Anne Otto: "Für immer Kind. Wie unsere Beziehung zu den Eltern erwachsen wird"
Göttingen 2022, Edition Körber
288 Seiten, 22 Euro
Beziehungen zu Eltern
Unabhängigkeit finden, sich aber auch unterstützen: Beides ist möglich, sagt die Psychologin Anne Otto – wenn man das Verhältnis zu seinen Eltern immer wieder neu definiert. © Getty Images / fStop / Malte Mueller
"Man muss sich immer neu abgrenzen"
12:31 Minuten
Dass Kinder erwachsen werden und ihr eigenes Leben führen, ist für Eltern oft schwer zu verstehen. Das führt auch im hohen Alter zu Generationenkonflikten. Die Psychologin Anne Otto rät dazu, die Abgrenzung bewusst zu trainieren.
Wie ist das, wenn die greisen Eltern ihre fast schon verrenteten Kinder anderen Menschen vorstellen? Schwierig, genau! Aus diesem Grund hat Anne Otto das Buch "Für immer Kind?" geschrieben. Die Psychologin und Wissenschaftsjournalistin hat sich dafür mit den Dynamiken der Familie beschäftigt und sich gefragt, wie unsere Beziehung zu den Eltern erwachsen wird.
Alte Strukturen und Muster
So richtig sichtbar werde dieses Verhältnis oft bei Zusammenkünften oder Feiern, etwa Weihnachten, sagt Anne Otto. Dann "kulminiert die erwachsene Familie", komme immer wieder auf den Prüfstand, denn hier werden alle an ihre gemeinsame Geschichte erinnert. "Hier tragen dann die Traditionen dazu bei, dass man sich wieder selbst wie ein Kind fühlt und nicht darauf vorbereitet ist: Man ist erwachsen, fühlt sich eigentlich sehr souverän. Dann kommt man ins Elternhaus und wird mit alten Sätzen konfrontiert, ist sofort in Gefühlen aus der Kindheit, die manchmal schmerzhaft sind." Fallgeschichten, Fakten und praktische Übungen liefert Anne Otto in ihrem Buch.
Eine neue Entwicklung sieht Otto darin, dass sich heute oft fast schon verrentete Kinder im Alter von 60 um ihre 80 oder 90 Jahre alten Eltern kümmern. "Diese Beziehung bleibt. Es gibt nicht mehr wie früher einen Schnitt: Die Eltern sterben, und man ist ganz allein auf der Welt als erwachsenes Kind."
Alle sollten sich verantwortlich fühlen
Diese neuen Bedingungen führen dazu, dass man der Beziehung zu seinen Eltern immer wieder eine neue Form geben muss. "Man muss sich immer neu abgrenzen, Unabhängigkeit finden." Für Praktisches, etwa für die Pflege der Eltern, gebe es viele, psychologische Hilfe und Hinweise aber kaum. Dabei sei es möglich, ein neues Verhältnis zu den Eltern zu erlernen und zu trainieren, ihnen als erwachsene Person gegenüberzustehen. Wichtig sei außerdem, dass sich alle in der Familie und dem Freundeskreis für die Pflege verantwortlich fühlen.
Um sein Verhältnis zu den eigenen Eltern neu zu überdenken, gebe es einige essenzielle Fragen, beispielsweise: Wo habe ich bisher meine Eltern enttäuscht? Und: Wo ist es auch wichtig, sie zu enttäuschen? Weil man eine andere Person ist, als sie in einem sehen.
"Das muss nicht immer im Eklat und Streit enden, sondern kann so laufen, dass man sich auf eine andere Art positioniert und sagt: Ich riskiere, dass ich zum Beispiel mit Loyalitäten und Vermächtnis breche", sagt Otto. Für eine intakte Beziehung sei es wichtig, die Ambivalenz der verschiedenen Rollen in verschiedenen Lebensphasen auch anzunehmen. "Dass man sagt: Wichtig ist mir die Verbundenheit zu meinen Eltern, aber andererseits ist es auch so, dass man etwas ganz anderes macht und sich etwas ganz Eigenes sucht."