Fanprojekte auf der Kippe
23:39 Minuten
In den vergangenen 30 Jahren ist es in den deutschen Fußballstadien friedlicher und sicherer geworden. Das ist auch das Verdienst der zahlreichen Fanprojekte. Dennoch stellt der DFB deren Finanzierung infrage und sorgt damit für Irritation.
Ein sonniger Oktobersonntag, Regionalliga Südwest. Hessen Kassel empfängt Astoria Walldorf zum Kellerderby. Abstiegskampf pur. Zehn Minuten vor Schluss liegt Kassel 0:2 hinten. 1.400 Zuschauer haben eine Karte für das Heimspiel im 18.500 Plätze fassenden Auestadion gekauft und müssen mit ansehen, wie ihr Team, die Kasseler Löwen, kein Bein auf den Rasen bekommt. Eine Gruppe von ungefähr 30 Ultras ficht das nicht an. Sie stehen in der Nordkurve und feuern ihre Mannschaft unverdrossen an.
Bis zum Abpfiff passiert nicht mehr viel. Hessen Kassel verliert. In der Tabelle rutscht der Viertligist weiter ab. Die Fans verlassen das Stadion. Philipp Meyer ist einer von ihnen. Der 29-Jährige trägt Sonnenbrille, Basecap – Schirm nach hinten gedreht – und eine knallrote Trainingsjacke mit dem Vereinswappen von Hessen Kassel auf der Brust. Meyer geht zum KSV, seit er sechs ist. Mit den Jahren sei er ruhiger und die Fanszene bunter geworden.
"Man ist in der Zeit auf jeden Fall gewachsen", sagt Meyer. "Am Anfang war das doch eher dieses: wir ziehen uns alle unsere schwarzen Windbreaker und schwarzen Hosen an und machen ein bisschen auf gefährliche Jungs. Und heute ist es einfach: Man geht hier zum Fußball. Man liebt den Verein. Man trägt die Vereinsfarben mit Stolz, die Stadtfarben mit Stolz, und damit ist man alt geworden. Auch viele, die früher dabei gewesen sind, sind heute noch dabei. Und auch die altern ja nicht nur hier im Stadion, sondern auch im Kopf."
In der Nordkurve stand der junge Mann, der gerade Familienvater geworden ist, zum ersten Mal als 16-Jähriger. Zu dieser Zeit wurden Verbote und Regeln in den Stadien noch nicht so konsequent durchgesetzt:
"Als ich das erste Mal eine Pyrofackel angezündet habe, gab es einen Brief nach Hause. Und da hat Dennis Pfeiffer mir geholfen und mich ein bisschen unterstützt, auch vor Gericht. Er hat was für mich geschrieben und mich da ein bisschen, naja, nicht rausgeboxt, war ja nicht mein Anwalt, aber ein gutes Wort für mich eingelegt."
"Die Ehrenamtlichen sind für uns absolut wichtig"
Dennis Pfeiffer, die "Peaky Blinders"-Schirmmütze zum Schutz gegen die tiefstehende Herbstsonne tief ins Gesicht gezogen, steht neben Meyer und nickt. Er leitet das Kasseler Fanprojekt, das in diesen Tagen fünfjähriges Bestehen feiert, von Anfang an. Würde der Deutsche Fußballbund, der 50 Prozent zur Finanzierung der Fanprojekte im Amateurbereich besteuert, seine Unterstützung tatsächlich, wie eine Zeitlang zu hören war, um zehn Prozent kürzen, hätte das gravierende Folgen.
In Kassel würde es ein Loch von rund 8000 Euro in den Jahresetat reißen. Das wäre die Miete für den Fan-Laden, der sich nicht weit vom Stadion entfernt in der Kasseler Innenstadt befindet. Darüber hinaus müsste Dennis Pfeiffer zum Beispiel auch auf die Mitarbeit von Leuten wie Philipp Meyer verzichten, der sich inzwischen sehr stark im Projekt engagiert.
"Die Ehrenamtlichen sind für uns absolut wichtig", sagt Dennis Pfeiffer. "Das ist mit Gold nicht aufzuwiegen, was da zugearbeitet und mitgeleistet wird. Und wie viel Engagement und auch Herzblut in diese Sache reingesteckt wird. Da zu kürzen, wäre dann halt auch wieder unmöglich gewesen. Das hätte uns vor Probleme gestellt."
Mittlerweile sei der DFB von seinen Kürzungsplänen wieder etwas abgerückt, sagt Dennis Pfeiffer. Es gebe jetzt wenigstens Planungssicherheit bis Ende nächsten Jahres.
Der DFB will sich nicht äußern
Der Deutsche Fußballbund hat kein Interesse, mit mir über das Thema zu sprechen. Auf meine Anfrage teilt er lediglich schriftlich mit, sich zu den im Raum stehenden Kürzungsplänen nicht äußern zu wollen. Derzeit finde im Nationalen Ausschuss Sport und Sicherheit ein "laufender Prozess statt, dem man nicht vorgreifen" könne. Dennis Pfeiffer blendet das Thema erst mal aus.
"Wir sind in der sehr luxuriösen Situation, dass Verein und Fanprojekt in ganz engem Austausch stehen. Das ist wahrscheinlich nicht überall so. Auch das Verhältnis zum Fanbeauftragten ist einfach extrem gut. Da findet sehr viel Austausch statt. Wir sprechen uns bei ganz vielen Dingen ab, sodass möglichst gar keine allzu großen Reibungspunkte zwischen Verein und Fanszene entstehen können. Wenn die Bindung da ist und man Respekt vor dem Verein hat, tut man sich natürlich sehr viel schwerer damit, dem Verein in irgendeiner Art und Weise Schaden zuzufügen."
Vor dem Auestadion ist Daniel Bettermann zu unserer kleinen Gesprächsrunde gestoßen. Seit über 20 Jahren ist der Politologe ehrenamtlich in verschiedensten Funktionen für Hessen Kassel aktiv und mittlerweile sogar in den Vorstand aufgerückt. Vor fünf Jahren, als das Fanprojekt startete, hätten viele, die noch aus der Zeit kamen, in der Vereine nach "Gutsherrenart" geführt wurden, extreme Schwierigkeiten mit den neuen Gesprächspartnern gehabt, sagt Bettermann.
Auf einmal war da ein neues Gremium, finanziert von der Stadt Kassel, dem Land Hessen und dem DFB. Sozialarbeiter, die nicht zum Verein gehörten, wollten plötzlich bei vielen Themen ein Wörtchen mitreden. Den bis dahin oft überhörten Stimmen der Fans verhalfen diese frischen Köpfe plötzlich zu sehr viel mehr Gewicht. Für viele altgediente Funktionäre war das ein Schock. Daniel Bettermann erinnert sich, dass jüngere Leute wie er dagegen gleich auf Augenhöhe mit dem Projekt zusammengearbeitet hätten.
"Wir sind dann diejenigen gewesen, die ein Stück weit den Dialog und den engeren Draht in die Fanszene deutlich intensiviert haben oder auch uns den Anspruch gegeben haben, diesen zu intensivieren. Weil es in den Vorjahren oftmals so war, dass zwischen Fanszene und Verein – ich will jetzt nicht sagen, Eiszeit herrschte, aber es doch eine gewisse Kommunikationshürde gab."
Ein gelungener Interessenausgleich
Woran lag das seiner Meinung nach?
"Unterschiedliche Lebenswelten, würde ich mal sagen. Also weniger Verständnis, weniger Bewusstsein für diese Themen, andere Herausforderungen. Generell, würde ich mal sagen, ist das beim Fußball in diesem etwas organisierteren Spielbetrieb so, also in Liga eins bis vier. Auf der Haupttribüne mit den VIPs hat man andere Herausforderungen und andere Themenstellungen, als dass im Fanbereich der Fall ist."
Als Beispiel für einen gelungen Interessenausgleich fällt Daniel Bettermann sofort das legendäre "Rekordspiel" gegen den Lokalrivalen KSV Baunatal ein. Damals spielten beide Teams noch in der Oberliga. Bei einem ausverkauften Auestadion wäre vor zweieinhalb Jahren ein neuer Fünftliga-Zuschauerrekord aufgestellt worden. Um das zu erreichen, sollte das eigentlich sowieso schon brisante Nordhessenderby im Vorfeld mit allerlei Firlefanz weiter aufgeblasen werden.
"Da haben dann die Ultras gesagt: Hier, Leute, lieber Verein, wir verstehen ja, dass der Verein PR und Zuschauer und Geld und so weiter generieren muss. Aber wir möchten nicht diese Marketing-Hype-Geschichte, diese ‚Eventisierung‘. Wir möchten keine Klatschpappen. Wir möchten keine wilden Dinge, die zu unserem Fußballbesuch hier nicht gehören. Also geht da bitte ein bisschen sensibler mit diesem Thema um", so Bettermann.
"Und das haben wir dann in mehreren Runden auch moderiert. Haben dann auch miteinander Wege und Lösungen gefunden, dass das für beide Seiten ein verträglicher Rahmen wurde, mit Rahmenprogramm, mit einer gewissen Gestaltung, wo du sagen kannst: Okay, Verein und Fanszene gehen Hand in Hand gut aus diesem Tag raus und sind allesamt zufrieden."
71 Fanprojekte gibt es in Deutschland
Im ganzen Land gibt es zurzeit 71 Fanprojekte. Als jüngster Standort ist gerade Würzburg, wo die "Kickers" in der dritten Liga spielen, vom DFB genehmigt worden. Im "Nationalen Konzept Sport und Sicherheit" wurde 1993 formuliert, dass Fanprojekte in den ersten drei Ligen einzurichten sind und in den Ligen darunter, wenn eine gewisse Anzahl von Fußballfans regelmäßig die Spiele besuchen. Zuständig für die inhaltliche Begleitung, Koordination und Neugründung ist die bei der Deutschen Sportjugend angebundene "Koordinationsstelle Fanprojekte" (KOS).
"Es ist ganz unterschiedlich, wer sich an uns wendet", sagt Michael Gabriel. "Das können einerseits Fanszenen sein, die sagen, wir brauchen hier am Standort Unterstützung von Pädagogen und Sozialarbeiterinnen, weil wir das und das Problem haben."
Michael Gabriel leitet die KOS. Den 58-jährigen Sozialpädagogen, der die Projekte von Anfang an begleitet, interessierte, als er einstieg, vor allem, wie man die enorme Bedeutung, die der Fußball hat, gesellschaftlich nutzen kann. Da fiel sein Blick natürlich auch auf die Fankultur:
"Es kann der Verein sein, der sich an uns wendet und das Interesse an der Einrichtung eines Fanprojektes bekundet. Es kann aber auch – und das ist gar nicht mal so selten – die Polizei sein, die sagt, wir brauchen hier eine Stelle, die für die Fans da ist, die Kommunikation erleichtert, die die Dialogformen letztendlich erleichtert. Wir haben dann die Verantwortung, die vielen verschiedenen Fäden, die es vor Ort gibt, zu bündeln und letztlich zu einer Gründung beizutragen."
Michael Gabriel und die Mitarbeitenden in der Frankfurter Koordinierungsstelle sind eine Art Makler der Interessen, wenn es darum geht, neue Fanprojekte ins Leben zu rufen. In der Regel gibt es dann an jedem Standort zwei bis drei Vollzeitstellen und weitere Kräfte, die auf Honorarbasis zuarbeiten. Finanziert wird die sozialpädagogische Arbeit aus drei verschiedenen Töpfen:
"Ein Fanprojekt wird einmal von der jeweiligen Kommune gefördert. Als zweiter öffentlicher Geldgeber ist zwingend auch immer das jeweilige Bundesland vorgeschrieben. Und wenn diese beiden ihre Hausaufgaben erledigt haben, das heißt, politische Beschlüsse herbeigeführt haben, auch Haushaltsbeschlüsse, wo eine bestimmte Finanzierungsumme jeweils in den Parlamenten beschlossen worden sind, dann kann ein Antrag gestellt werden beim Fußball, DFB und/oder DFL, dass die dann weitere 50 Prozent des Haushaltes zu einem Fanprojekt beitragen."
Fanprojekte arbeiten unabhängig vom Fußball im Auftrag der öffentlichen Hand. Die Vereine haben kein Recht, sich in ihre Arbeit einzumischen. Organisiert und durchgeführt werden die Projekte von anerkannten Trägern der Jugendhilfe wie AWO, dem Internationalen Bund oder auch kirchlichen Trägern wie Diakonie und Caritas. Obwohl Deutsche Fußball Liga (DFL), zuständig für die Profivereine der Bundes- und der Zweiten Liga, und DFB keinen Einfluss nehmen können, steuern sie pro Projektstandort die Hälfte des Jahresetats, jedoch maximal 150.000 Euro, bei – sofern bestimmte formale, strukturelle und inhaltliche Kriterien der Arbeit erfüllt werden.
In den Stadien ist es friedlicher geworden
In den vergangenen 30 Jahren ist es im Umfeld des Fußballs friedlicher geworden. Niemand wird ernsthaft bestreiten, dass das auch ein Verdienst der Fanprojekte ist. Gewaltbereite Hooligans sind heute in der Minderheit. Seit Mitte der 90er-Jahre wurden sie von der kreativen, oft auch politisch interessierten Ultraszene mehr und mehr aus den Stadionkurven verdrängt.
Warum stellt der DFB jetzt auf einmal die Finanzierung der Projekte in Frage? Bei einem Jahresumsatz von rund 340 Millionen Euro kostet ihn diese Sozialarbeit, wie Michael Gabriel vorrechnet, etwa 3,4 Millionen. Das Finanzielle wird es also eher nicht sein. Gibt es vielleicht auf Entscheiderebene des Verbands kein Verständnis, wie sehr die Arbeit der Projekte dem Fußball nutzt? Oder hat der DFB womöglich Sorge, dass das inhaltliche Angebot der Pädagogen nicht mit Weiterentwicklung der Fanszene, die anspruchsvoller geworden ist, Schritt gehalten hat?
"Ich habe in den Verhandlungen zum Nationalen Konzept Sport und Sicherheit mit einem DFB zu tun gehabt, der meinte, dass alles, was beim Fußball drumherum passiert, nicht auf Probleme des Fußballs zurückzuführen ist, sondern dass Gesellschaft verantwortlich sei, weil es gesellschaftliche Probleme sind", erinnert sich Thomas Schneider.
Thomas Schneider hat, bevor er zur Deutschen Fußballliga gewechselt ist, auch mal die Koordinationsstelle Fanprojekte geleitet. Inzwischen ist er bei der DFL für Fanangelegenheiten zuständig. Im Gegensatz zum DFB hat die DFL Lust, über das Thema zu sprechen.
"Das war zu der Zeit im politischen Diskurs üblich, dass man so miteinander argumentierte", ergänzt Schneider. "Und schon nach drei Jahren, also schon 1996, als es um die Verlängerung der Finanzierungszusage des Fußballs ging, hat sich abgezeichnet, dass der Fußball mit zu einem der größten Fanclubs der Fanarbeit wurde, weil man die Effekte natürlich gesehen hat."
Fanprojekte ermöglichen Dialog
Thomas Schneider sagt, das größte Verdienst der Fanprojekte sei immer gewesen, Dialogbereitschaft herzustellen, wo vorher Sprachlosigkeit herrschte. Weil die meisten Fans nur wenige Jahre in der Szene aktiv seien und dann schon die nächste Generation nachdränge, gehe es immer wieder darum, die alten Konflikte zwischen Jugend- und Erwachsenenwelt mit anderen Akteuren neu zu verhandeln.
Thomas Schneider ist überzeugt, dass die Projekte, quasi als Agenturen zur Kommunikationsvermittlung, nach wie vor unverzichtbar sind. Er sagt das ausdrücklich auch im Namen der für Bundesliga und zweite Liga zuständigen Deutschen Fußballliga. Rückblickend erinnert er sich an spannende Erfahrungen während seiner Zeit bei den Fanprojekten, von denen er in seinem neuen Umfeld extrem profitiere.
"Wir hatten 1990/1991heimliche Treffen von Hooligananführern in Deutschland mit der Fußballnationalmannschaft. Wir haben Lebenswelten aufeinanderprallen lassen, moderiert, friedlich, in größeren Runden, wo wir festgestellt haben, dass es tatsächlich auch zwischen Fußballnationalspielern, Weltmeistern und Fußballhooligans Gemeinsamkeiten gab. Nicht Gemeinsamkeiten in der aktuellen Lebensführung, aber auch Nationalspieler waren mal jung und haben mitbekommen, wie schwierig das ist, sich in jugendlichem Alter richtig zu orientieren. Und da ist eine ganze Menge an Übersetzungsarbeit geleistet worden, die einfach notwendig war."
Heute sind anspruchsvollere Angebote gefragt
Um Kontakte zu Hooligananführern herzustellen, geht es heutzutage weniger. Die Aufgaben im Umgang mit den Fans seien vielfältiger geworden, räumt Thomas Schneider ein. Sozialpädagogik müsse sich immer wieder neu erfinden, um mit dem neuen Stadionpublikum, den selbstbewussten Kurven, intellektuell auf Ballhöhe bleiben zu können. Die ständige Herausforderung sei, die Zielgruppen und ihre wechselnden Bedürfnisse nicht aus den Augen zu verlieren. Anders als in den 80er-Jahren müsse Fußballsozialarbeit nicht mehr so sehr Hilfe zur Selbsthilfe leisten und versuchen, sich überflüssig zu machen. Heutzutage sind anspruchsvollere Angebote gefragt.
"Das kriegen wir als DFL auch durch die Stadionbefragung mit, das Bildungsniveau in den Kurven ist heute nicht zu vergleichen mit den 80er-Jahren. In der Hochzeit des Hooliganismus war ein deutlich schwächeres Bildungsniveau in den Kurven. Die waren deutlich proletarischer geprägt. Das war kein Aufenthaltsraum für Intellektuelle, sage ich jetzt mal ein bisschen flapsig. Die sich früher hätten schlagend beweisen müssen, können sich jetzt viel stärker durch Kopf und Organisationstalent beweisen. Das heißt, das ist natürlich eine fundamentale Veränderung der Zusammensetzung des Kurvenpublikums. Wo ja nicht selten auch die Berufe so gemischt sind, dass da von Juristen über Sozialpädagogen und Lehrer alles da ist. Das heißt, die wollen sich natürlich nicht entmündigen lassen."
Im November 1990, ein Jahr nach dem Fall der Berliner Mauer, war Mike Polley während der Ausschreitungen rund um das Oberligaspiel zwischen dem FC Sachsen Leipzig und dem FC Berlin, vormals BFC Dynamo, ums Leben gekommen. Auf dem Leipziger Bahnhof wurde der 18-jährige Berliner von einer Polizeikugel tödlich getroffen.
Im Sender Freies Berlin kamen Berliner und Leipziger Augenzeugen zu Wort.
"Der saß auf der Hinfahrt genau gegenüber von mir, ein ganz Ruhiger. Kannte ihn von vorher, von zwei Spielen. Ich habe ihm noch im Zug eine Zigarette angeboten. Und er war einer der wenigen, der nicht geraucht hat, keinen Alkohol zu sich genommen hat."
"Ich habe ihn, den Verletzten, also noch Schwerverletzten, noch lebenden Mike, den 18-Jährigen, habe ich mit anderen Kameraden über die Bahngleise getragen, wo wir ihn dann niedergelegt haben. Es hatte keinen Sinn mehr, er war dann tot. Und es war ein gezielter Schuss."
"Ich weiß nur, dass es da tierisch gekracht hat. Dass wir mit Steinen auf die Beamten losgegangen sind. Und dass die Beamten aber nicht in Notwehr geschossen haben. Weil die sich auf jeden Fall hätten zurückziehen können. Von daher war das für mich keine Notwehrsituation. Was ich noch dazusagen muss, das waren nicht alles FC-Berlin-Fans. Da waren Bochumer mit dabei, Kölner, Bremer. Alles verschiedene."
"Es ist ein Kamerad gefallen. Es ist ein Kamerad gefallen, im Kampf. Im Kampf."
Ein Schuss in den Rücken in Notwehr?
"Für uns war es der Einstieg, leider, so beim BFC. Also, weil die wollten eben hier den Trauermarsch in Berlin organisieren. Die Polizei hatte ganz große Bedenken."
Ralf Busch ist Leiter des Berliner Fanprojekts. Ende der 80er-Jahre hatte der gebürtige Stuttgarter, kurz bevor er beim neuen Berliner Projekt einstieg, gerade sein Studium abgeschlossen. Das Notwehrargument, das die Polizisten damals als Rechtfertigung für die Schüsse vorbrachten, kann Busch bis heute nicht richtig nachvollziehen. Mike Polley sei damals in den Rücken getroffen worden.
"Und wir haben dann im Prinzip den Vermittler gespielt zwischen der damaligen Hoolszene und der Polizei, dass dieser Trauermarsch stattfinden kann. Weil die Fans gesagt haben, das muss sein. Das muss stattfinden!"
Das Berliner Fanprojekt ist im "Haus der Fußballkulturen" auf einer Wiese direkt vor den Toren des Jahnsportparks in Prenzlauer Berg untergebracht. Vor acht Jahren wurde das kleine Haus mit Geldern gebaut, die seit der Wende eingefroren und ursprünglich für die Finanzierung der Parteien und Massenorganisationen der DDR vorgesehen waren.
Aus dem Wende-Vakuum entstand viel Gewalt
Ralf Busch erinnert sich an eine Zeit großer Unsicherheit, als das DDR-System zerfiel. Während er sich gedanklich zurück in die Wendezeit versetzt, schaut er aus dem Fenster genau auf das Stadion, in dem DDR-Rekordmeister Dynamo zehn seiner elf Meistertitel holte.
"Gerade in diesem Sicherheitsbereich hatte man es ganz viel mit Polizisten zu tun, die so eine Unsicherheit hatten", erinnert sich Ralf Busch. "Werde ich übernommen im neuen System, oder habe ich irgendeine Vergangenheit, die dem neuen Arbeitgeber dann nicht gefällt oder was auch immer? Aber gleichzeitig gab es halt auch so viele junge Männer – hauptsächlich oder ausschließlich –, die dieses Vakuum ein bisschen genutzt haben. Da gab es ganz viele Ausschreitungen."
Ralf Busch fallen rückblickend viele Auseinandersetzungen ein, bei denen sich nicht nur rivalisierende Fans gegenüberstanden. Ganz oft sei es damals gezielt gegen die Polizei gegangen. Als Berufsanfänger habe ihn das schockiert. Auf der anderen Seite hatte die Polizei seiner Meinung nach kein Gespür dafür, was Fankultur ist. Das habe dann eben dazu geführt, dass Situationen ganz schnell eskalierten.
"Ich meine, auch die Polizei hat sich ja weiterentwickelt", sagt Ralf Busch. "Man kann sicherlich immer noch viel kritisieren. Aber ich glaube schon auch, dass sie sich damit auseinandersetzen, was Gruppendynamiken sind. Wie kann man vielleicht auch Situationen entschärfen? Und wo lässt man es vielleicht mal sein und macht nachher eher so eine gezielte Festnahme und muss nicht immer mittenrein? Und damals hatte ich so das Gefühl, war das so ein bisschen Wildwest, leider. Aber von beiden Seiten."
Mit Fußballfans in die Gedenkstätte Auschwitz
Die Wände im Haus der Fußballkulturen, dem Domizil des Berliner Fanprojekts, das mit sechs Vollzeitstellen Fans von Hertha BSC und Regionalligist BFC Dynamo betreut, hängen voller Erinnerungsfotos. Sie dokumentieren die Arbeit der Pädagogen in den vergangenen drei Jahrzehnten. Ralf Busch ist sich sicher, dass die Kürzungen, über die der DFB nachdenkt, nicht kommen werden. Dafür hätten die Fanprojekte mittlerweile ein viel zu gutes Standing. Über den Fußball hinaus habe man sich einen guten Ruf erarbeitet. Sicher, vieles machten die Ultras inzwischen selbst, Auswärtsfahrten organisieren, Banner entwerfen oder Choreografien gestalten. Aber in vielen anderen Fragen seien die Sozialarbeiter der Fanprojekte nach wie vor gefragte Ansprechpartner, sagt Ralf Busch.
"Das ist ein positives Beispiel, was man jetzt so macht: Wir haben immer Gedenkstättenfahrten nach Auschwitz gemacht. Und wir haben so gemerkt, so ein Riesenthema kriegt man eigentlich auch mit am besten, wenn man es so ein bisschen auf eine persönlichere Ebene… also wo die Fans einen Bezug dazu entwickeln können."
"Das ist ein positives Beispiel, was man jetzt so macht: Wir haben immer Gedenkstättenfahrten nach Auschwitz gemacht. Und wir haben so gemerkt, so ein Riesenthema kriegt man eigentlich auch mit am besten, wenn man es so ein bisschen auf eine persönlichere Ebene… also wo die Fans einen Bezug dazu entwickeln können."
Aus einem Regal greift Ralf Busch ein kleines, blaues Buch.
"Hertha hatte einen jüdischen Mannschaftsarzt, den Dr. Hermann Horwitz eben. Der ist aus dem Verein ausgeschlossen worden und dann deportiert worden nach Auschwitz. Und so hat das angefangen. Wir waren eine Gruppe von 25 Fans. Wir haben uns einen Profi dazu geholt, also eine Geschichtswissenschaftlerin, die den Schwerpunkt Nationalsozialismus hat. Die haben wirklich Bilder von ihm gefunden. Und daraus ist dann ein Buch geworden. Dafür haben wir auch einen Preis gekriegt", sagt Busch.
"Und das ist dann halt auch ein wirklich positives Ding. Es ist ganz spannend: Ich mach es beruflich, aber die haben das alles ehrenamtlich gemacht. Die waren richtig gefesselt von diesem Thema, also gepackt. Und dann funktioniert das alles."