Fukushima

Wie Katastrophen kulturell gedeutet werden

Am vierten Jahrestag erinnert eine Frau in Fukushima mit Blumen an die Reaktorkatastrophe.
Am vierten Jahrestag erinnert eine Frau in Fukushima mit Blumen an die Reaktorkatastrophe. © dpa / picture alliance / Kimimasa Mayama
Moderation: Nana Brink |
Vulkanausbrüche, Erdbeben, Reaktorunfälle - wie eine Gesellschaft mit Katastrophen umgeht, hängt stark vom kulturellen Hintergrund ab, meint der Historiker Gerrit Jasper Schenk. In Japan sehe man sie häufig als Chance für einen Neubeginn.
Vor vier Jahren löste ein Tsunami die Reaktorkatastrophe von Fukushima aus. Hätte dieses Ereignis in Europa stattgefunden, hätten es die Betroffenen möglicherweise anders erlebt. Denn wie eine Gesellschaft mit Katastrophen umgeht, hängt stark von kulturellen Deutungsmustern ab, meint der Historiker Gerrit Jasper Schenk. "Hier im Westen, in europäischen Kulturkreisen, ist sehr verbreitet das Muster der Mahnung, Mahnung umzukehren, Buße zu tun."
"Erdbebennation" Japan: Die Katastrophe als Chance
Bis zur Aufklärung sei außerdem das Muster der "Gottesstrafe" verbreitet gewesen, das inzwischen säkularisiert worden sei zur Strafe der Natur, "die sozusagen zurückschlägt, weil man etwas übersehen hat."
In der japanischen Kultur gebe es eine lange gemeinsame Geschichte im Umgang mit Erdbeben und Tsunamis, sagt Schenk. "Es gibt Forscher, die haben Japan auch als Erdbebennation bezeichnet. Und auch dort gibt es kulturelle Deutungsmuster, die in einem Erdbeben eben auch wieder einen Neuanfang sehen, eine Chance zu einem Neubeginn."

Das Interview im Wortlaut:
Nana Brink: Japan gedenkt der Opfer der Tsunami-Katastrophe von vor genau vier Jahren, bei dem infolge der Flutwelle ausgelösten Gau in Fukushima kam zwar niemand direkt ums Leben, aber wir wissen, dass immer mehr Menschen an den gesundheitlichen Folgen der Strahlung ja sterben. Es ist also ein schleichender Tod, eine schleichende Katastrophe. Das Seebeben und der Tsunami, der diesem Gau vorausging, der war sehr direkt und unmittelbar spürbar.
Und wie wir Katastrophen erleben, damit hat sich Professor Gerrit Jasper Schenk ausführlich beschäftigt, unter anderem für die Ausstellung in Mannheim, "Von Atlantis bis heute. Mensch, Natur, Katastrophe". Und die ist gerade zu Ende gegangen. Guten Morgen!
Gerrit Jasper Schenk: Guten Morgen!
Brink: Gibt es denn durch die Zeiten und auch die Kulturen hinweg so etwas wie einen roten Faden, der den Umgang mit Katastrophen auszeichnet?
Der Katastrophe Sinne geben: Mahnung, Prüfung, Chance
Schenk: Ja, Sie haben das Stichwort schon genannt. Es geht bei dem menschlichen Umgang tatsächlich um einen gemeinsamen Versuch in eigentlich allen Kulturen und über alle Zeiten hinweg, der Katastrophe, diesem jäh hereinbrechenden, entsetzlichen Ereignis, Sinn zu geben. Das kann allerdings kulturell sehr unterschiedlich ausfallen. Also, hier im Westen, in europäischen Kulturkreisen ist sehr verbreitet das Muster der Mahnung, Mahnung, umzukehren, Buße zu tun, da ist was falsch gelaufen, oder der Strafen, Gottesstrafen bis weit in das aufklärerische Zeitalter hinein oder säkularisiert als die Strafe der Natur, die sozusagen zurückschlägt, weil man etwas übersehen hat.
Aber es gibt natürlich auch andere kulturelle Deutungsmuster, die zum Beispiel von der Chance zum Neubeginn reden. Und Sie haben Japan genannt: In der japanischen Kultur gibt es eine lange Geschichte, gemeinsame Geschichte mit Erdbeben und Tsunamis. Es gibt Forscher, die haben Japan auch als "Erdbebennation" bezeichnet. Und auch dort gibt es kulturelle Deutungsmuster, die in einem Erdbeben eben auch wieder einen Neuanfang sehen, eine Chance zu einem Neubeginn.
Brink: Also eine ganz unterschiedliche Interpretation. Hat das dann doch sehr viel mit der Kultur zu tun, in der diese Katastrophe passiert? Sie haben gesagt, im Westen ist es eher dieses Einbrechen der Natur – das ist ja auch was Biblisches, was wir schon aus der Bibel kennen, also die Plagen, während das ja dann in Japan ganz anders interpretiert wird.
Schenk: Ja, ich glaube, das sind eben die Dinge, die man sich vor Augen halten muss, dass wir alle in kulturellen Traditionen stehen, die aber sehr unterschiedliche Deutungsmuster anbieten. Das kann, wie gesagt, auch die Interpretation als Prüfung sein. Im Westen, biblisch geprägt, die Erzählung von Hiob, der von Gott geprüft wird. Aber es gibt selbstverständlich auch ganz andere Erzählungen, zum Beispiel die Interpretation, dass hier jemand schuldig ist, das "Blame Game", das wir aus der Gegenwart auch kennen, wer ist verantwortlich für die Katastrophe – nicht jetzt für das Erdbeben oder den Tsunami, sondern dafür, dass das so entsetzliche Auswirkungen hat. Also die Suche nach Schuldigen. Und das kann in ganz unterschiedliche Richtungen gehen.
Manche Katastrophen werden verdrängt
Es gibt selbstverständlich auch das kulturelle Deutungsangebot, das so eine Krise oder Katastrophe die Möglichkeit der Bewährung ist. Eine Gesellschaft, die solidarisch zusammenhält und diese Prüfung besteht, das ist alles möglich. Und, leider auch, gibt es das kulturelle Muster, dass dieses schreckliche, hereinbrechende Ereignis verdrängt. Davon wissen wir dann relativ wenig, wenn es zeitlich weit zurückliegende Katastrophen sind, weil wir dann schlicht keine Quellen darüber haben. Wir kennen es aber in der Praxis, in der kulturellen Praxis, dass zum Beispiel immer wieder in gefährlichen Regionen gesiedelt wird, obwohl man weiß, dass die Gefahr dort besteht. Denken Sie in Europa an die Zone, die rote Zone um den Vesuv, einen hochgefährlichen Vulkan. Und man kann natürlich in Ostasien auch Regionen nennen, die sehr gefährlich sind und die trotzdem immer wieder besiedelt werden. Das hängt natürlich damit zusammen, dass man oft auch eine Kosten-Nutzen-Abwägung macht, also bewusst Risiken eingeht.
Brink: Das führt mich dann zu dieser Frage, werden denn auch Katastrophen instrumentalisiert?
Schenk: Ich glaube, das gehört zu diesem kulturellen Umgang mit Katastrophen dazu, dass sie die Möglichkeit bieten, auch politisch instrumentalisiert zu werden. Fast immer ist eben, stellt die Katastrophe so diese Gretchenfrage, wie gehen wir jetzt damit um? Dann gibt es zum Beispiel auch Politiker, die sich als Krisenmanager bewähren. Das lässt sich schon ganz früh beobachten, zum Beispiel beim Vesuv-Ausbruch 79 nach Christus, als Pompeji begraben wird, hat sich Titus als fähiger Krisenmanager sozusagen inszeniert. Und man könnte durchaus davon sprechen, dass er das auch instrumentalisiert für die eigene Politik.
Das "Blame Game": Die Suche nach Sündenböcken
Aber es geht dann auch nicht immer nur um Heldengeschichten, sondern es geht auch darum, dass bei diesem "Blame Game" dann zum Beispiel Randgruppen beschuldigt werden, an der Katastrophe schuld zu sein oder sie noch verstärkt zu haben. Also jetzt mit Blick auf Japan, nach dem großen Kanto-Erdbeben 1923, das wirklich ganz verheerend wirkte und vor allen Dingen durch nachfolgende Brände hunderttausend Tote kostete, da wurden koreanische Gastarbeiter oder koreanische Migranten zeitweise dafür verantwortlich gemacht, zu plündern oder sogar Brände selbst zu legen. Die Regierung hat dann natürlich eingegriffen nach einer Weile und diese Verfolgung dieser Randgruppe versucht zu unterbinden. Aber da sieht man, dass Kulturen ganz unterschiedlich reagieren können und leider eben auch die Instrumentalisierung eine fast zwingende Folge einer Katastrophe ist. Allerdings, vielleicht muss man sagen, dass das hoch ambivalent ist. Wenn reagiert wird, kann ja durchaus auch positiv reagiert werden. Denken Sie an Prävention.
Brink: Der Historiker Gerrit Jasper Schenk. Schönen Dank für Ihre Einlassungen zur Katastrophe. Er hat die Ausstellung auch in Mannheim kuratiert: "Von Atlantis bis heute. Mensch, Natur, Katastrophe". Danke, Herr Schenk, für Ihre Zeit!
Schenk: Gern geschehen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema