Fundsache Vivian Maier
Die Hinterlassenschaften einer Einzelgängerin, die in ihrem Leben 100.000 Bilder fotografierte, aber keines veröffentlichte, sind die jüngste Entdeckung in der Street-Photography-Szene. Nun bekommt die Amerikanerin Vivian Maier in Chicago posthum ihre erste Ausstellung in einem Museum.
In den langen Schatten der Wolkenkratzer von Städten wie New York oder Chicago leben viele eigenwillige Charaktere. Kaum jemandem sind sie mehr als nur einen kurzen Blick wert. Und noch weniger Menschen würden auf die Idee kommen, sie im großen Stil zu fotografieren. Für Vivian Maier jedoch waren sie das Thema. Flüchtige Gestalten, die sie zu Tausenden auf Film festhielt.
Ein Festhalten im wahrsten Sinne des Wortes. Als sie vor etwas mehr als einem Jahr in einem Pflegeheim in einem Vorort von Chicago im Alter von 83 Jahren starb, allein, ohne Verwandte und ohne Kinder, kannte so gut wie niemand ihren Namen. Denn aus ihrer Leidenschaft für "Street Photography” – Straßenfotografie – hatte sie ihr Leben lang ein Geheimnis gemacht:
"Wie sie hier einzog, das war ja unglaublich. Sie brachte einen ganzen kleinen Lastwagen voller Schachteln mit sich und sagte: 'Das ist mein Leben und das muss bei mir bleiben.' Eine sehr exzentrische, ältere Dame. Fast ein bisschen männlich in ihrem Verhalten. Sie ging nie aus dem Haus ohne ihre Kamera um den Hals."
Das ist Maren Baylaender, in Hamburg geboren und vor Jahrzehnten in die USA ausgewandert. Sie gehört zu den wenigen Menschen, die man nach Vivian Maier fragen kann. Ihre Wege kreuzten sich in den 90er-Jahren, als die Baylaenders eine Kinderschwester suchten. Man wohnte vier Jahre gemeinsam unter einem Dach.
Wie Vivian Maiers Leben in diesen Schachteln aussah, die sich in ihrem Zimmer und in einem Abstellraum im Keller bis unter die Decke auftürmten, wusste die Familie nicht. Was sich in den Schachteln verbarg, wäre sicher noch immer ein Geheimnis, wenn es nicht diesen einen ganz besonderen Moment gegeben hätte, in dem Maiers Talent entdeckt wurde, - der Auslöser dafür, dass in diesen Monaten gleich an mehreren Orten und in mehreren Ausstellungen Licht auf Maiers Existenz geworfen wird.
Die wichtigste beginnt am 7. Januar im Chicago Cultural Center und hat den vieldeutigen und zugleich sehr passenden Titel "Finding Vivian Maier". Gefunden hat sie ein junger Immobilienmakler in Chicago, der ursprünglich nur wenig von künstlerischer Fotografie verstand, bei einer dieser alltäglichen Versteigerungen von Wertsachen und Haushaltsauflösungen. John Maloof, so heißt der Finder, bezahlte 400 Dollar für die erste Kiste mit Negativen auf der Suche nach preiswertem Illustrationsmaterial, weil er sich mit einem Buchprojekt über den Stadtteil beschäftigte, in dem er lebt.
Das stellte sich als Fehlgriff heraus. Stattdessen entdeckte er etwas sehr viel Wertvolleres: die Hinterlassenschaft einer Straßenfotografin, über deren Lebensstil und deren künstlerischen Ambitionen nur Bruchstücke bekannt sind. Und die kamen nur deshalb ans Tageslicht, weil Maloof wie ein Detektiv zu recherchieren begann und dabei auch die Baylaenders aufspürte.
Das Mysterium ließ sich dadurch zu einem Gutteil aufhellen. Vivian Maier war die Tochter von Einwanderern mit französischen und österreichischen Wurzeln, die nach ihrer Geburt in New York ihre Jugend in Frankreich verbrachte und 1951 in die USA zurückkehrte. Als Autodidaktin im Umgang mit der Rolleiflex begann sie in den 50er-Jahren, zunächst in New York und dann in Chicago, Schwarz-Weiß-Bilder zu produzieren.
Irgendwann fand sie ihren Stil. Der erinnert teilweise an das Chicagoer Institute of Design und seine einflussreichen Fotografen Harry Callahan und Aaron Siskind. In anderen Bildern entdeckt man das visuelle Gespür einer Lisette Model und ihrer Schülerin Diane Arbus. Bis heute hat Maloof nur ein Zehntel seiner inzwischen durch weitere Ankäufe auf 100.000 Aufnahmen angewachsenen Kollektion durchgesehen. Zu den noch nicht ausgewerteten Posten gehören unter anderem Kisten voller Filmpatronen mit unentwickeltem Material.
Vivian Maier starb verarmt und war sicher nicht sehr lebenstüchtig. In einigen Schachteln entdeckte Maloof ungeöffnete Briefe mit Schecks von der amerikanischen Rentenversicherung. Die Frau, die niemanden wirklich an sich heranließ und die es vorzog, ihre künstlerische Arbeit mit niemandem zu teilen, nahm am Ende all das mit ins Grab, was ihren Blick auf die Welt erklären könnte. John Maloof:
"Weshalb sie das nie jemandem gezeigt hat? Ich kann nur vermuten, dass irgendetwas in ihrer Vergangenheit passiert ist, weshalb sie keinen Kontakt zu ihrer Familie hatte, weshalb sie kein Liebesleben hatte, kein Kind, nie verheiratet war. Das war vermutlich ihr emotionales Ventil, ihre Freiheit. Sie hätte sich sonst öffnen müssen für Kritik und Enttäuschungen. Ich glaube, deshalb wollte sie die Bilder niemandem zeigen."
Dabei gibt es durchaus Hinweise auf eine narzistische Komponente. Zu ihren Bildern gehören eine ganze Reihe von Porträts, in denen sie sich im Spiegel oder im Schaufenster ablichtete - die Augen auf unendlich gestellt, das längliche Gesicht mit der ausgeprägten Nase sanft und abweisend zugleich.
Dieses Gesicht steht derzeit vor allem als Symbol für etwas anderes: für die Geschichte der Entdeckung ihrer Kartons und der Weg ihrer künstlerischen Arbeit aus der Anonymität hinein in die Öffentlichkeit. Es ist auch eine Geschichte über eine Kommunikationskultur, die Vivian Maier sicher nicht verstanden hätte. So nutzte John Maloof am Anfang die Webseite Flickr und das dortige "Hardcore Street Photography”-Forum, um sich einen Reim darauf zu machen, was er da eigentlich gefunden hatte.
""Ich habe dort in einer Notiz gefragt: 'Was soll ich mit diesem Zeug machen? Hat das einen Wert? Wäre das etwas für Bücher oder Ausstellungen?' Und habe dort meine Webseite mit vielen ihrer Bilder verlinkt. So fing es an.”"
Die Reaktion war positiv. Denn Anhänger des von Maier praktizierten Credos, einfach das unverstellte Leben zu fotografieren, ohne vorgefertigte Bilder im Kopf und ohne ein Interesse daran, das Geschehen zu choreografieren, sahen gleich, was Lanny Sullivan, der Kurator der Ausstellung im Chicago Cultural Center, sagt:
""There's about 15 photos of the 80 we are showing that I think rank up with anybody, any of the great names.”"
Auf Deutsch: 15 der 80 Aufnahmen in der Ausstellung sind so gut wie die von berühmten Street Photography-Vertretern.
Maloof will derweil weiter machen, einen Dokumentarfilm fertigstellen und ein Buch herausbringen. Über Vivian Maiers Platz im Pantheon der Fotokunst werden andere entscheiden.
Service:
Eine Auswahl von mehr als 80 Bildern zeigt die Galerie Hilaneh von Kories in Hamburg-Altona vom 27. Januar bis 28. April 2011.
Galerie Hilaneh von Kories
Stresemannstr. 384a (im Hof)
22761 Hamburg
Öffnungszeiten: Di bis Fr 14.00 bis 19.00 und nach Vereinbarung
Tel.: 040/423 20 10
Mehr zur Ausstellung in der Galerie Hilaneh von Kories, Hamburg
Mehr zur Ausstellung im Chicago Cultural Center
Mehr zu Vivian Maier und ihren Fotographien
Ein Festhalten im wahrsten Sinne des Wortes. Als sie vor etwas mehr als einem Jahr in einem Pflegeheim in einem Vorort von Chicago im Alter von 83 Jahren starb, allein, ohne Verwandte und ohne Kinder, kannte so gut wie niemand ihren Namen. Denn aus ihrer Leidenschaft für "Street Photography” – Straßenfotografie – hatte sie ihr Leben lang ein Geheimnis gemacht:
"Wie sie hier einzog, das war ja unglaublich. Sie brachte einen ganzen kleinen Lastwagen voller Schachteln mit sich und sagte: 'Das ist mein Leben und das muss bei mir bleiben.' Eine sehr exzentrische, ältere Dame. Fast ein bisschen männlich in ihrem Verhalten. Sie ging nie aus dem Haus ohne ihre Kamera um den Hals."
Das ist Maren Baylaender, in Hamburg geboren und vor Jahrzehnten in die USA ausgewandert. Sie gehört zu den wenigen Menschen, die man nach Vivian Maier fragen kann. Ihre Wege kreuzten sich in den 90er-Jahren, als die Baylaenders eine Kinderschwester suchten. Man wohnte vier Jahre gemeinsam unter einem Dach.
Wie Vivian Maiers Leben in diesen Schachteln aussah, die sich in ihrem Zimmer und in einem Abstellraum im Keller bis unter die Decke auftürmten, wusste die Familie nicht. Was sich in den Schachteln verbarg, wäre sicher noch immer ein Geheimnis, wenn es nicht diesen einen ganz besonderen Moment gegeben hätte, in dem Maiers Talent entdeckt wurde, - der Auslöser dafür, dass in diesen Monaten gleich an mehreren Orten und in mehreren Ausstellungen Licht auf Maiers Existenz geworfen wird.
Die wichtigste beginnt am 7. Januar im Chicago Cultural Center und hat den vieldeutigen und zugleich sehr passenden Titel "Finding Vivian Maier". Gefunden hat sie ein junger Immobilienmakler in Chicago, der ursprünglich nur wenig von künstlerischer Fotografie verstand, bei einer dieser alltäglichen Versteigerungen von Wertsachen und Haushaltsauflösungen. John Maloof, so heißt der Finder, bezahlte 400 Dollar für die erste Kiste mit Negativen auf der Suche nach preiswertem Illustrationsmaterial, weil er sich mit einem Buchprojekt über den Stadtteil beschäftigte, in dem er lebt.
Das stellte sich als Fehlgriff heraus. Stattdessen entdeckte er etwas sehr viel Wertvolleres: die Hinterlassenschaft einer Straßenfotografin, über deren Lebensstil und deren künstlerischen Ambitionen nur Bruchstücke bekannt sind. Und die kamen nur deshalb ans Tageslicht, weil Maloof wie ein Detektiv zu recherchieren begann und dabei auch die Baylaenders aufspürte.
Das Mysterium ließ sich dadurch zu einem Gutteil aufhellen. Vivian Maier war die Tochter von Einwanderern mit französischen und österreichischen Wurzeln, die nach ihrer Geburt in New York ihre Jugend in Frankreich verbrachte und 1951 in die USA zurückkehrte. Als Autodidaktin im Umgang mit der Rolleiflex begann sie in den 50er-Jahren, zunächst in New York und dann in Chicago, Schwarz-Weiß-Bilder zu produzieren.
Irgendwann fand sie ihren Stil. Der erinnert teilweise an das Chicagoer Institute of Design und seine einflussreichen Fotografen Harry Callahan und Aaron Siskind. In anderen Bildern entdeckt man das visuelle Gespür einer Lisette Model und ihrer Schülerin Diane Arbus. Bis heute hat Maloof nur ein Zehntel seiner inzwischen durch weitere Ankäufe auf 100.000 Aufnahmen angewachsenen Kollektion durchgesehen. Zu den noch nicht ausgewerteten Posten gehören unter anderem Kisten voller Filmpatronen mit unentwickeltem Material.
Vivian Maier starb verarmt und war sicher nicht sehr lebenstüchtig. In einigen Schachteln entdeckte Maloof ungeöffnete Briefe mit Schecks von der amerikanischen Rentenversicherung. Die Frau, die niemanden wirklich an sich heranließ und die es vorzog, ihre künstlerische Arbeit mit niemandem zu teilen, nahm am Ende all das mit ins Grab, was ihren Blick auf die Welt erklären könnte. John Maloof:
"Weshalb sie das nie jemandem gezeigt hat? Ich kann nur vermuten, dass irgendetwas in ihrer Vergangenheit passiert ist, weshalb sie keinen Kontakt zu ihrer Familie hatte, weshalb sie kein Liebesleben hatte, kein Kind, nie verheiratet war. Das war vermutlich ihr emotionales Ventil, ihre Freiheit. Sie hätte sich sonst öffnen müssen für Kritik und Enttäuschungen. Ich glaube, deshalb wollte sie die Bilder niemandem zeigen."
Dabei gibt es durchaus Hinweise auf eine narzistische Komponente. Zu ihren Bildern gehören eine ganze Reihe von Porträts, in denen sie sich im Spiegel oder im Schaufenster ablichtete - die Augen auf unendlich gestellt, das längliche Gesicht mit der ausgeprägten Nase sanft und abweisend zugleich.
Dieses Gesicht steht derzeit vor allem als Symbol für etwas anderes: für die Geschichte der Entdeckung ihrer Kartons und der Weg ihrer künstlerischen Arbeit aus der Anonymität hinein in die Öffentlichkeit. Es ist auch eine Geschichte über eine Kommunikationskultur, die Vivian Maier sicher nicht verstanden hätte. So nutzte John Maloof am Anfang die Webseite Flickr und das dortige "Hardcore Street Photography”-Forum, um sich einen Reim darauf zu machen, was er da eigentlich gefunden hatte.
""Ich habe dort in einer Notiz gefragt: 'Was soll ich mit diesem Zeug machen? Hat das einen Wert? Wäre das etwas für Bücher oder Ausstellungen?' Und habe dort meine Webseite mit vielen ihrer Bilder verlinkt. So fing es an.”"
Die Reaktion war positiv. Denn Anhänger des von Maier praktizierten Credos, einfach das unverstellte Leben zu fotografieren, ohne vorgefertigte Bilder im Kopf und ohne ein Interesse daran, das Geschehen zu choreografieren, sahen gleich, was Lanny Sullivan, der Kurator der Ausstellung im Chicago Cultural Center, sagt:
""There's about 15 photos of the 80 we are showing that I think rank up with anybody, any of the great names.”"
Auf Deutsch: 15 der 80 Aufnahmen in der Ausstellung sind so gut wie die von berühmten Street Photography-Vertretern.
Maloof will derweil weiter machen, einen Dokumentarfilm fertigstellen und ein Buch herausbringen. Über Vivian Maiers Platz im Pantheon der Fotokunst werden andere entscheiden.
Service:
Eine Auswahl von mehr als 80 Bildern zeigt die Galerie Hilaneh von Kories in Hamburg-Altona vom 27. Januar bis 28. April 2011.
Galerie Hilaneh von Kories
Stresemannstr. 384a (im Hof)
22761 Hamburg
Öffnungszeiten: Di bis Fr 14.00 bis 19.00 und nach Vereinbarung
Tel.: 040/423 20 10
Mehr zur Ausstellung in der Galerie Hilaneh von Kories, Hamburg
Mehr zur Ausstellung im Chicago Cultural Center
Mehr zu Vivian Maier und ihren Fotographien