Furcht und Schrecken im Russland des 21. Jahrhunderts
Im Jahr 2027 herrscht in Russland Willkür und Gewalt, nationale Rhetorik entpuppt sich als blanke Propaganda. Vladimir Sorokin entwirft in seinem satirischen Roman "Der Tag des Opritschniks" ein dunkles Zukunftsszenario und schreibt sich seinen Frust über die aktuellen Zustände von der Seele.
Das Beunruhigende an satirischen oder apokalyptischen Zukunftsentwürfen ist ihre gefühlte Nähe zur Gegenwart. Die ausgemalten Bilder des Kommenden sind umso bedrängender, je genauer man ihre Entwürfe schon jetzt vor der Haustür betrachten kann. Große Autoren wie Jewgeni Samjatin, George Orwell oder Aldous Huxley haben diese Nachbarschaft von Gegenwart und Zukunft in ihren legendären antiutopischen Texten inszeniert.
Vladimir Sorokin reichert seinen dunklen Zukunftsentwurf für Russland mit einem tiefen Blick in die Vergangenheit an. Die Opritschnina war im 16. Jahrhundert ein von Iwan IV., dem Schrecklichen, gebildeter Bund von absolut loyalen Dienstadeligen, den er als Gegengewicht zum Erb- und Hochadel und zur Kirche einsetzte, um seine politischen Vorstellungen durchzusetzen. Das konnte nur funktionieren, weil die Opritschniki zugleich die Rolle einer Art Leibgarde ausübten, einer Sonderpolizei, die, mit obersten Befugnissen des Herrschers ausgestattet, dessen Willen exekutieren konnte.
Die Parallelen zum heutigen Russland liegen auf der Hand: Namen von Personen wie Beresowski, Chodorkowski, Politkowskaja, Kasparow oder Litwinenko haben aller Welt vorgeführt, auf welch fragwürdige Weise im Noch-Putin-Russland große Karrieren aufgebaut oder zerstört werden, Leben ermöglicht oder Tode befohlen werden, Demokratie gepredigt und Willkür ausgeübt wird. Dies und das unverhohlen restaurative geistige Klima, das um Begriffe wie "nationale Idee" oder "Russentum" kreist, das vergangenheitsseligen Kitsch in Kunst und Architektur und selbst in den unsäglichen Namen politischer Gruppierungen hervorbringt, waren der Ausgangspunkt für Sorokins befreienden Roman, in dem sich der Autor erkennbar seinen Frust von der Seele geschrieben hat.
Er verlängert die Mixtur aus Vergangenheit und Gegenwart ins Jahr 2027 und begleitet einen Opritschnik des 21. Jahrhunderts durch dessen Arbeitstag. Historisches – die Kleidung etwa – mischt sich mit futuristischen High-Tech-Elementen wie Autos, hologrammartigen Medien oder sehr speziellen Drogen, die bislang nicht erfunden wurden. Der Schwerpunkt liegt auf den Ritualen des Vergangenen. Denn so, wie die originale Opritschnina Furcht und Schrecken verbreitete, indem sie sich an keine allgemein gültigen Gesetze zu halten brauchte und nur ihre eigenen exekutierte, so auch handelt ihre restaurierte Nachfolgeorganisation. Sie tötet auf Befehl, sie vergewaltigt und brandschatzt, sie besorgt Liebhaber für die "Gossudarin", und sie gewährt Gnade – gegen Geld freilich – und mauschelt überhaupt nebenher in ihrem eigenen Interesse.
Alle patriotischen Phrasen, die der Ich-Erzähler, der Opritschnik Andrej Danilowitsch, in seinem Gedanken-Monolog von sich gibt, all das hehre Beschwören der Beschaffenheit der Russen, das Reden über Recht und Ordnung, über eine scheinbar geregelte und funktionierende Gesellschaft, wird nach und nach enthüllt als das, was es ist: eine hohle Propaganda, die einen komplett rechtsfreien Raum nur notdürftig zu verhüllen sucht.
Sorokins Satire verstört umso nachhaltiger, als sie eine lange historische Linie der Willkür und Gewalt, die auch deutliche Anklänge an den Stalinismus aufweist, in die Zukunft verlängert und dabei eine immer wieder diskutierte Frage neu stellt: Ist Russland überhaupt in der Lage, ohne eine "harte Hand" zu leben?
Rezensiert von Gregor Ziolkowski
Vladimir Sorokin: Der Tag des Opritschniks
Roman. Aus dem Russischen von Andreas Tretner
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008
220 Seiten, 18,95 Euro
Vladimir Sorokin reichert seinen dunklen Zukunftsentwurf für Russland mit einem tiefen Blick in die Vergangenheit an. Die Opritschnina war im 16. Jahrhundert ein von Iwan IV., dem Schrecklichen, gebildeter Bund von absolut loyalen Dienstadeligen, den er als Gegengewicht zum Erb- und Hochadel und zur Kirche einsetzte, um seine politischen Vorstellungen durchzusetzen. Das konnte nur funktionieren, weil die Opritschniki zugleich die Rolle einer Art Leibgarde ausübten, einer Sonderpolizei, die, mit obersten Befugnissen des Herrschers ausgestattet, dessen Willen exekutieren konnte.
Die Parallelen zum heutigen Russland liegen auf der Hand: Namen von Personen wie Beresowski, Chodorkowski, Politkowskaja, Kasparow oder Litwinenko haben aller Welt vorgeführt, auf welch fragwürdige Weise im Noch-Putin-Russland große Karrieren aufgebaut oder zerstört werden, Leben ermöglicht oder Tode befohlen werden, Demokratie gepredigt und Willkür ausgeübt wird. Dies und das unverhohlen restaurative geistige Klima, das um Begriffe wie "nationale Idee" oder "Russentum" kreist, das vergangenheitsseligen Kitsch in Kunst und Architektur und selbst in den unsäglichen Namen politischer Gruppierungen hervorbringt, waren der Ausgangspunkt für Sorokins befreienden Roman, in dem sich der Autor erkennbar seinen Frust von der Seele geschrieben hat.
Er verlängert die Mixtur aus Vergangenheit und Gegenwart ins Jahr 2027 und begleitet einen Opritschnik des 21. Jahrhunderts durch dessen Arbeitstag. Historisches – die Kleidung etwa – mischt sich mit futuristischen High-Tech-Elementen wie Autos, hologrammartigen Medien oder sehr speziellen Drogen, die bislang nicht erfunden wurden. Der Schwerpunkt liegt auf den Ritualen des Vergangenen. Denn so, wie die originale Opritschnina Furcht und Schrecken verbreitete, indem sie sich an keine allgemein gültigen Gesetze zu halten brauchte und nur ihre eigenen exekutierte, so auch handelt ihre restaurierte Nachfolgeorganisation. Sie tötet auf Befehl, sie vergewaltigt und brandschatzt, sie besorgt Liebhaber für die "Gossudarin", und sie gewährt Gnade – gegen Geld freilich – und mauschelt überhaupt nebenher in ihrem eigenen Interesse.
Alle patriotischen Phrasen, die der Ich-Erzähler, der Opritschnik Andrej Danilowitsch, in seinem Gedanken-Monolog von sich gibt, all das hehre Beschwören der Beschaffenheit der Russen, das Reden über Recht und Ordnung, über eine scheinbar geregelte und funktionierende Gesellschaft, wird nach und nach enthüllt als das, was es ist: eine hohle Propaganda, die einen komplett rechtsfreien Raum nur notdürftig zu verhüllen sucht.
Sorokins Satire verstört umso nachhaltiger, als sie eine lange historische Linie der Willkür und Gewalt, die auch deutliche Anklänge an den Stalinismus aufweist, in die Zukunft verlängert und dabei eine immer wieder diskutierte Frage neu stellt: Ist Russland überhaupt in der Lage, ohne eine "harte Hand" zu leben?
Rezensiert von Gregor Ziolkowski
Vladimir Sorokin: Der Tag des Opritschniks
Roman. Aus dem Russischen von Andreas Tretner
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008
220 Seiten, 18,95 Euro