"Für mich ist er eigentlich ein Patron"
Der Schriftsteller Ingo Schulze hat anlässlich des 50. Todestages von Alfred Döblin dessen stilistische Vielfalt hervorgehoben. Es sei faszinierend, dass Döblin mit jedem neuen Stoff auch einen neuen Stil geprägt habe und sich nicht auf "Berlin Alexanderplatz" ausgeruht habe. "Döblin kann eigentlich über jede Zeit schreiben", sagte Schulze im Deutschlandradio Kultur.
Frank Meyer: "Berlin Alexanderplatz", der Roman von Alfred Döblin, ist heute noch einigermaßen bekannt, auch durch die Verfilmung von Rainer Werner Fassbinder. Seine anderen Bücher, die sind so gut wie vergessen. Der Revolutionsroman "November 1918" oder sein Zukunftsroman "Berge, Meere und Giganten" oder sein Exilroman "Babylonische Wanderung" oder auch seine große Wandlungsgeschichte "Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende".
Aber es gibt immer Schriftsteller, die sich zu Döblin bekennen und sagen, das ist einer meiner Lehrer. Bertolt Brecht hat das getan, Günter Grass, auch Ingo Schulze hat sich immer wieder auf Alfred Döblin berufen. Und Ingo Schulze ist jetzt für uns am Telefon. Ingo Schulze, Döblin war ein unglaublich vielseitiger Autor, ich hab das ja gerade schon ein bisschen skizziert. Was ist denn an seinem Werk für Sie besonders wichtig?
Ingo Schulze: Für mich ist es wichtig, dass er immer neu ansetzt. Es gibt in seinen theoretischen Schriften irgendwo den Satz, dass er sagt, man muss den Stil immer aus dem Stoff kommen lassen. Und das hat er ja vorbildhaft vorexerziert. Man kann bei ihm eigentlich nicht von einem Buch auf das andere schließen. Also man liest ein Buch und denkt, aha, das ist jetzt so der Autor, aber das nächste Buch ist schon völlig anders. Und er selbst sagt auch, man muss eigentlich alles kennen, um das Einzelne eigentlich auch in dieser Eigenart auch würdigen zu können.
Mich hat es immer fasziniert, dass man tut, man weiß, "Berlin Alexanderplatz", das war der große Erfolg. Aber warum macht er denn dann nicht so weiter oder wie hat er denn vorher geschrieben? Und davor liegt irgendwie ein indisches Epos, dafür haben ihn die Fischer-Leute fast aus dem Verlag geworfen, weil er da nur 3- oder 400 Exemplare verkaufen konnte. Und danach wird er in Anführungsstrichen "auch wieder ganz einfach", und er hat aber sehr kompliziert angefangen.
Und das ist für mich eigentlich das Wunderbare, dass er sich immer auf den Stoff einlässt und dabei auch versucht, von sich abzusehen. Er ist extrem uneitel, glaube ich, also einfach, er versucht wirklich, dem Stoff gerecht zu werden.
Meyer: Würden Sie sagen, das ist der einzige deutsche Autor, der diese extreme Wandlungsfähigkeit hatte?
Schulze: Zumindest fällt mir in diesem Maße in deutschen Landen niemand sonst ein, zumindest, der das in dieser Konsequenz macht. Es ist ja immer so, dass ein bestimmter Stil etwas ermöglicht, aber auch bestimmte Sachen unmöglich macht. Und bei Döblin sieht man, der kann eigentlich über jede Zeit schreiben. Also er kann über den November 1918 schreiben, er kann aber auch über den Zweiten Weltkrieg schreiben, und das in einer, meiner Ansicht nach, sehr überzeugenden Form. Also "Hamlet oder Die lange Nacht hat ein Ende", was ‛46, glaube ich, beendet war, oder ‛47, und, das sollte man vielleicht auch noch mal erwähnen, für das er zehn Jahre lang in Deutschland keinen Verlag findet, bis es dann ‛56 oder ‛57 bei Rütten & Löhningen im Osten erscheint.
Meyer: Was meinen Sie, wie ist Döblin zu dieser Wandlungsfähigkeit gekommen? Der Autor Fritz J. Raddatz hat am Wochenende gerade einen großen Würdigungsartikel über Alfred Döblin veröffentlicht in der Zeitung "Die Welt", und er zeichnet Döblin da selbst als einen Menschen von ganz großer Widersprüchlichkeit. Raddatz schreibt da, als habe Döblin die eigene Figura aus zerschnittenen Porträtschnipseln zusammencollagiert, folgt er sein Leben lang dem Motto, ich habe nie versäumt, wo ich ja sagte, gleich hinterher nein zu sagen. Diese Vielseitigkeit der Person, hatte die was zu tun mit der Vielseitigkeit des Werks?
Schulze: Es gibt natürlich sehr viele Widersprüche bei ihm, aber ich glaube nicht, dass man das aus der Person erklären kann. Dann müsste er ja also unglaubliche Wandlungen innerhalb weniger Jahre ständig vollzogen haben. Bei ihm gibt es verschiedene Positionen, aber es ist ja doch auch ein sehr, wie soll ich sagen, auch ein sehr kämpferischer Demokrat gewesen. Er hat ja auch immer sehr in die Tagespolitik oder in das Tagesgeschehen versucht einzugreifen. Und das ist, glaube ich, uninteressant zu sagen, da ist jemand so und dann ist er so, und deshalb schreibt er jetzt anders. Sicherlich spielt das immer eine Rolle, aber viel wichtiger ist, dass er sagt, wenn ich jetzt mir etwas vornehme, ich schreibe jetzt über November 1918, dass das dann anders klingt, als wenn ich zehn Jahre später versuche, Berlin zu beschreiben, oder wenn ich versuche, über den Zweiten Weltkrieg zu schreiben.
Ohne das jetzt gegeneinander ausspielen zu wollen, aber wenn man Thomas Mann nimmt, wo man weiß nach drei, vier Sätzen, das kann eigentlich nur Thomas Mann sein, aber ihm ist dann auch so eine ganz eigene Zeit eigen. Im Prinzip geht das nicht über den Ersten Weltkrieg hinaus. Es gibt dann noch den "Doktor Faustus", aber da wird es schon schwierig mit der Ironie, das ist dann so ein Sonderfall. Aber im Prinzip ist bei Thomas Mann mit dem Ersten Weltkrieg Schluss.
Und das ist halt, das sieht man, das ist bei Döblin ganz anders. Und interessant ist daran natürlich auch für mich diese Episierung, die ja Brecht eigentlich von Döblin übernommen aus der Prosa, entwickelt fürs Theater. Und für mich ist es natürlich als Prosaautor auch wunderbar, dass bei Döblin so ein Episierer zu haben.
Meyer: Was ich nicht verstanden habe an der Person Alfred Döblin, der große Modernist und Skeptiker und Jude, als den man ihn findet so in den 20er, 30er Jahren, am 30. November 1941 tritt er zusammen mit seiner Familie zum Katholizismus über. Haben Sie dafür eine Erklärung?
Schulze: Ach, ich weiß nicht, ob man das so erklären kann. Ich bin kein Katholik, ich bin kein Gläubiger, also mir liegt diese Entscheidung auch nicht unbedingt sehr nahe. Aber ich will es nicht darauf reduzieren, da weiß ich auch zu wenig, aber er war extrem vereinsamt. Er lebte ja in den USA von Sozialhilfe, und die Zukunft ‛41 sah ja nun auch nicht besonders rosig aus. Und dass man da irgendwo einen Halt sucht, das ist mir gar nicht so fremd. Wie gesagt, ich will das nicht darauf reduzieren, aber das wäre für einen Atheisten ein möglicher Erklärungsversuch.
Meyer: Deutschlandradio Kultur, ich bin im Gespräch mit dem Schriftsteller Ingo Schulze über seinen Kollegen Alfred Döblin, der heute vor 50 Jahren gestorben ist. Ingo Schulze, es gibt jetzt eine neue Hörspielversion von Döblins Roman "Berlin Alexanderplatz", bei der sind auch die Schriftsteller Thomas Brussig, Tanja Dückers und Judith Hermann als Sprecher zu hören. Wir sprechen gerade miteinander über Döblin. Gibt es heute eine verbreitete Verehrung unter Ihren Kollegen für Alfred Döblin?
Schulze: Ich weiß es doch von einigen, für die er sehr wichtig ist, und das hängt, wie gesagt, mit diesem immer neu ansetzen zusammen, aber für mich ist er eigentlich ein Patron.
Meyer: Das war ja nach dem Zweiten Weltkrieg, Sie haben es schon ein bisschen angedeutet, doch deutlich anders. Er hat damals sehr lange nach Verlagen gesucht für seine Bücher, die in der Exilzeit entstanden sind. Er ist sehr früh nach Deutschland zurückgekehrt, hat das Land dann aber wieder verlassen, war ganz enttäuscht über das Nachkriegsdeutschland im Osten und im Westen auch. Er ist noch einmal emigriert nach Frankreich und hat 1953 an den Bundespräsidenten Theodor Heuss geschrieben: "Ich bin in diesem Land überflüssig." Wenn Sie darüber nachdenken, warum er damals in Deutschland nicht wieder heimisch geworden ist, verstehen Sie das?
Schulze: Im Prinzip ist es natürlich nicht zu verstehen. Also wenn man jemanden brauchte, dann jemanden wie Döblin. Aber so war eben offenbar die Zeit. Man brauchte immer fürchterlich viel Zeit, um über das, was da gerade geschehen ist, zu sprechen. Das ist ja auch in Deutschland nicht anders, das brauchte 15, 20 Jahre. Manches wird erst heute sagbar oder über manches kann vielleicht heute noch nicht mal sprechen. Aber es war halt ein großer Versuch, gleich wieder zu kommen.
Und wenn man sich vorstellt, wie das ist, also man muss aus eigentlich einer doch zivilisierten Stadt wie Berlin fliehen, um sein Leben zu retten, das ist ja beschrieben in seiner Schicksalsreise, was er da alles durchmacht, und sein Sohn ist im Krieg gefallen, und die Verwandtschaft ist vergast worden. Und dann kommt einer eben wieder zurück und empfindet sich als überflüssig. Wobei man ihn eben gerade braucht, aber es ist einfach noch nicht die Zeit dafür da gewesen offenbar. Er hat ja doch auch einiges schon bewirkt, er hat eine Zeitschrift rausgegeben, er hat in Mainz die Akademie gegründet und jemand wie Arno Schmidt beispielsweise hat sich an Döblin gewandt. Also es ist da nicht nichts passiert, aber es waren halt doch immer Sachen, die er gegen etwas durchsetzen musste.
Meyer: Heute ist ja fast nur noch dieser Roman "Berlin Alexanderplatz" bekannt. So großartig der ist, was sagen Sie, was sollte man noch kennen von Alfred Döblin? Welche seiner Bücher finden Sie darüber hinaus richtig aufregend?
Schulze: Der beste Einstieg sind vielleicht seine wunderbaren Erzählungen, auch Kurzerzählungen. Also die berühmteste ist ja der "Tod der Butterblume". Mein Lieblingsbuch ist "Wadzeks Kampf mit der Dampfturbine", was, ich glaube, 1920 oder ‛18 erschienen ist, also so ein Konkurrenzkampf zwischen zwei Unternehmern. Eigentlich sollte man alles lesen, aber wenn ich noch eine Empfehlung sagen dürfte, dann wäre das für mich "November 1918", das steht für mich so in der Reihe mit dann später Johnsons "Jahrestage" oder "Die Ästhetik des Widerstands" von Peter Weiss. Das sind so große Dinge, wo man etwas über eine Zeit erfährt und wie man das auf eine andere Art gar nicht erfahren kann.
Meyer: Heute vor 50 Jahren ist der Schriftsteller Alfred Döblin gestorben. Über ihn habe ich mit dem Autoren Ingo Schulze gesprochen. Ich danke Ihnen sehr.
Aber es gibt immer Schriftsteller, die sich zu Döblin bekennen und sagen, das ist einer meiner Lehrer. Bertolt Brecht hat das getan, Günter Grass, auch Ingo Schulze hat sich immer wieder auf Alfred Döblin berufen. Und Ingo Schulze ist jetzt für uns am Telefon. Ingo Schulze, Döblin war ein unglaublich vielseitiger Autor, ich hab das ja gerade schon ein bisschen skizziert. Was ist denn an seinem Werk für Sie besonders wichtig?
Ingo Schulze: Für mich ist es wichtig, dass er immer neu ansetzt. Es gibt in seinen theoretischen Schriften irgendwo den Satz, dass er sagt, man muss den Stil immer aus dem Stoff kommen lassen. Und das hat er ja vorbildhaft vorexerziert. Man kann bei ihm eigentlich nicht von einem Buch auf das andere schließen. Also man liest ein Buch und denkt, aha, das ist jetzt so der Autor, aber das nächste Buch ist schon völlig anders. Und er selbst sagt auch, man muss eigentlich alles kennen, um das Einzelne eigentlich auch in dieser Eigenart auch würdigen zu können.
Mich hat es immer fasziniert, dass man tut, man weiß, "Berlin Alexanderplatz", das war der große Erfolg. Aber warum macht er denn dann nicht so weiter oder wie hat er denn vorher geschrieben? Und davor liegt irgendwie ein indisches Epos, dafür haben ihn die Fischer-Leute fast aus dem Verlag geworfen, weil er da nur 3- oder 400 Exemplare verkaufen konnte. Und danach wird er in Anführungsstrichen "auch wieder ganz einfach", und er hat aber sehr kompliziert angefangen.
Und das ist für mich eigentlich das Wunderbare, dass er sich immer auf den Stoff einlässt und dabei auch versucht, von sich abzusehen. Er ist extrem uneitel, glaube ich, also einfach, er versucht wirklich, dem Stoff gerecht zu werden.
Meyer: Würden Sie sagen, das ist der einzige deutsche Autor, der diese extreme Wandlungsfähigkeit hatte?
Schulze: Zumindest fällt mir in diesem Maße in deutschen Landen niemand sonst ein, zumindest, der das in dieser Konsequenz macht. Es ist ja immer so, dass ein bestimmter Stil etwas ermöglicht, aber auch bestimmte Sachen unmöglich macht. Und bei Döblin sieht man, der kann eigentlich über jede Zeit schreiben. Also er kann über den November 1918 schreiben, er kann aber auch über den Zweiten Weltkrieg schreiben, und das in einer, meiner Ansicht nach, sehr überzeugenden Form. Also "Hamlet oder Die lange Nacht hat ein Ende", was ‛46, glaube ich, beendet war, oder ‛47, und, das sollte man vielleicht auch noch mal erwähnen, für das er zehn Jahre lang in Deutschland keinen Verlag findet, bis es dann ‛56 oder ‛57 bei Rütten & Löhningen im Osten erscheint.
Meyer: Was meinen Sie, wie ist Döblin zu dieser Wandlungsfähigkeit gekommen? Der Autor Fritz J. Raddatz hat am Wochenende gerade einen großen Würdigungsartikel über Alfred Döblin veröffentlicht in der Zeitung "Die Welt", und er zeichnet Döblin da selbst als einen Menschen von ganz großer Widersprüchlichkeit. Raddatz schreibt da, als habe Döblin die eigene Figura aus zerschnittenen Porträtschnipseln zusammencollagiert, folgt er sein Leben lang dem Motto, ich habe nie versäumt, wo ich ja sagte, gleich hinterher nein zu sagen. Diese Vielseitigkeit der Person, hatte die was zu tun mit der Vielseitigkeit des Werks?
Schulze: Es gibt natürlich sehr viele Widersprüche bei ihm, aber ich glaube nicht, dass man das aus der Person erklären kann. Dann müsste er ja also unglaubliche Wandlungen innerhalb weniger Jahre ständig vollzogen haben. Bei ihm gibt es verschiedene Positionen, aber es ist ja doch auch ein sehr, wie soll ich sagen, auch ein sehr kämpferischer Demokrat gewesen. Er hat ja auch immer sehr in die Tagespolitik oder in das Tagesgeschehen versucht einzugreifen. Und das ist, glaube ich, uninteressant zu sagen, da ist jemand so und dann ist er so, und deshalb schreibt er jetzt anders. Sicherlich spielt das immer eine Rolle, aber viel wichtiger ist, dass er sagt, wenn ich jetzt mir etwas vornehme, ich schreibe jetzt über November 1918, dass das dann anders klingt, als wenn ich zehn Jahre später versuche, Berlin zu beschreiben, oder wenn ich versuche, über den Zweiten Weltkrieg zu schreiben.
Ohne das jetzt gegeneinander ausspielen zu wollen, aber wenn man Thomas Mann nimmt, wo man weiß nach drei, vier Sätzen, das kann eigentlich nur Thomas Mann sein, aber ihm ist dann auch so eine ganz eigene Zeit eigen. Im Prinzip geht das nicht über den Ersten Weltkrieg hinaus. Es gibt dann noch den "Doktor Faustus", aber da wird es schon schwierig mit der Ironie, das ist dann so ein Sonderfall. Aber im Prinzip ist bei Thomas Mann mit dem Ersten Weltkrieg Schluss.
Und das ist halt, das sieht man, das ist bei Döblin ganz anders. Und interessant ist daran natürlich auch für mich diese Episierung, die ja Brecht eigentlich von Döblin übernommen aus der Prosa, entwickelt fürs Theater. Und für mich ist es natürlich als Prosaautor auch wunderbar, dass bei Döblin so ein Episierer zu haben.
Meyer: Was ich nicht verstanden habe an der Person Alfred Döblin, der große Modernist und Skeptiker und Jude, als den man ihn findet so in den 20er, 30er Jahren, am 30. November 1941 tritt er zusammen mit seiner Familie zum Katholizismus über. Haben Sie dafür eine Erklärung?
Schulze: Ach, ich weiß nicht, ob man das so erklären kann. Ich bin kein Katholik, ich bin kein Gläubiger, also mir liegt diese Entscheidung auch nicht unbedingt sehr nahe. Aber ich will es nicht darauf reduzieren, da weiß ich auch zu wenig, aber er war extrem vereinsamt. Er lebte ja in den USA von Sozialhilfe, und die Zukunft ‛41 sah ja nun auch nicht besonders rosig aus. Und dass man da irgendwo einen Halt sucht, das ist mir gar nicht so fremd. Wie gesagt, ich will das nicht darauf reduzieren, aber das wäre für einen Atheisten ein möglicher Erklärungsversuch.
Meyer: Deutschlandradio Kultur, ich bin im Gespräch mit dem Schriftsteller Ingo Schulze über seinen Kollegen Alfred Döblin, der heute vor 50 Jahren gestorben ist. Ingo Schulze, es gibt jetzt eine neue Hörspielversion von Döblins Roman "Berlin Alexanderplatz", bei der sind auch die Schriftsteller Thomas Brussig, Tanja Dückers und Judith Hermann als Sprecher zu hören. Wir sprechen gerade miteinander über Döblin. Gibt es heute eine verbreitete Verehrung unter Ihren Kollegen für Alfred Döblin?
Schulze: Ich weiß es doch von einigen, für die er sehr wichtig ist, und das hängt, wie gesagt, mit diesem immer neu ansetzen zusammen, aber für mich ist er eigentlich ein Patron.
Meyer: Das war ja nach dem Zweiten Weltkrieg, Sie haben es schon ein bisschen angedeutet, doch deutlich anders. Er hat damals sehr lange nach Verlagen gesucht für seine Bücher, die in der Exilzeit entstanden sind. Er ist sehr früh nach Deutschland zurückgekehrt, hat das Land dann aber wieder verlassen, war ganz enttäuscht über das Nachkriegsdeutschland im Osten und im Westen auch. Er ist noch einmal emigriert nach Frankreich und hat 1953 an den Bundespräsidenten Theodor Heuss geschrieben: "Ich bin in diesem Land überflüssig." Wenn Sie darüber nachdenken, warum er damals in Deutschland nicht wieder heimisch geworden ist, verstehen Sie das?
Schulze: Im Prinzip ist es natürlich nicht zu verstehen. Also wenn man jemanden brauchte, dann jemanden wie Döblin. Aber so war eben offenbar die Zeit. Man brauchte immer fürchterlich viel Zeit, um über das, was da gerade geschehen ist, zu sprechen. Das ist ja auch in Deutschland nicht anders, das brauchte 15, 20 Jahre. Manches wird erst heute sagbar oder über manches kann vielleicht heute noch nicht mal sprechen. Aber es war halt ein großer Versuch, gleich wieder zu kommen.
Und wenn man sich vorstellt, wie das ist, also man muss aus eigentlich einer doch zivilisierten Stadt wie Berlin fliehen, um sein Leben zu retten, das ist ja beschrieben in seiner Schicksalsreise, was er da alles durchmacht, und sein Sohn ist im Krieg gefallen, und die Verwandtschaft ist vergast worden. Und dann kommt einer eben wieder zurück und empfindet sich als überflüssig. Wobei man ihn eben gerade braucht, aber es ist einfach noch nicht die Zeit dafür da gewesen offenbar. Er hat ja doch auch einiges schon bewirkt, er hat eine Zeitschrift rausgegeben, er hat in Mainz die Akademie gegründet und jemand wie Arno Schmidt beispielsweise hat sich an Döblin gewandt. Also es ist da nicht nichts passiert, aber es waren halt doch immer Sachen, die er gegen etwas durchsetzen musste.
Meyer: Heute ist ja fast nur noch dieser Roman "Berlin Alexanderplatz" bekannt. So großartig der ist, was sagen Sie, was sollte man noch kennen von Alfred Döblin? Welche seiner Bücher finden Sie darüber hinaus richtig aufregend?
Schulze: Der beste Einstieg sind vielleicht seine wunderbaren Erzählungen, auch Kurzerzählungen. Also die berühmteste ist ja der "Tod der Butterblume". Mein Lieblingsbuch ist "Wadzeks Kampf mit der Dampfturbine", was, ich glaube, 1920 oder ‛18 erschienen ist, also so ein Konkurrenzkampf zwischen zwei Unternehmern. Eigentlich sollte man alles lesen, aber wenn ich noch eine Empfehlung sagen dürfte, dann wäre das für mich "November 1918", das steht für mich so in der Reihe mit dann später Johnsons "Jahrestage" oder "Die Ästhetik des Widerstands" von Peter Weiss. Das sind so große Dinge, wo man etwas über eine Zeit erfährt und wie man das auf eine andere Art gar nicht erfahren kann.
Meyer: Heute vor 50 Jahren ist der Schriftsteller Alfred Döblin gestorben. Über ihn habe ich mit dem Autoren Ingo Schulze gesprochen. Ich danke Ihnen sehr.