dafür aus ihrem Umfeld zu nehmen.
"Da gibt es Einrichtungen, aber viel zu wenige, die diese Kinder und Jugendlichen aus Berlin rausbringen", sagt er. "In ein Umfeld, wo es für sie, unpädagogisch, einen gewissen Reset gibt, aber auch keine Mauer und keinen Zaun. Der würde sie sowieso nicht halten. Aber wo es nicht so einfach ist, mal eben kurz zum Alex zu gehen, wo es auch keinen Döner um die Ecke gibt, sondern wo ich ein ganz anderes Leben kennenlerne, was zum Teil auch eher dem ähnelt, was sie kennen. Um die dann nach und nach rauszulassen."
"Ich bin weltoffener geworden"
"Wir schaffen das!" - Deutschland hat einiges geschafft. Auch dem Barometer nach, mit dem der Sachverständigenrat das Integrationsklima in Deutschland untersucht.
"Dann kann man sagen, dass das Zusammenleben in der Einwanderungsgesellschaft überwiegend positiv wahrgenommen wird", sagt Petra Bendel. "Dort trübt sich das Klima – wir sprechen da vom Integrationsklima - ein, wo der Integrationsalltag nicht persönlich erlebt wird: Wenn ich keinen persönlichen alltäglichen Kontakt habe mit gesellschaftlicher Vielfalt, dann sind Ängste und Vorurteile höher."
"Ängste habe ich nicht mehr, Vorbehalte auch nicht", sagt Anne Krätschmer. "Ich war auch sehr schnell dabei, dass man denkt, was ist gut für die, was möchten die, kann doch nur sein, dass die dasselbe möchten wie ich als Deutsche. Nein, nein, die Werte sind ganz anders. Ich habe Freunde gefunden, ich bin weltoffener geworden, ich bin toleranter geworden. Das ist unterm Strich eine ganz gute Win-win-Situation."