Vom Umgang mit grausamen Erinnerungen
Niemand kann mir helfen: Das sagt ein junger geflüchteter Syrer, den die Bilder des Krieges verfolgen. Er lebt nun in Berlin, der Hauptstadt des Landes, in dem Millionen sogenannter Kriegskinder bis heute mit den Traumata des Zweiten Weltkrieges kämpfen.
Übersetzer: "Er sagt, mittlerweile tauchen die Bilder von der Vergangenheit wieder auf. Er hat viele Ereignisse erlebt, die so schlimm sind, also er hat viel Blut gesehen. Ein Freund von ihm wurde getötet und er sieht die Bilder wieder jetzt. Und es kommt manchmal vor, dass er läuft und sieht eine Person und denkt, das ist, doch das ist mein Freund! Das stimmt aber nicht. Es ist nicht sein Freund."
Junis, das ist nicht sein richtiger Name. Er ist 27 Jahre alt. Ein kräftiger, großer Mann. In seiner Heimat Syrien ging er fünf Jahre lang zur Schule. Danach machte er eine Ausbildung zum Friseur - hat bis zu seiner Flucht nach Deutschland vor anderthalb Jahren sein eigenes Geschäft geführt.
Junis fühlt sich wie ein Toter
Er lebt heute in Berlin. Junis sagt, er fühlt sich wie ein Toter, der sich aus seinem eigenen Grab freischaufeln soll.
Übersetzer: "Die Sache hat vor vier oder fünf Monaten angefangen. Am Anfang war er erkältet und er hat auch einen Anfall bekommen - solch einen psychischen Anfall. Dann wurde er ins Krankenhaus transportiert. Er wurde überall untersucht. Kopf, Körper. Sie haben nicht herausgefunden, worunter er litt oder er leidet. Dann wurde ihm gesagt, dass er zu einem Psychiater gehen soll. Bei uns, wenn man dieses Wort sagt, Psychiater, dass bedeutet, dass man verrückt ist!"
70 Prozent der erwachsenen Menschen, die in Deutschland Asyl suchen, haben in ihrem Heimatland oder auf der Flucht Gewalt gegenüber anderen Menschen miterlebt, 55 Prozent haben selbst Gewalt erfahren, 43 Prozent geben an, gefoltert worden zu sein und 58 Prozent sagen, dass sie Leichen gesehen haben. Wie sollen Menschen das verarbeiten können? Sind die Seelsorger und Psychologen hierzulande für die Behandlung der vielen Traumatisierten gewappnet?
Wie sollen Patienten, Psychologen und wie sollen wir als Gesellschaft mit dieser enormen Herausforderung umgehen? Kriegs-Traumata sind für viele bis heute ein Tabu-Thema.
Millionen "Kriegskinder" aus dem Zweiten Weltkrieg
Was die Verdrängung von traumatischen Erlebnissen mit Menschen anstellt, beobachtet die Kölner Journalistin Sabine Bode seit Jahrzehnten. Sie beschäftigt sich mit den sogenannten Kriegskindern. Menschen, die kurz vor oder während des Zweiten Weltkriegs geboren worden sind:
"Es ist mehr oder weniger zufällig zu mir gekommen und damals, vor zwanzig Jahren, das war der Bosnienkrieg und da hab ich gedacht, meine Güte, wir haben Millionen Kriegskinder in unserem Land und wieso weiß ich darüber nichts? Das ist doch interessant zu wissen, wie sind die später im Leben klar gekommen mit diesen frühen Begegnungen mit Gewalt und Schrecken, Bedrohungen, Verlusten usw. Und damals hat sich praktisch niemand dafür interessiert."
Für ihre Bücher, Artikel und Radiofeatures hat Sabine Bode, Jahrgang 1947, unzählige Kriegskinder befragt. Wie viele von ihnen sich professionelle Hilfe geholt haben, um mit ihrem Krieg im Kopf umzugehen kann sie an einer Hand abzählen:
"So gut wie niemand, also das gehört nicht zu deren Kultur, der Kriegskinder. Dass man sich Hilfe holt. Also dann ist man ja wirklich, ja, dann kann man ja gleich in die Klapse gehen, würden die ihnen sagen, ja, das wollen sie auf keinen Fall.
Das sind wirklich Ausnahmen, die mal irgendwann in der Kur ein gutes Gespräch geführt haben, mit einer Psychologin und aber dass die jetzt eine Therapie machen oder da eine Trauma-Therapie, also ich persönlich kenne nur fünf Menschen, die das gemacht haben."
Berlin-Moabit. Im Landesamt für Gesundheit und Soziales, kurz LAGESO, befindet sich die Clearing-Stelle der Charité. Provisorisch und wenig einladend sehen die Räumlichkeiten aus, die der Universitätsklinik hier zur Verfügung gestellt worden sind, um eine Anlaufstelle für Geflüchtete zu bieten, die psychische Probleme haben. Hier soll festgestellt werden, ob die Patientinnen und Patienten mit ihren Symptomen behandelt werden müssen, ob sie Medikamente brauchen, eine kurze oder gar eine längere Therapie. Sie treffen hier auf Doktor Jihad Alabdullah:
"Wir haben von Februar 2015 bis jetzt ungefähr, mehr als 3000 Kontakte gehabt, hier in der Clearing-Stelle. Es gibt einen Teil von den Patienten, die waren gesund in Syrien. Durch die Belastungsfaktoren, die hier entstanden sind, sind sie entweder depressiv oder mit Angstsymptomatik zu uns gekommen oder es gibt einen Teil, sie waren krank, sie brauchen eine Behandlung und sie kommen zu uns, um einfach die Behandlung weiter durchzuführen."
Ein Arzt, der die Sprache der Patienten spricht
Jihad Alabdullah ist Syrer. Der 39-Jährige ist in Homs aufgewachsen, kam 2006 für seine Ausbildung nach Deutschland und ist wegen des Kriegsausbruchs geblieben. Er spricht die Sprache der Patienten, ein großer Vorteil.
"Die meisten, die aus Syrien geflüchtet sind, haben viele Trauma-Ereignisse erlebt und aber nicht unbedingt, dass alle eine posttraumatische Erkrankung entwickeln. Ein großer Teil davon aber wird spontan geheilt. Sie brauchen keine Unterstützung. Und 30 Prozent von den Patienten brauchen eine spezielle Therapie. Ich meine eine Psychotherapie. Und je früher, desto besser.
Wir sehen mehr Frauen als Männer, in der Tat, eigentlich. Grundsätzlich die psychiatrische Erkrankung, insbesondere die affektive Erkrankung, Depression und Angst, sind eher bei Frauen mehr, als bei Männern. Insgesamt und die Rolle von dem Mann in der Gesellschaft, wird er mehr betroffen, wenn sie sagen, ich bin psychisch krank, ja. Daher versuchen sie das zu verstecken und das nicht zu sagen, dass sie krank sind."
Einer, der sich her gewagt hat, ist der 28-Jährige Medizinstudent aus Damaskus, der sich Mohammad nennt. Er ist Vater eines neugeborenen Sohnes:
"Ich habe meine Freunde in einer WhatsApp-Gruppe gefragt, wo ich einen Psychiater finden kann. Dann haben sie mir die Adresse geschrieben. Ich bin heute hier und ich habe mit dem Arzt meine Probleme besprochen."
Mohammad ist ein unauffälliger, misstrauischer Mann. Ihm ist es unangenehm, wenn zu viel Aufhebens um seine Person gemacht wird:
"Das mit meiner Belastung fing an, als ich meine Flucht von Damaskus aus begonnen habe. Es gab viele Schwierigkeiten. Ich hatte wenig Geld, wurde schlecht behandelt und die Straßen waren schwer zu passieren. Ich wurde einige Male hinters Licht geführt – das hat meine Stimmung sehr beeinflusst.
An den Grenzen war alles so kompliziert. Als ich in Deutschland ankam, habe ich diese Bürokratie erlebt, das hatte ich nicht erwartet. Ich war schockiert, dass es hier so ist. Die vielen Anforderungen wurden nach und nach gestellt, sodass ich sehr belastet wurde. Mich hat das nervös gemacht und depressiv."
Bürokratie als zusätzliche Belastung
Das deutsche Wort Bürokratie heißt auf Arabisch Bürokratie.
"Und immer wenn ich einen Brief bekomme, egal von welcher Behörde, bekomme ich Panik", erzählt Mohammad. "Ich erwarte das Schlimmste, weil wenn ich einen Brief bekomme, wird mein Antrag abgelehnt oder sie brauchen irgendein Dokument, dass ich nicht vorgelegt habe, ohne das es aber nicht weitergeht. Sie beurteilen die Sache anhand eines Dokuments, ich weiß schon, dass ich dieses Dokument aus Syrien nicht bekommen werde. Ich warte immer auf diese schlimmen Briefe.
Wenn ich ein Schreiben erhalte, habe ich immer Angst davor, es zu öffnen. In dem Moment, in dem ich den Umschlag aufmache werde ich aufgeregt und fange an zu schwitzen: Weil ich wissen will, was darin steht. Gerade wenn mir eine Behörde - das Jobcenter oder die Ausländerbehörde schreibt - dann weiß ich, dass ich Bescheide erhalte die mein Leben beeinflussen. Ich muss diesen Brief also öffnen und manchmal bekomme ich welche, in denen ich bestraft werde. Das sind dann Mahnungen. Manchmal aber erhalte ich keine Briefe und dann frage ich mich, warum ich keinen Brief erhalte, weil ich doch auf Bescheide warte."
Jihad Alabdullah: "Dieser Patient leidet eigentlich unter einer Angststörung! Wir unterstützen solche Leute mit Gesprächen, Beratung und wir versuchen, durch kurze Interventionen diese Situation mit zu klären mit Aufklärung. Es kann sein, dass das nicht ausreicht. Daher können wir auch mit Medikamenten unterstützen. Die Medikamente helfen bei, ich würde sagen, bei 50 Prozent der Patienten. Je nachdem, welche Erkrankung sie haben. Und ein Teil von den Patienten profitiert mehr von Gesprächen."
Mohammad: "Der Arzt hat meine Lage allgemein eingeschätzt und sagte mir, dass aufgrund meiner jetzigen Umstände alles ganz normal sei. Es ist bei allen so. Es würde reichen, wenn ich die positiven Seiten betrachte, wenn ich irgendwas schaffen und mich danach dafür belohnen kann. Wichtig sei, dass ich wieder richtig schlafe.
Der Arzt hat mir dafür Tabletten gegeben, die gegen Schlafstörung helfen und sagte, dass meine Situation keine weitere medizinische Behandlung brauche. Ich bräuchte Beratung und etwas Unterstützung."
Das erste Mal in der Clearing-Stelle der Charité
Im Wartesaal der Clearing-Stelle der Berliner Charité sitzt Junis - der 27-Jährige Friseur. Er ist heute das erste Mal hier, war schon bei anderen Ärzten und hat gegen seine Depression auch Medikamente verschrieben bekommen.
Übersetzer: "Er erzählt, dass er bis jetzt keine Verbesserung spürt. Er hat angefangen, Arzneimittel einzunehmen und dies Arzneimittel haben viele Nebenwirkungen, Müdigkeit, und er fühlt sich, als ob er betrunken wäre und das hat auch, wie gesagt, Konsequenzen, dass er nicht so gut in der Schule ist."
Er lebt zurzeit gemeinsam mit einer älteren Dame aus Syrien in einer Berliner Wohnung. Junis – der in seiner Heimat nur fünf Jahre lang zur Schule gegangen ist – versucht gerade in einem Kurs, Deutsch zu lernen.
Übersetzer: "Er meint, dass er morgens aufsteht und in die Schule geht. Danach geht er nach Hause, isst was. Dann versucht er ein Buch aufzuschlagen und zu lernen. Zwischendurch guckt er auf das Handy, um zu sehen, ob seine Familie online ist, um mit ihnen zu sprechen. In der Zeit stellt er fest, dass das, was er mit der Sprache macht, nichts bringt. Dann legt er das Buch auf die Seite und versucht, Sport zu treiben oder so was zu machen. Aber das mit dem Sport ist nur ein Gedanke. Er sagt sich, okay, ich muss jetzt Sport treiben, macht er aber nicht.
Es scheint mir, dass er depressiv ist. Er sagt, es wird nichts passieren, was die Arbeit angeht, wird nicht passieren. Weil man die Sprache braucht, was die Schule auch angeht. Ich finde, das ist auch unmöglich, dass ich auch die Sprache lerne. Und was die Wohnung angeht, ich finde, das ist auch hoffnungslos, dass ich in der Zukunft eine Wohnung finde. Auch, was die Familie angeht. Die Familie ist nicht da.
Er ist ständig im Kontakt mit ihnen. Aber manchmal kann er sie nicht erreichen, weil manchmal gibt es keine Elektrizität und kein Internet. Nur, wenn es Internet und Elektrizität auf einmal gibt, dann kann er mit ihnen sprechen."
Enttäuscht von der Situation in Deutschland
Junis ist enttäuscht, weil er gehofft hatte, in Deutschland wäre die Integration einfach und er würde schnell eine eigene Wohnung, Arbeit und Zugang zur Sprache finden. Das hat er heute auch in einem langen Gespräch dem Arzt Jihad Alabdullah erzählt:
"Nicht vergessen, das ist ein Anpassungsprozess. Sie brauchen Zeit, um in die Gesellschaft kommen zu können. Die Sprache ist nicht so einfach, insbesondere bei den Leuten, die nicht gebildet sind. Mit niedrigem Bildungsniveau und um dann Deutsch zu lernen, das ist dann für Patienten manchmal ein großer Belastungsfaktor.
Wir versuchen muttersprachlich die Situation zu klären. Leider kommen viele Leute her, mit der Erwartung, das ist alles leicht, das ist hier das Paradies, was ich auch von vielen Leuten höre. Was letztendlich in der Tat nicht so ist. Hier müssen sie dann arbeiten, müssen sie dann selbst versuchen, in die Gesellschaft zu kommen. Und dann kommen solche Herausforderungen von Sprache, Ausbildung usw. Das wäre nicht mein Job als Psychiater alleine.
Klar! Wir brauchen Unterstützung von vielen Behörden sozusagen. Jobcenter, die Ausbildungsinstitute, die Ministerien auch. Sie müssen mit einer neuen Idee kommen, um die Leute zu Unterstützen. Ich kann mir vorstellen, dass die Leute, die ihre Schule nur bis zur fünften Klasse besucht haben, sie brauchen andere Maßnahmen!"
Der Besuch bei einem Psychologen - für Junis bedeutet dies, nicht normal, sondern verrückt zu sein, erläutert Jihad Alabdullah:
"Stigma bleibt ein großes Problem bei den Patienten, die aus orientalischen Kulturen kommen. Insbesondere wenn der Mann zu einem Psychiater geht, würde er in der Regel nicht sagen oder nicht zu seiner Frau sagen, dass er krank ist oder darunter leidet. Weil das ist ein, Sie verstehen, das ist ein Zeichen von Schwäche. Und wenn er schwach ist, wird er von seiner Frau wahrscheinlich nicht so gut behandelt oder sie wird auch Unruhe bekommen, wenn sie weiß, dass der Mann psychisch krank ist."
Mohammad: "Ich habe Ihnen alles erzählt aber falls meine Frau dieses Interview hört, wird sie mit Sicherheit überrascht sein. Ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen, damit sie nicht mit mir daran leidet. Besonders, weil sie in der Stillzeit ist und das ist unser erstes Kind. Ich versuche, vor ihr immer stark zu sein. Manchmal bekommt sie es mit und versucht, mir zu helfen. Dann sage ich ihr, dass das alles oberflächliche Probleme sind. Damit sie sich keine Sorgen macht".
Ein Kölner Psychiater behandelt Kriegstraumatisierte
Köln. Der Psychiater Bertram von der Stein betreibt seine Praxis in einem kleinen Häuschen am Stadtrand. In seinem Behandlungsraum: eine Liege, daneben ein Sessel. Ein Stuhlkreis, gelbe Wände. Er behandelt Menschen mit Kriegstraumata. Menschen aus Syrien, dem Kosovo, aber auch Kriegskinder aus Deutschland, die den Zweiten Weltkrieg miterlebt haben:
"Es wird gesprochen über Bombardements, über Verlust des Eigentums, über den Tod von Verwandten und eigentlich im Wesentlichen auch viele Dinge, die man eben von den deutschen Kriegskindern kennt. Dass man praktisch über Leichen hinweg gegangen ist und eben auch Situationen auf der Flucht, die dann oft Schambesetzt sind, also mit sexuellen Anzüglichkeiten, Verlust der Intimität und einer generalisierten Angst, aber auch dem Gefühl einfach nur, wie betäubt zu gehen und einfach abgespalten von allen Gefühlen erst mal weitergehen. Das hört man so, ja.
Es ist oft auch so, dass bei den aktuellen Flüchtlingen im Grunde psychiatrische Notsituationen da sind mit Ängsten. Also eine Frau, das ist vielleicht ein extremer Fall, die kam aus dem Kosovo, die ist nach Angaben ihrer hier in Deutschland lebenden sehr differenzierten Verwandten, vor etwa zehn Jahren vergewaltigt worden, als es diesen Jugoslawienkrieg gab. Dann sind die Leute hierhin geflüchtet und aufgrund der Situation in dem Flüchtlingsheim, mit rauchenden Männern vor der Tür, wurde ein altes Vergewaltigungstrauma wieder wach gerüttelt und diese Frau ist im Erstkontakt hier unter die Stühle gekrochen.
Da kann man zunächst erst einmal versuchen, etwas Ruhe zu schaffen mit Medikamenten oder eben auch dafür sorgen, dass solche Menschen dann aus dem Container rauskommen und deine Wohnungelegenheit für die Familie bekommen. Aber das sind oft fast unlösbar erscheinende Aufgaben."
Nicht die einzige schwer zu überwindende Hürde. Die wenigsten Psychiater in Deutschland können sich, so wie der Berliner Arzt Jihad Alabdullah, in arabischer Sprache verständigen. Das deutsche Gesundheitssystem ist nicht auf die Bedürfnisse der traumatisierten Menschen aus den Kriegsgebieten vorbereitet, sagt Bertram von der Stein:
"Trotz der Willkommenskultur ist es mittlerweile so, dass für viele eine adäquate Therapie, aufgrund der Sprachbarrieren und der doch relativ bescheidenen Ressourcen für diese Menschen, eigentlich gar nicht möglich ist und man versucht so fragmentarisch, da zu helfen.
Ich habe verschiedene Leute erlebt, also eine junge Syrerin, die Teile ihrer Familie auf der Flucht verloren hat und jetzt für die älteren Brüder Ersatzmutter spielt. Die kam mit Englischfragmenten. Man kann sich mit ihr so halbwegs unterhalten, sie ist aber mit der Situation in dem Flüchtlingsheim völlig überfordert. Das Sprachniveau ist nicht so, dass man Einzelheiten detailliert besprechen kann."
Tabuisierung der seelischen Wunden nach 1945
Wer wissen will, wie man mit den Kriegstraumata der jüngst seelisch verwundeten Menschen umgeht, sollte sich besser nicht an dem Umgang mit dem Thema in der Bundesrepublik nach 1945 orientieren, sagt Bertram von der Stein:
"Dieses Thema mit den Kriegstraumatisierungen der deutschen Bevölkerung ist ja eigentlich erst auch nach einer langen Latenzzeit zum Thema geworden und unsere Gesellschaft hat sich ja, vor allem die West-Deutsche Gesellschaft, hat ja die Mentalität der Stunde Null gehabt.
Man hat also gedacht, man könnte vorbehaltlos neu beginnen und sich im Rahmen des Wirtschaftswunders also nach vorne bewegen. Und diese Themen waren in den 50er Jahren eigentlich randständig. Es war erst mal ein Tabuthema. Also es gibt wenig Literatur aus den 50er oder 60er Jahren."
Eigentlich, sagt Bertram von der Stein, kam das Thema erst zur Jahrtausendwende so richtig auf den Tisch.
Die Kölner Journalistin Sabine Bode hat die Vermutung, dass genau das bis heute auf die deutsche Gesellschaft einwirkt – in West und Ost:
"Es gibt einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen nicht aufgearbeiteter Vergangenheit und Zukunftsangst. Von da kann nur Schlimmes kommen. Alles neue, was passiert wird verlängert in die Zukunft und in der Zukunft wird alles immer schlimmer.
Wir müssen bei diesem ganzen Thema eines immer bedenken: Was Traumatisierte nicht vertragen, sind erneute veränderte Lebensbedingungen. Ja? Das setzt sie enorm unter Stress. Weil sie haben es schon einmal erlebt. Siehe Syrien oder siehe Flucht nach 1945. In Ost-Deutschland haben sie es ein zweites Mal erlebt mit der Wende. Die Jahrgänge, die am schlechtesten die Wende verkraftet haben, sind exakt die Jahrgänge der Kriegskinder. Sie können sich bei deren Kindern mal erkundigen. Die werden Ihnen alle dasselbe sagen, ja. Veränderte Lebensumstände setzen sie enorm unter Stress und schon angedrohte veränderte Lebensumstände setzen sie enorm unter Stress.
Die Medien haben, als die Flüchtlinge ins Land kamen, aus einer Stimme gesprochen. Haben gesagt, Deutschland wird sich so verändern, es wird nicht mehr wieder zu erkennen sein. Ich frag Sie, jetzt gucken wir auf diese zwei Jahre zurück, hat sich Deutschland so verändert, dass wir es nicht mehr wieder erkennen?"
Die Situation in Kambodscha untersucht
Sabine Bode hat untersucht, wie andere Gesellschaften mit ihrem kollektiven Trauma umgegangen sind.
"Nehmen Sie so ein Land wie Kambodscha, Rote Khmer. Ja, ein Drittel der Bevölkerung umgebracht oder verhungert. In diesem Land hat niemand daran gerührt. Sie haben auch keine alten Menschen gesehen, weil die fast alle tot waren. Dann haben Sie nach 40 Jahren Tribunal gemacht. Das ging über viele, viele Jahre. Dann haben sie die letzten noch vor Gericht gestellt und das hatte wirklich zur Folge, dass die Menschen allmählich anfingen, darüber zu reden.
Man muss es wirklich machen. Man muss es machen. Man kann nicht warten, bis die Leute alt sind und dann fangen sie an zu reden. Dann hat man vorher schon, hat man deren Nachkommen einfach desinformiert. Und das tut keiner Gesellschaft gut."
Psychiater Bertram von der Stein: "Es gibt ja auch immer diesen Begriff der Transgenerationalen Traumatisierung, wenn sie das anhand von Holocaust-Leuten oder anderen Traumatisierten sehen. Bei schweren lebensbedrohlichen Traumata braucht es ungefähr drei Generationen, drei bis vier Generationen, bis das halbwegs bewältigt ist. Und viele derjenigen, die sich jetzt hier vielleicht optimal anpassen, sehr schnell eine Lehrstelle finden oder ein Studium absolvieren - oder wie auch immer. Gerade bei diesen 'Vorzeige-Flüchtlingen' wird das irgendwann später, wenn die alt sind, vermutlich zum Vorschein kommen.
Viele leiden ja heute. Bei vielen kommen ja die Ängste ja erst mit dem Ruhestand, sind die gekommen und das ist, das kann richtig massiv sein. Also wenn so die ganzen stützenden Dinge, wie die ganzen Strukturen, wie Berufsleben, ja, oder sich um die Kinder kümmern. Die Kinder sind aus dem Haus, ja, dann entsteht so eine Leere und dann, ja, im Alter rückt die Kindheit näher. Und dann kann man diese Erinnerung nicht mehr gut abwehren. Es ist fast noch ein bisschen komplizierter. Viele versinken auch einfach in psychische Beeinträchtigungen, also es gibt ja diesen Begriff der Alterssucht. Mutter hat früher immer ihr Weinchen genossen und plötzlich säuft sie."
Wissenslücken bei den verantwortlichen Politikern
Für immer Krieg im Kopf? Wie können Menschen lernen mit ihren grausamen Erinnerungen umzugehen? Jihad Alabdullah:
"Die Politiker sollten besser informiert werden, glaube ich! Also sie wissen über die Situation der Syrer, aber sie wissen nicht, dass es einen großen Bedarf gibt, in diesem Teil... Psychotherapie, Psychiatrie. Weil die Leute viele Traumata erlebt habe. Und da sollten die Leute auch nicht nur hier in Deutschland, sondern eigentlich auch in den Nachbarländern, wo die großen Zahlen leben - in der Türkei oder Jordanien - da brauchen sie auch Einrichtungen sozusagen, begründet und über lange Zeit die Patienten begleitet. Weil ansonsten werden wir eine Generation kriegen, die einfach psychisch betroffen ist und das wird auf die gesamte syrische Bevölkerung dann negative Konsequenzen haben."
Der Kölner Psychiater Bertram von der Stein:
"Wie es auch in Deutschland gewesen ist, Hilfe zur Selbsthilfe. Man kann nicht jeden Einzelnen an die Hand nehmen. Das kann auch unsere Gesellschaft oder unser Medizinsystem nicht leisten. Es kommt eben darauf an, die Leute zu befähigen, diese Dinge zu überwinden. Aber ich vermute mal, dass das erst mal noch eine lange Zeit brauchen wird, bis diese Kriegszustände vorbei sind und dann muss man einfach sehen, da muss man kein Pazifist oder sogenannter 'Gutmensch' für sein, ein einmaliger Bombenangriff oder ein kurzer Krieg hat Folgen für mindestens drei Generationen."
Sabine Bode: "Den traurigsten Fall, den ich kenne, das ist einer der Menschen, die ich in dem Kriegsenkel-Buch beschrieben habe und dann habe ich irgendwann erfahren, am Ende einer Lesung, er wäre, was sagte der Herr, er ist an seinen Ängsten gestorben und ich weiß, dass ich damals, ich hab mit ihm lange geredet, wir haben seine Geschichte veröffentlicht. Ich habe gesagt, meine Güte, bin extra noch mal hingefahren, wollte noch mal sagen, wollen Sie es nicht doch versuchen? Da sagte er, ich hab einmal ein Psychologengespräch geführt. Und der hat gesagt, ich sollte mir das aufschreiben. Da war ich kurz davor aus dem Fenster zu springen. An dieses Thema gehe ich nie wieder dran.
Das Tragische ist, dass früher, ganz früher, ich rede von vor 20 Jahren, Psychologen so gedacht haben. Hauptsache, man redet darüber. Nein! Hauptsache, man bringt Menschen dazu ihre Gefühle, ihre starken Stressgefühle zu kontrollieren und dann kann man vielleicht irgendwann mal darüber reden.
Es gibt inzwischen wirklich so gute Trauma-Therapien, die ziemlich wirksam sind. Aber vor allen Dingen gibt es auch sehr gute Entspannungstherapien. Also man kann den Leuten auch beibringen, wie sie besser mit Stress umgehen. Das müssen Sie natürlich wollen! Ja, mit zum Trauma gehört ja, dass man unbeweglich ist, dass man nicht was neu dazulernen will."
Der Zustand der Unruhe bleibt bestehen
Fakt ist aber auch, den meisten Menschen kann erst richtig geholfen werden, wenn sie nicht mehr in Gefahr sind, wenn es keine Bedrohung mehr für sie gibt. Der 28-Jährige Medizinstudent Mohammad befindet sich in Deutschland zwar in Sicherheit, aber solange der Krieg in Syrien nicht vorüber und auch seine Familie in Sicherheit ist, wird er in einem Unruhezustand bleiben:
"Wenn mein Handy klingelt und gerade, wenn der Anruf von meinen Eltern kommt, bekomme ich einen Reflex, ich erwarte sofort das Schlimmste. Ich glaube, dass jemand verhaftet wurde. Ich werde aufgeregt, meine Stimmung ändert sich. Manchmal spiele ich mit meinem Kind und dabei lachen wir und dann, wenn das Telefon klingelt, wird alles schwarz vor meinen Augen und ich fühle die Gefahr und fühle mich wie bewusstlos. Dann gehe ich nicht ans Telefon.
Ich denke ständig an Syrien und ich fühle dass mein Herz und meine Gedanken immer in Syrien sind. Meine Familie und meine Verwandten sind noch dort und ich habe immer Angst vor den Raketen und Bomben. Was ich schlimm finde, sind die finanziellen Umstände. Das Essen dort ist so teuer und ich bin schon so lange in Deutschland, arbeite aber noch nicht. Deswegen mache ich mir Vorwürfe, weil ich meiner Familie nicht helfen kann. Ich kann ihnen nicht die Freude machen ihnen Geld zu schicken. Ich hab das Gefühl, dass ich in dem Moment, in dem ich Syrien verlassen habe - dass da mein Leben aufgehört hat."
Die Erstsendung des Features von Johannes Nichelmann war am 3.7.2017.