Wenn ein Underdog auf einen Politprofi trifft
Im Mittelpunkt des nun uraufgeführten Stücks "Furor" von Lutz Hübner und Sarah Nemitz steht Jerry, ein enttäuschter Rechter. Der versucht, einen Polit-Profi, gespielt von Dietmar Bär, zu erpressen. So entsteht ein differenzierter Problemaufriss.
Heiko Braubach, Ministerialdirigent und Bürgermeister-Kandidat, überfährt im Berufsverkehr einen drogenabhängigen Jugendlichen, der als Schwarzfahrer aus der Straßenbahn springt. Braubach kann nichts dafür, macht aber trotzdem einen Entschuldigungsbesuch bei der unterprivilegierten Mutter des Jugendlichen, der beinamputiert auf der Intensivstation liegt. Deren etwa 30-jähriger Neffe Jerry kommt hinzu, ein Underdog, der bei einem Paketdienst jobbt, und stellt den Politprofi zur Rede, fordert Geld, bedroht ihn. Und stellt aus der Perspektive des Benachteiligten die gesamte repräsentative Demokratie in Frage.
Das ist das Setting in "Furor", dem neuen Stück von Lutz Hübner und Sarah Nemitz. Die beiden schreiben seit Jahren sehr erfolgreiche und gut recherchierte Theaterstücke, die gesellschaftliche Problemzonen beleuchten. Egal, ob eine angeblich progressive Wohngemeinschaft ein Zimmer für einen Flüchtling zur Verfügung stellen will oder ob osteuropäische Frauen nach Deutschland kommen, die hier dann ein Baby aussetzen – das Autorenpaar findet Bilder, Konstellationen, Geschichten für das, was im Politikteil der Zeitungen eher abstrakt bleibt.
Rechter Redeschwall voller Ressentiments
In "Furor", dem jetzt am Schauspiel Frankfurt uraufgeführten Werk, kommt erstmals ein tendenziell Rechtsradikaler ausführlich zu Wort. Denn wenngleich weite Teile seines Redeschwalls möglicherweise Haltungen größerer Teile dieser Gesellschaft widerspiegeln (das ist ja der Trick!), bekommt sein Klagelied durch Verletztheit und Ressentiment etwas stark Rechtslastiges.
Jerry will Braubach, den Politprofi, um Geld erpressen, Druck erzeugen, ihn im Netz bloßstellen: Er schneidet ihre Dialoge mit, bedroht ihn mit einem Messer. Und er will ihm die Armseligkeit seiner Politiker-Tätigkeit vorführen. Braubach wiederum lässt sich auf das Streitgespräch ein, erklärt, dass auch er sich mühsam hochgearbeitet hat, hält dem Ausgeschlossenen dessen resignatives Versagen vor.
Der Nachteil dieses Arrangements ist, dass zeitweise nur rhetorisch Argumente ausgetauscht werden – die zweistündige Aufführung hat in der Mitte einen ganz schönen Hänger. Andererseits werden mit dieser Methode auch die Ambivalenzen der Figuren sichtbar: Braubach verhält sich teilweise taktisch, ist aber tatsächlich einer mit Street Credibility. Jerry, der vom Leben enttäuschte Rechte, hat durchaus Grund zur Klage, steigert sich dann aber in eine Radikalität hinein, in der die reine Zerstörungswut regiert. Bis er am Schluss dann doch das Messer zusammenklappt und geht.
Sprechtheater ohne postmodernen Firlefanz
Die von Hübner und Nemitz angewandte Dramaturgie der "geschlossenen Türen", von Sartre und später von den englischen Psychorealisten ausführlich erprobt, bietet natürlich ganz konventionelles, biederes Sprechtheater ohne postmodernen Firlefanz. Aber diese Ernsthaftigkeit funktioniert auch auf der großen Bühne erstaunlich gut. Vor den riesigen Foto-Prospekt eines Massen-Wohn-Silos hat Bühnenbildnerin Lydia Merkel ein leeres IKEA-Wohnzimmer gebaut, in dem Intendant Anselm Weber ein politisches Kammerspiel inszeniert.
Der als Kölner Tatort-Kommissar bekanntgewordene Dietmar Bär spielt den Bürgermeister-Kandidaten und Politprofi als versierten Taktiker der Vernunft. Der ist sowohl körperlich als auch argumentativ sehr beweglich. Katharina Linder gibt eine resolute Unterschicht-Mutter, die keine Erwartungen mehr an das Leben hat, sondern sich als gelernte Altenpflegerin nun auf ein Dasein mit einem behinderten Sohn einstellt. Und der wunderbare Fridolin Sandmeyer macht aus dem rechtsradikalen Outcast einen sehr glaubwürdigen Verzweifelten, der eigentlich nur möchte, dass mal einer mit ihm redet. Seine Suada gegen die "Scheiß-Demokratie" und den "ganzen Wahnsinn" ist hinreichend geerdet, um noch Realitätsbezug zu haben. Andererseits hebt er dann ab in krude Rachegedanken.
Der schlaksige, riesenhaft große, turnerisch begabte Sandmeyer hat sich für die Rolle sogar einen extremen Kurzhaarschnitt verpasst. Er, der Böse, ist natürlich der Star des Abends. Die Aufführung ist ein differenzierter Problemaufriss – und ein Debattierangebot für die Frankfurter Stadtgesellschaft.