"Für mich ist Emma eine Art Avatar"

Tilda Swinton im Gespräch mit Britta Bürger |
Die Schauspielerin Tilda Swinton verkörpert in ihrem neuen Film eine Figur, die auf das revolutionäre Element der Liebe trifft. Als Gattin eines reichen Mailänder Modeunternehmers erliegt sie dabei nicht nur der Kochkunst des sehr viel jüngeren Gourmet-Kochs Antonio.
Britta Bürger: Es wird erzählt, dass die Idee zu diesem Filmstoff zu großen Teilen Ihnen zu verdanken ist. Welchen Ansatz hatten Sie dafür?

Tilda Swinton: Luca Guadagnino und ich haben schon vor acht Jahren einen Film zusammen gemacht, der hieß "The Love Factory", also "Die Liebesfabrik". Das war eigentlich schon unser zweiter Film, aber dieser zweite Film war ein Interview zwischen uns beiden, in dem ich über Liebe sprach und das Konzept des radikalen Wesens der Liebe, über die unausweichliche Ehrlichkeit der wahren Liebe im Gegensatz zu irgendwelchen romantischen Fantasien. Als wir an diesem zweiten Film arbeiteten, entschieden wir uns, diese Idee als Keimzelle für eine Geschichte zu übernehmen, aus der wir einen abendfüllenden Spielfilm machen wollten. Und daraus ist dann "Io Sono L’Amore - I Am Love" geworden. Und da geht es eben um die Idee der Revolution der Liebe, der potenziellen Brutalität der Liebe und ihrer unentrinnbaren Kraft.

Bürger: Emma verliebt sich in einen Freund ihres Sohnes, den jungen Koch Antonio. Und schon die ersten Bissen seines Essens, die werden von Emma derart erotisch genossen, dass sie sich diesem Mann kaum noch entziehen kann. Was verkörpert dieser Antonio?

Swinton: Ich denke, Antonio steht für die Natur. Emma hat so lange in dieser sehr urbanen, industrialisierten, von der Fabrik gefütterten wohlhabenden Welt gelebt. Und er repräsentiert die Kunst, er ist ein Künstlerkoch, ein wirklich großartiger Koch. Und jeder, der das Glück hatte, wirklich gutes Essen von großartigen Köchen von großartigen Köchen zu probieren, weiß, dass da eine Art von Kommunikation stattfindet, ein Dialog, wenn man dieses Essen schmeckt. Antonio steht für eine Art von Realität, von der sie sich entfremdet hat. Gewissermaßen weckt er sie auf, ein bisschen wie im Märchen. Ich sehe das wie eine Fabel: Es gibt den alten König, den Großvater, es gibt den jungen König, eine junge Königin, Prinzen und eine Prinzessin, einen Küchenjungen und ein Zaubermittel im Essen.

Bürger: Der reiche Modefabrikant Tancredi Recchi, der Ihren Ehemann spielt, der hat sich ja für diese Frau Emma entschieden wie für ein Kunstwerk. Wie haben Sie sich in diese Haut eingefühlt?

Swinton: Für mich ist Emma eine Art Avatar. Ich sehe sie wie eine Trägerin von bestimmten Programmen, so als wäre sie noch gar nicht richtig menschlich bis eben zu diesem bestimmten, revolutionären Punkt in der Geschichte, in dem Moment, in dem sie sich verliebt. Ihr Mann ist Kunstsammler und er fährt nach Russland, um schöne goldene Objekte mit nach Hause zu bringen. – Und er findet sie und bringt sie zu sich nach Hause. Sie ist also gewissermaßen abwesend, aber wie gesagt nicht unterdrückt, sondern eher verschüttet, wie unter Wasser.

Sie erzählt Antonio, dass Emma noch nicht einmal ihr richtiger Name ist, sondern einer, den ihr ihr Mann gegeben hat. Ihr eigentlicher Name, der ihr in Russland gegeben worden war, ist Kitesch. Kitesch ist eigentlich kein echter russischer Name, sondern der Name eines Dorfes mit einer Legende, die besagt, dass das Dorf, das neben einem sehr tiefen und klaren See liegt, belagert wurde von Barbaren oder Mongolen oder irgendwem. Und angesichts dieser Belagerung versenkt sich das Dorf im See um unterzutauchen, um sich zu retten und erhalten zu bleiben. Und sie selbst ist ebenfalls untergetaucht. Dabei bleibt sie komplett intakt, aber eben unter der Oberfläche. Was wir also bei ihrer Erweckung erleben, ist, dass sie wieder aus etwas auftaucht.

Bürger: Wie vertraut sind Ihnen die starren Konventionen einer elitären Familiendynastie? Sie stammen aus einer Familie, die dem schottischen Adel angehört, sind vermutlich in einem auch sehr strengen Umfeld aufgewachsen. Wie haben Sie sich selbst daraus befreit und einen ganz eigenen, unkonventionellen Lebensweg gefunden?

Swinton: Man muss sich klarmachen, dass, was für den einen eine radikale Handlung ist, für den anderen der ganz natürliche Weg ist. Der Wagemut des einen ist also für den anderen der Wohlfühlbereich. Ich bin immer dankbar dafür, dass meine Familie mich darin unterstützt hat meinen eigenen Weg zu gehen und mich genau so zu entwickeln, wie ich es für mich brauchte. Mein eigenes Aufwachsen verlief relativ hindernisfrei. Also als ich aufwuchs, war mir bewusst, dass meine Familie, die ja keine Künstlerfamilie war, nicht unbedingt in einer Welt lebte, in der ich später mal leben würde, aber sie haben mir nie irgendwelche Hindernisse in den Weg gelegt. Sie wussten, dass ich mein Milieu finden würde – was ich ja auch sehr früh getan habe. Als ich anfing als Künstlerin zu arbeiten mit Derek Jarman in den 80er-Jahren. Ich denke, es ist wichtig früh zu lernen, dass man seinen eigenen Weg nur selber finden kann, dass es nichts Schlechtes ist, wenn man in kein vorgegebenes Muster passt.

Bürger: Die Schauspielerin Tilda Swinton im Deutschlandradio Kultur. In dieser Woche startet ihr neuer Film "I Am Love" in den deutschen Kinos. Der Film hat eine extrem ausgefeilte Ästhetik: Er lebt von unglaublich beeindruckenden Interieurs, häufig als Totale aufgenommen mit einer Fülle an Details, die den Luxus dieser reichen Familie verdeutlichen – Gemälde, Stoffe, Tischarrangements … Wie sind diese Räume entstanden?

Swinton: Das gezeigte Milieu drückt sich durch diese Art des Mise en scène aus, es verhält sich durch seine Ausstattung, so scheint es. Diese Häuser sowie das Haus, in dem wir gedreht haben, diese außergewöhnliche Villa Necchi in Milan, die ja ein wirklich existierendes Haus ist – das wir uns vorher übrigens genau so vorgestellt und ausgedacht haben: eine Mischung aus Palast, Museum und Gefängnis –, solche Häuser werden gebaut, um die Art und Weise zu organisieren, in der Menschen in ihnen leben, sich verhalten. Sie werden bereits für bestimmte Möbelstücke gebaut, die wiederum gemacht werden, damit die Menschen auf eine bestimmte Art und Weise auf ihnen sitzen. Man kann vielleicht versuchen, sich in so einem Haus irgendwo hinzufläzen, aber am Ende sitzt man doch mit geradem Rücken und trägt hohe Absätze.

Diese Art Leben hat einen gewissen theatralischen Aspekt, das haben wir für uns auch als eine Herausforderung gesehen. Es ist ja ein ziemlich gefährliches Unterfangen, einen Film über reiche Leute zu drehen. Da gibt es schon so eine Tradition, in der es sehr schnell passieren kann, dass die Kamera in so eine Art staunende Trance verfällt, dass sie ganz ruhig bleibt und auf theatralische Weise diese Leute einfach nur aus dem Hintergrund wie Objekte beobachtet mit fast schon masochistischer Entrücktheit.

Wir wollten die Welt, die wir zeigen, auch so enthüllen, aber gleichzeitig wollten wir auch in sie eindringen, in die menschliche Welt, bis hinter die Ohren der Menschen, bis unter ihre Achseln und letzten Endes bis in ihre Psyche, sodass wir auch eine Geschichte von menschlichen Wesen erzählen konnten. Und dieser Luxus hat wirklich eine gewisse Macht, denn mindestens fünf Minuten lang ist es ganz großartig, in ihnen zu leben mit all den edlen Kerzen, diesen bequemen Sofas und dem fantastischen Essen, und so angezogen zu sein. Aber wenn man noch halbwegs lebendig ist, wird das sehr schnell ziemlich klaustrophob.

Bürger: Genau so interessant wie die aufwendig gestalteten Innenräume sind auch die Außenaufnahmen – in Mailand, San Remo und London –, unglaubliche Kamerafahrten, die die Architektur der Städte in Szene setzen. Welche Vorbilder aus der Filmgeschichte haben in diesem Film Spuren hinterlassen?

Swinton: Oh ja, für uns alle war der Text der Architektur sehr wichtig, besonders natürlich für Luca Guadagnino und Yorick Le Saux, den Kameramann. Es war uns sehr wichtig, die Menschen immer mit einem architektonischen Setting zu umgeben, sodass ein Gleichgewicht entsteht. Die Natur war ja auf verschiedene Art und Weise Thema des Films und für die Charaktere sehr wichtig. Gerade als Kontrast zu dieser architektonischen Umgebung von Mailand und London bildete die Natur eine Art Eden, wo Emma und Antonio sich lieben und ein geradezu bukolisches Idyll leben. Es war wirklich wichtig, hier bis in die Struktur des Grases vorzudringen und diese Art tierische Existenz zu spüren, genau so wie in die Steine und Mauern der Städte hineinzugelangen.

Bürger: Berühmt geworden sind Sie als Künstlerin ja durch die Filme von Derek Jarman, mit dem Sie bis zu seinem Tod viele Jahre eng zusammengearbeitet haben. Derek Jarman hat die britische Gesellschaft ebenso klug entlarvt, wie Luca Guadagnino jetzt Italiens Upperclass. Hat die Beziehung zu Guadagnino für Sie heute eine ähnliche Qualität wie die damals zu Derek Jarman?

Swinton: Es erscheint mir etwas unangemessen, sehr gute Freunde miteinander zu vergleichen oder auch nur die Arbeitsbeziehung. Dazu kann ich also nicht wirklich etwas sagen. Aber was beiden Beziehungen gemeinsam ist, ist, dass es sich um sehr enge Freundschaften handelt, langjährige Arbeitsbeziehungen, aus denen viele gemeinsame Projekte entstanden sind. Man kann sogar sagen, dass Derek Jarman Luca Guadagnino und mich zusammengebracht hat, denn wir haben uns kurz nach seinem Tod bei einer Tagung über Derek Jarman in Rom getroffen und kennengelernt. Es gibt da eine ganz natürliche Sympathie, die Sympathie von Weggefährten, und ich bin nur der kleinste gemeinsame Nenner zwischen den beiden.

Bürger: Es ist klar, dass man Freunde nicht in der Art und Weise vergleichen kann, ich meinte es eher auch in Richtung, ob Sie vielleicht eine ähnliche Haltung zur Welt miteinander teilen?

Swinton: Wie gesagt, es ist schwierig etwas zu analysieren, was einem so nahesteht. Aber ich würde sagen, wir sind alle drei interessiert daran, die Idee oder das Konzept der Macht auseinanderzunehmen, zu untersuchen, das Menschliche zu suchen bei denjenigen, die jetzt in Anführungszeichen "gesellschaftlich mächtige Positionen" innehaben. Vor Kurzem fragte uns ein befreundeter Filmemacher in Venedig, wie wir um alles in der Welt nur einen Film über diese reichen Leute drehen könnten, die seien doch wirklich langweilig schon allein dadurch, dass sie reich sind. Ich fand das eine sehr interessante Einstellung. Und was mich daran interessierte, war, dass weder Luca noch mir jemals eingefallen wäre, dass reiche Leute nicht interessant wären. Einfach weil sie ja auch Menschen sind. Und das wäre Derek Jarman auch nie in den Sinn gekommen.

Bürger: Tilda Swinton, thank you very much for sharing your time with us!

Swinton: Thank you, my very great pleasure!
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