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"Es gibt einen latenten Stimmungsboykott"

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Die WM soll die "Copa das Copas", die Weltmeisterschaft der Weltmeisterschaften werden © picture alliance / dpa / Diego Azubel
Moderation: Katrin Heise |
Gerade ist Wolfram Eilenberger mit dem Autorennationalteam aus Brasilien zurückgekehrt. Er und seine Kollegen haben Lesungen in den Armutsvierteln veranstaltet und gemerkt: Das Unbehagen gegenüber der WM überwiegt.
Katrin Heise: Den Auftakt zur Fußball-WM in Brasilien machten die Autoren. In Brasilien trafen die Autorennationalmannschaften aufeinander und trennten sich null zu null. Mein Gast, Wolfram Eilenberger, kann man, glaube ich, getrost als eine Art Fußballphilosophen bezeichnen - eins seiner ersten Bücher hieß jedenfalls "Lob des Tores: 40 Flanken in Fußballphilosophie". Er besitzt eine Trainerlizenz und ist vielleicht auch einer der besseren Spieler unter den Autoren, aber das mag ich jetzt gar nicht beurteilen. Ich freue mich jedenfalls sehr, Wolfram Eilenberger, dass Sie Ihr Jetlag ignorierend nach der gestrigen Rückkehr gleich ins Studio gekommen sind. Schönen guten Tag!
Wolfram Eilenberger: Guten Morgen!
Heise: Null zu null, so darf ja das Endspiel in der WM sowieso nicht ausgehen, da muss es ja einen Sieger geben. Wie sind Sie zufrieden mit null zu null gegen Brasilien?
Eilenberger: Na, wir hatten das Hinspiel ja neun zu eins in Frankfurt gewonnen letztes Jahr ...
Heise: Da hatte man sich mehr erhofft.
Der brasilianische Drehbuchautor und Karikaturist Custódio Rosa (l.) und der deutsche Dramatiker Christoph Nußbaumeder beim Spiel der Autorennationalmannschaften (Fußball) in Brasilien.
Der brasilianische Drehbuchautor und Karikaturist Custódio Rosa (l.) und der deutsche Dramatiker Christoph Nußbaumeder.© Deutschlandfunk / Jonas Reese
Eilenberger: Ja, die Brasilianer waren strukturell verstärkt, sie hatten einen neuen Trainer, sie hatten auch neue Spieler, und wir waren nach sieben Tagen strapaziöser Reise und bei 30 Grad in der Sonne wohl auch nicht ganz auf der Höhe unserer Schaffenskraft. Aber das Sportliche steht bei solchen Reisen ja ohnehin nicht unbedingt im Vordergrund, und das war zumindest ein sympathisches Ergebnis, mit dem vor allem die Gastgeber sehr zufrieden waren.
Heise: Ein sympathisches Ergebnis, das ist doch schon. 30 Grad, Sie haben schon ... anstrengend wird es für all die Spieler, die sich da jetzt langsam sammeln, oder?
Eilenberger: Den Eindruck bekam man unbedingt. Also die Reisestrapazen sind erheblich, und es ist dort zwar Winter, aber immer noch so, dass die klimatischen Bedingungen gewöhnungsbedürftig sind, und Städte wie Sao Paulo beispielsweise liegen auf einer Höhe von 800 Metern, und das ist sportlich dann auch in Betracht zu ziehen.
Heise: Sie waren vor allem in Sao Paulo und auch in Rio, sind auch immer hin und her gefahren, wie haben Sie die Stimmung wahrgenommen, was haben Sie überhaupt so wahrnehmen können außerhalb des Fußballfeldes?
Jeden Tag drei bis vier Demonstrationen
Eilenberger: Also wir hatten sehr zahlreiche und auch tiefe Eindrücke. Wir hatten zwei Spiele in Favelas und auch Lesungen in Favelas oder Comunidades, wie das auf Brasilianisch heißt. Und wir haben natürlich auch von der politischen Brisanz einiges erspüren können.
In Sao Paulo finden jeden Tag lokal drei bis vier Demonstrationen statt, da werden Straßen gesperrt und 400 bis 500 Leute finden sich zusammen und werben oder beschweren sich über ihre jeweiligen Probleme. Insofern ist das eine sehr explosive und unklare Stimmung. Und in den Gesprächen mit den Autoren trat auch hervor, dass niemand so recht weiß, wie er jetzt die Lage einschätzen soll. Das schwankte zwischen großem Fest bis zu der ernsten Sorge, dass bei einem frühen Ausscheiden von Brasilien tatsächlich eine vorrevolutionäre Lage entstehen könnte.
Heise: Tatsächlich? Weil ich meine, es soll die "Copa das Copas", die Weltmeisterschaft der Weltmeisterschaften werden, so hatte man sich das erhofft eben wegen der Fußballbegeisterung der Brasilianer, und jetzt diese Arbeitskämpfe und Proteste. Viele Leute haben ja wohl die Nase voll. Eine Umfrage hat ergeben, die Hälfte der Brasilianer braucht die WM nicht unbedingt in Brasilien, das haben Sie so auch wahrgenommen?
Eilenberger: Ja, unbedingt. Es besteht in jedem Fall eine große Unzufriedenheit mit der Politik, ein allgemeiner, durchdringender Korruptionsverdacht ist da, und er ist wohl auch benennbar. Es ist so, dass es vor allem die Mittelschicht ist, die bürgerliche Mittelschicht ist, die in Fragen des Erziehungs- und des Gesundheitssystems große Unzufriedenheiten hat, und die Demonstrationen sind Demonstrationen aus dem Bürgertum jetzt noch und hauptsächlich.
Und insgesamt ist es so - ich darf Ihnen ein Beispiel nennen -, man sagte mir: Vor jedem großen Turnier wird die Stadt geschmückt in Rio de Janeiro, und wir waren jetzt eine Woche davor in Rio de Janeiro, man hat nichts gesehen.
Heise: Also gar keine ...
Eilenberger: Es gibt so eine Art latenten Stimmungsboykott, würde ich sagen, des Landes, die Vorfreude ist nicht wirklich spürbar.
Heise: Sie haben ja, also jenseits der Lesung, die Sie veranstaltet haben, auf die wir auch gleich kommen, natürlich engen Kontakt mit Autoren auch gehabt. Sie haben zum Teil mit den Autoren gemeinsam in einer Mannschaft gespielt im brasilianischen oder eben gegeneinander, aber auf jeden Fall hat man sich ständig ausgetauscht. Wie ist denn die Stimmung unter den Intellektuellen dieser WM gegenüber?
Sportliche Vorfreude ist hoch
Eilenberger: Es sind natürlich alles fußballbegeisterte Intellektuelle, so ist die sportliche Vorfreude hoch, aber es ist auch ganz klar das Bewusstsein, dass das nicht die WM sein wird, die man sich wünschte. Und wie gesagt, die Verunsicherung bezüglich dessen, was jetzt noch passieren kann, die ist sehr hoch. Und allein schon die Tatsache, dass niemand recht einzuschätzen weiß, wie die nächsten Wochen verlaufen, und ob es nicht wirklich so sein kann, dass Spiele nicht stattfinden können, dass es Straßensperren geben muss, dass die Metro bestreikt wird, das ist eine hohe Unsicherheit, und die zeigt, dass das Land tief verunsichert ist, wobei die Gründe für diese Verunsicherung sicher weit über den Fußball und die WM hinausgehen.
Heise: Publizist und Philosoph Wolfram Eilenberger von der Autorennationalmannschaft mit seinen ganz frischen Eindrücken aus Brasilien, wo das Team eben gerade am Pfingstwochenende das letzte Spiel absolviert hat. Sie haben eben nicht nur auf Fußballplätzen irgendwo an schönen Orten gespielt, sondern auch mitten in Favelas, Sie haben gegen eine Favela-Auswahl gespielt. Wie war die Stimmung da?
Eilenberger: Das war zunächst für uns sehr ungewohnt und auch furchteinflößend. Als wir mit dem Bus in diese Favela Maré, eine der problematischsten Favelas in Rio einfuhren, sahen wir Militärkonvois mit Maschinengewehren, panzerartige Gefährte, die uns da begleitet und auch mit geschützt haben.
Das Spiel selbst war eine sehr angenehme und schöne Erfahrung, aber Sie müssen sich das wie einen Dorfplatz, auf dem fast noch Müll liegt - da laufen freilaufende Hunde, Kinder, die Kinder an den Händen tragen, Marihuanageruch in der Luft, also eine sehr ungewohnte Atmosphäre.
Es war aber nicht so, dass man sich unmittelbar gefährdet fühlte, und man hatte schon das Gefühl, dass es für diese Favela-Besucher auch etwas Besonderes und vielleicht auch etwas als Anerkennung ihrer Situation bedeutete, dass Autoren dort hinkommen, um mit ihnen zu spielen. Und wir hatten dort auch eine Lesung, die auch sehr eindrücklich war.
Insofern denke ich, dass diese Idee der Autonama, dass man Kultur, Sport und auch kulturelles Botschaftertum miteinander verbindet, dort besonders gut aufgegangen ist.
Heise: Diese Favela-Mannschaft war angekündigt als eine von Favela-Bewohnern und Polizisten, das heißt, man arbeitet da auch zusammen, also das ist nicht nur ein Gegeneinander, man fühlt sich nicht nur von der Polizeipräsenz an die Wand gedrückt in den Favelas?
Eilenberger: Das ist sicher die Idee, dass man dort zusammenarbeitet. Diese Favela Maré, in der wir waren, die wurde erst vor zwei Monaten befriedet, wie das heißt, und diese Befriedung geht mit einer großen militärischen und Waffenpräsenz einher, sodass die Spannung zwischen Bevölkerung und Sicherheitsdiensten sicher so ist, dass man daran noch arbeiten muss.
Heise: Was haben Sie da festgestellt?
Eilenberger: Na, es ist auf jeden Fall so, dass aus der Tatsache, dass dort Menschen mit schusssicheren Westen und schwer bewaffnet ständig Präsenz zeigen, das kann für die Einwohner nicht das Gefühl von Sicherheit haben, sondern eher auch von Okkupation, und das ist es tatsächlich auch, denn es geht hauptsächlich darum, den Drogenkartellen, die in diesen Favelas das Sagen haben und die Macht haben, den Zahn zu ziehen. Und das scheint aber sehr gut zu gelingen.
Also diese Befriedungspolitik in den Favelas, das sagten alle, die seit drei, vier Jahren jetzt andauert im Vorfeld der WM und auch der Olympiade in Rio, das scheint Wirkung zu zeigen. Die Frage ist eben nur, wo gehen diese Drogenbosse hin, die verschwinden ja nicht einfach, und sie ziehen sich einfach noch weiter an die Peripherie zurück, das heißt, die Probleme verschieben sich eher, als dass sie gelöst werden.
Heise: Sie haben eben gesagt, dass Sie in den Favelas nicht nur Fußball gespielt haben, sondern auch Autorenlesungen veranstaltet haben. In welcher Sprache und mit welcher Resonanz?
Die Macht des Wortes
Eilenberger: Also das war ja vom Goethe-Institut sehr gut vorbereitet, das heißt, die Texte, die wir geschrieben hatten, wurden auf Portugiesisch übersetzt und lagen dort dann übersetzt aus, und wir hatten eine wunderbare Lesung in einer Favela in Sao Paulo, auf einer Lesebühne, Cooperifa. Und dort war es so, dass sich Funktionen von Poesie und Literatur zeigten, die wir gar nicht mehr kennen.
Das war eine Art Gottesdienst, es war eine Art politische Veranstaltung, es war eben auch Literatur, in der Menschen auf diese Lesebühne traten und in drei, vier Sätzen über ihre täglichen Erfahrungen berichteten in kleinen Vierzeilern, in denen sie über ihre Nöte sangen. Und das war etwas, was, glaube ich, für uns alle sehr eindrücklich war, wenn man zeigt, dass Literatur und Poesie vor allem erst mal Gemeinschaft stiftet und über die eigenen Sorgen sprechen lässt. Und wenn man die Berliner Lesebühnen kennt mit ihrer ironiedurchdrungenen Sprache, glaube ich, haben wir alle noch etwas gelernt über die Macht des Wortes auf dieser Veranstaltung.
Heise: Ja, und Sie haben eben auch nicht gelesen, sondern Sie haben vor allem auch lesen lassen, Sie haben gehört, was dort passiert.
Eilenberger: Ja, natürlich. Mal abgesehen von dem wunderbaren Klang der portugiesischen Sprache ist es auch so, dass man teilweise dann übersetzt bekam, was gesagt wurde, und das war beispielsweise - ist da jemand aufgetreten, ein Kenianer, der erst seit zwei Jahren in Sao Paulo lebt und davon sprach, wie es für ihn ist als Afrikaner, in dieser Favela jetzt zu leben. Und natürlich, das Publikum ging dann mit, es jubelte, manche Leute gingen dann spontan auf die Bühne und sagten einfach in zwei Sätzen etwas.
Das sind Dinge, die wir gar nicht kennen und wo man das Gefühl hatte, da wird Gemeinschaft gestiftet, da gibt es ernste Sorgen und Nöte. Und insgesamt ist es so - das ist, glaube ich, sehr wichtig zu begreifen -, in Favelas sind die Unruhen nicht. Die Unruhen sind in den Städten, in den Zentren. Und eine revolutionäre Situation könnte eigentlich nur entstehen, wenn es zu einer Verbindung zwischen diese Favelas und den Städten käme, und ich glaube, das zeigt sich derzeit nicht. Das heißt, das sind Unruhen des Bürgertums, und sie werden auch darauf begrenzt sein. Die Not ist woanders tatsächlich noch viel größer.
Heise: Ja, das ist sicherlich der Fall. Aber jetzt hat man ja auch immer wieder ... ich meine, Favela-Bewohner haben natürlich wahrscheinlich doch sehr darauf gehofft, dass die Infrastruktur wirklich dann durch die WM und durch die angekündigten Olympischen Spiele verbessert wird, dass sie aus diesen weit entfernten Favelas besser Zugang haben zu den Innenstädten. Und gleichzeitig ist ihnen aber auch eins ganz klar: Sie werden auf keinen Fall an den Fußballspielen teilhaben können, weil sie das niemals bezahlen werden können. Also da muss doch auch eine gewisse Unruhe da sein?
Wolfram Eilenberger
Wolfram Eilenberger© privat
Eilenberger: Natürlich, Fußball ist ja ein Volk des Sportes, ein Sport des Volkes vielmehr, und die Preise und die Zugänge zur WM sind für diese Menschen in keiner Weise gegeben, das heißt, sie werden von dieser WM nur im Fernsehen etwas mitbekommen. Und auch die strukturellen Maßnahmen beschränken sich auf die Innenstädte. Aber Sie müssen sich das auch wirklich in der ganzen Dimension vorstellen. Sao Paulo ist eine Stadt mit 22 Millionen Einwohnern, das ist so viel wie ein mitteleuropäischer Staat, und es erstreckt sich über mehrere, fast 100 Kilometer in die Peripherie. Insofern sind das Leistungen, die noch Jahrzehnte dauern werden. Die Explosion der Städte ist dort zu spüren, und strukturell ist dort sehr, sehr viel zu tun, und eine WM kann das nicht lösen.
Heise: Man kann jetzt die Eindrücke von diesen acht Tagen, die Sie da verbracht haben, wahrscheinlich nicht so ganz schnell zusammenfassen, aber wenn Sie es doch versuchen, hat das Ihre Vorfreude auf die WM gesteigert oder eher ein, ja, fast Missbehagen ausgelöst?
Eilenberger: Ich glaube, das Unbehagen überwiegt, auch wenn man weiß, welche Gelder in die WM geflossen sind, die für andere Projekte dann nicht zur Verfügung standen. Andererseits muss man sagen, dass der Fußball und der Sport insgesamt natürlich auch eine ganz wichtige Funktion für ein Land haben könnten. Und ich will nicht ausschließen, dass bei einem WM-Sieg für Brasilien so ein 54-Moment entsteht, dass das Land sich in seinen Problemen noch mal eint und besinnt und vielleicht dort eine Energie gewinnt, die ihm helfen würde, aus den Problemen herauszufinden. Das ist sicher das positivste Szenario, ganz andere und viel problematischere erscheinen mir wahrscheinlicher.
Heise: Dürfen wir uns ja eigentlich den WM-Sieg von Deutschland gar nicht wünschen, aber darüber ein andermal.
Seine Eindrücke aus Brasilien so kurz vor dem Start der WM erzählte uns der Publizist und Philosoph Wolfram Eilenberger. Er kommt eben gerade vom Fußballspiel der Autorennationalmannschaften, die deutsche heißt Autonama. Ich danke Ihnen ganz herzlich, Herr Eilenberger!
Eilenberger: Ich danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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