Für eine Bildungspolitik im Geist der Aufklärung

Lesen ist eine unverzichtbare Kulturtechnik

04.07.2018, Berlin: Models lesen vor der Show des Labels Marcel Ostertag backstage auf der Fashion Week in einem Buch und auf dem Smartphone.
Ist die Leseratte eine aussterbende Art? Models lesen auf der Fashion Week in einem Buch und auf dem Smartphone. © picture alliance/dpa/Jens Kalaene
Von Susanne Gaschke |
Jugendliche, die kaum noch lesen können, Verlage, deren Umsätze einbrechen - Deutschland schafft gerade das Lesen ab, beklagt Susanne Gaschke. Die Journalistin fordert eine Bildungspolitik im Geist der Aufklärung. Die brauche keinen Digitalpakt, sondern eine Leseoffensive.
Deutschland gewöhnt sich gerade das Lesen ab. Und zwar auf allen Ebenen: Grundschüler ringen mit dem Aufbau eines Wortschatzes und sind selbst am Ende der vierten Klasse oft noch weit vom flüssigen, sinnentnehmenden Lesen entfernt. Auch das Schreiben bereitet ihnen Mühe. Fragwürdige Unterrichtsmethoden wie das so genannte "Lesen durch Schreiben" machen es ganz besonders den schwächeren Schülern schwer, sich schriftlich fehlerfrei auszudrücken.

Täglich mindestens viereinhalb Stunden online

Die Politik reagiert auf diese Probleme nicht etwa mit einer glaubwürdigen Lese-Offensive: Nein, sie will noch mehr digitale Zerstreuungsgeräte in die Schulen bringen. Sehr zur Freude der Digital-Unternehmen. Junge Leute zwischen 14 und 29 Jahren sind laut einer Studie im Auftrag von ARD und ZDF jetzt schon täglich viereinhalb Stunden mit Online-Dingen beschäftigt, viereinhalb Stunden online – das ist Zeit, in der sie jedenfalls nicht konzentriert lesen und sich nicht auf längere Texte einlassen. Genau das wäre allerdings nötig, um die emotionalen und analytischen Fähigkeiten zu entwickeln, die ein urteilsfähiger Mensch und Bürger braucht.

Unfähigkeit zur Konzentration entwickelt sich zur Seuche

Die Seuche der Konzentrationsunfähigkeit greift um sich. Das Smartphone wird zu einer Art Ablenkungsfoltermaschine: Maximal 18 Minuten halten erwachsene Deutsche durch, dann müssen sie wieder auf ihr Gerät schauen. Durchschnittlich 90 mal am Tag greifen wir nach unserem prothesenhaften Körperfortsatz. Der amerikanische Digitalexperte Nicholas Carr beschrieb schon vor zehn Jahren, wie ihn die ständigen Unterbrechungen, die permanenten digitalen Impulse am konzentrierten Lesen hinderten und es, so formuliert er, "geradezu zur Qual" machten. Ganz ähnlich haben die befragten "Nicht-mehr-Leser" in einer Untersuchung geantwortet, die der Börsenverein des Deutschen Buchhandels Anfang Juni vorstellte: Sie fühlen, dass sie durch die dauernde digitale Ansprache sowohl unfähig als auch unwillig werden, sich in die Welt eines Buches zu versenken.

Lese- und Schreibkompetenz wird die Gesellschaft spalten

Damit bringen sie sich um sehr viel: Wer nämlich immer noch glaubt, das gute alte gedruckte Buch sei eine sentimentale Verzierung gewesen, wer die digitale Zukunft beharrlich nur in Rosa sehen will, der ist entweder total naiv – oder verfolgt eigene ökonomische Interessen.
Was wir gerade beobachten, ist eine rapide Spaltung der Gesellschaft. Und zwar nicht entlang eines zu Tode zitierten "digital divide", sondern entlang eines "literacy divide". Das heißt: Die Lese- und Schreibkompetenz wird künftig den Unterschied machen. Denn jeder halbwegs interessierte Affe kann ein Smartphone bedienen. Aber kein Affe kann lesen.
Schon in naher Zukunft werden wir einerseits jene Menschen haben, die sich noch konzentrieren, die urteilen, sich einfühlen und selbständig denken können – und andererseits die, die sich mit Piktogrammen und Spracherkennungssoftware durch ihren gänzlich anti-intellektuellen Alltag schlagen. Letztere werden anfälliger für Manipulationen sein; jederzeit bereit, sich unter- oder untenhalten zu lassen. Sie werden ideale Bewohner für das Reich der Digitalkapitalisten sein, fleißige Datenproduzenten, willfährige Konsumenten. Die britische Fernsehserie "Black Mirror" entwirft eine solche Zukunftsgesellschaft. Man möchte dort nicht leben.

Nationale Lese-Offensive vs. digitale Ausstattung der Schulen

Deshalb brauchen wir keinen Digitalpakt für die Schulen, sondern eine nationale Lese-Offensive. Bücher sind das Tor zur intellektuellen Freiheit. Gerade Kinder aus jenen Elternhäusern, in denen es kaum ein Buch gibt, müssen die Freude an Texten und die unendlichen Möglichkeiten, die kompetentes Lesen ihnen eröffnet, in der Schule kennen lernen. Darauf muss sich alle Bildungspolitik konzentrieren, die auch nur entfernt den Anspruch erhebt, im Geiste der Aufklärung zu wirken.

Susanne Gaschke ist Journalistin und Publizistin. Sie war lange Jahre Redakteurin der Wochenzeitung "Die Zeit". Heute schreibt sie für "Die Welt" und die "Welt am Sonntag". In ihrem 2014 erschienen Buch "Volles Risiko. Was es bedeutet, in die Politik zu gehen" hat sie ihre Erfahrungen als Kieler Oberbürgermeisterin dargestellt.

Susanne Gaschke
© Deutschlandradio/Jessica Sturmberg
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