Nils Zurawski, geboren 1968, arbeitet als Wissenschaftler am Institut für kriminologische Sozialforschung der Universität Hamburg. Schwerpunkte seiner Arbeit: Überwachung, Polizei, Doping, Stadt. 2013 habilitierte er sich mit einer Arbeit zu Raumwahrnehmung, Überwachung und Weltbildern. Er bloggt unter surveillance-studies.org.
Ohne Publikum verliert der Sport seinen Zauber
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Wenn der Applaus aus der Konserve kommt und auf der Tribüne nur Pappkameraden sitzen: Für Nils Zurawski sind zuschauerfreie TV-Sportereignisse nur eine müde Simulation. Denn die großen Erzählungen des Sports funktionierten nur mit echtem Publikum.
Zuschauende waren schon immer ein elementarer Bestandteil des Sports, gerade bei Wettkämpfen. Das lässt sich bereits an den Arenen Athens und Spartas festmachen, wo es in den Stadien neben der Laufbahn auch reichlich Platz für das Publikum gab.
Das Publikum machte den Wettbewerb erst zu einem solchen, Athleten konnten sich zur Schau stellen und der jeweilige Stadtstaat seine Bedeutsamkeit demonstrieren. Der sportliche Wettkampf erzeugte im Publikum einen Gemeinschaftsgeist, der sich bis hin zur Politik auswirkte.
Sportspektakel waren Teil der römischen Staatsreligion
Ähnlich ging es im antiken Rom zu. Vor allem professionelle Sportler trugen hier in den großen Arenen ihre Wettkämpfe aus. Die Sportspektakel waren Teil der römischen Staatsreligion und schon deshalb elementar für das damalige Staats- und Herrschaftsverständnis.
Die Wettkämpfe dienten den Cäsaren als Forum, um ihre Macht zu demonstrieren und um den Zuschauern das Gefühl von Zugehörigkeit zu geben. Erst durch ihre Anwesenheit konnten der Sport und seine Akteure Heldengeschichten hervorbringen und zum Mythos werden. Nicht zufällig waren damals diese Erlebnisse in den Stadien und Arenen für die Zuschauer gratis.
Über die Jahrhunderte hat sich daran nichts geändert. Der sportliche Wettkampf war stets auf sein Publikum angewiesen. Die Grenzen zwischen Akteuren und Publikum waren dabei mitunter fließend, etwa beim britischen Shrovetide-Fußballspiel, einer wilden Mischung aus Spiel, Volksfest und Riesenrauferei zwischen zwei Dorfteilen.
Fan sein stiftet Identität
Auch bei der Entstehung des organisierten Sports, wie wir ihn heute kennen, war das Publikum unverzichtbar. In der industriellen Moderne kämpften die Helden der Arbeiter gegen die Vertreter der Vorstädter. Ihre Fans standen an den Seitenlinien und jubelten sie zu Siegen, waren stolz auf ihr Viertel und ihre Art zu leben, wie etwa beim Fußball.
Es bildeten sich neue Mythen und Erzählungen heraus, die den Zusammenhalt förderten und mit denen Politik gemacht werden konnte. Die Olympischen Spiele von Berlin 1936 haben auf perverse Weise gezeigt, wie sich ein Publikum und seine Anbetung der Helden demagogisch manipulieren lassen.
Die Liveübertragung der Sportspektakel im Fernsehen hat so manches verändert. Die Anwesenheit der Zuschauer im Stadion war nun nicht mehr unbedingt notwendig. Das half zwar der Verbreitung der Wettkämpfe, vor allem aber förderte es den Kommerz des Sportes. Sport wurde vermarktbar, weit über die Anwesenden in den Stadien hinaus. Die mediale Reichweite eines Wettkampfes wurde wichtiger als die Anzahl der Fans vor Ort.
Der kommerzielle Sport braucht nur den Fernsehzuschauer
Corona trieb diese Entwicklung auf die Spitze. Denn nun fehlt das die Atmosphäre prägende Publikum vollständig. Schaut man sich heute die Bundesliga im Fernsehen an, dann merkt man sofort, dass etwas nicht stimmt. Der Sound des Spiels und das Benehmen der Stars klingen kaum anders als auf dem Bolzplatz um die Ecke: Geschrei, das Alu scheppert, der Ball schlägt ins Netz. Der Mythos ist verloren, das Spiel entzaubert. Das eingespielte Klatschen und Raunen aus der Tonkonserve verfängt vor dem Fernseher nicht. Warum also?
Während der Sport die Zuschauer vor Ort braucht, um einen Zauber zu entfalten, braucht der Sport-Kommerz dieses Publikum nicht. Solange die Konsumenten an den TV-Endgeräten zu Hause sitzen, solange Werbung geschaltet werden kann und die Bilder für eine müde Simulation des echten Spektakels ausreichen, so lange also der Rubel rollt, sind die Zuschauer vor Ort durchaus verzichtbar. Die Posse um die Olympischen Spiele in Tokio, die das IOC auch ohne Publikum auf Biegen und Brechen veranstalten will, spricht ebenfalls Bände.
Währenddessen bleibt Sport mit vielen Menschen überall dort, wo er sich nicht kommerziell ausbeuten lässt, verboten. Dabei vermissen sich auch hier Zuschauer und Athletinnen/Athleten. Gegenseitig, selbstorganisiert, eine wichtige Gemeinschaft im Leben – gerade in einer Zeit, in der nicht nur der Körper, sondern auch die Seele kraftspendende Erlebnisse der Solidarität nötiger braucht denn je.