Für eine Außenpolitik mit Werten

Von Sylke Tempel |
Vom Umgang mit Russland, China, Syrien oder Ägypten: Außenpolitik sollte sich nicht einseitig festlegen, meint die Journalistin Sylke Tempel, sondern Spannungen aushalten - und von Werten getragen werden. Das ist ein Ideal, doch es gibt verschiedene Gründe, sich trotzdem dafür zu entscheiden.
Wofür stehen wir eigentlich? Das haben wir uns nicht nur in Angelegenheiten von Krieg und Frieden zu fragen, sondern auch im Umgang mit Diktatoren. Und tun es viel zu selten.

Es ist ja nach 1989 nichts aus einem vielleicht längeren, durchaus auch komplizierten, aber doch unaufhaltsamen Marsch der Völkerfamilien in eine demokratisch und marktwirtschaftlich verfasste Zukunft geworden. Im Gegenteil: Der demokratische Westen, vor allem Europa, wirkt ermattet und konfus. Diktaturen wie Russland und China hingegen potent und selbstbewusst.

In der Außenpolitik macht sich das in bemerkenswert schwachen Argumenten bemerkbar. Menschenrechtspolitik heißt es da, sei überheblich, sie berücksichtige ganz spezifische Eigenheiten eines Landes nicht. Man müsse eben auch mit Diktatoren reden. Grundsätzlich solle man aufhören, anderen Ländern Demokratie zu predigen. Vielmehr Respekt vor fremden Kulturen und – gerne gebraucht im Zusammenhang mit dem Iran und China – deren langer Geschichte zeigen.

Schließlich sei noch das materialistischste, aber auch ehrlichste Argument genannt: Wertepolitik dürfte unseren Interessen gerade als Exportnation nicht schaden.

Beginnen wir mit dem Grundsätzlichen: Menschenrechtspolitik und damit auch eine an Werten orientierte Politik ist nichts weniger als die Erinnerung daran, dass jeder Einzelne unveräußerliche Rechte besitzt. Dass dem Individuum diese Rechte als Schutz vor der Macht zugesprochen wurden, ist das Fundament des westlichen Individualismus – und der hat zunächst einmal nichts mit ungestümem Selbstverwirklichungsdrang zu tun.

Aus diesem Urgrund, aus dem Zugeständnis, dass der Mensch die Rechte und die Fähigkeit besitzt, über sich selbst zu bestimmen, erwuchs die Demokratie. Das zu vergessen bedeutete Selbstverleugnung – und in der Konsequenz, grob ausgedrückt: wenn in anderen Ländern gefoltert werde, so müsse man das halt als kulturelle Eigenheit hinnehmen.

Indien, Südkorea, Thailand, Indonesien – das alles sind Länder, die nicht auf eine Geschichte der klassischen Antike, der Trennung von religiösem und weltlichem Recht, der Revolutionen von 1776 und 1789, sondern auf einen ganz eigenen Entwicklungsweg zurück blicken können - und doch ihre eigene Form der Demokratie gefunden haben.

Die Demokratie als politisches Modell ist potenziell universell. Und sie berücksichtigt kulturelle Eigenheiten weit stärker als Diktaturen. Es war Mao, der mit beispielloser Brutalität alles an chinesischer Tradition zertrümmerte, das ihm rückständig erschien.

Dem Sowjetkommunismus fielen nicht nur Millionen Menschen in den Gulags zum Opfer; er zerstörte auch beinahe die russisch orthodoxe Kirche, die jetzt plötzlich wieder als ureigenster Teil russischer Kultur gehegt und gegen Punksängerinnen verteidigt wird.

Und schließlich: Es schadet Geschäftsinteressen nicht, daran zu erinnern, dass neben dem Individualismus die Herrschaft des Rechts Grundlage der Demokratie ist. Größte Unternehmen mögen sich vor Begehrlichkeiten und Willkür autoritärer Herrscher ganz gut schützen können. Mittelständische Unternehmen, die das wahre Rückgrat der deutschen Wirtschaft sind, können das nicht. Sie sind auf Rechtssicherheit angewiesen.

Werte und Interessen sind kein Gegensatz – er wird künstlich hergestellt. Vielleicht aus einer gewissen Faulheit des Denkens, einer Trägheit des Herzens oder beidem. Die Spannung – eine Spannung – kein Gegensatz! – besteht aus den Polen Gestaltungsideal und Gestaltungsmöglichkeiten.

Wir wissen, dass eine Werte bezogene Außenpolitik ein Ideal beschreibt, eines, das sehr lange nicht, und vielleicht nie vollständig erreicht wird, und gerade deshalb darf man, soll man sich schon aus strategischer Weitsicht auf dieses Ziel berufen.

Diese Spannung auszuhalten, die Gestaltungsmöglichkeiten immer neu zu verhandeln und Fehler zu korrigieren – darin besteht eben die wahre Stärke der Demokratien.


Dr. Sylke Tempel, Jahrgang 1963, studierte Politologie, Geschichte und Judaistik, bevor sie für verschiedene Zeitungen als Korrespondentin aus dem Nahen Osten berichtete. Derzeit ist sie Chefredakteurin der Zeitschrift "Internationale Politik" in Berlin, die von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik herausgegeben wird. Zuletzt hat sie zwei Bücher geschrieben: "Israel – eine durch ein altes neues Land" (2008) und "Freya von Moltke. Ein Leben. Ein Jahrhundert" (2010), beide im Rowohlt Verlag erschienen.
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Sylke Tempel© Marco Limberg