Fußball in Ruanda

Leben und Spielen nach dem Völkermord

23:42 Minuten
Mehrere Kinder stehen während eines Fußballspiels an den Torpfosten gelehnt.
Kicken ist ein Teil der Versöhnung: Bolzplatz für Kinder und Jugendliche in Ruandas Hauptstadt Kigali. © AFP / Phil Moore
Von Ronny Blaschke |
Audio herunterladen
Fußball und Politik in Ruanda: Kämpfer für den Völkermord wurden auch auf Bolzplätzen und Tribünen rekrutiert. Rebellen gründeten einen Verein, um ihre Soldaten bei Laune zu halten. Nach dem Genozid brachte der Sport die Menschen wieder zusammen.
Am 7. April 1994 beginnen Hutu-Milizen in Ruanda, ihre Mordlisten abzuarbeiten. Mit Gewehren und Macheten stürmen sie die Wohnungen von Tutsi und gemäßigten Hutu. In den frühen Morgenstunden erreichen sie das Haus von Eric Murangwa, Torwart und einer von drei Tutsi im Team des beliebtesten Fußballvereins im Land, Rayon Sports. Die Soldaten stoßen Murangwa zu Boden.
Bilder, die er heute noch vor Augen hat: "Ich dachte, ich würde sterben. Die Soldaten gingen von Zimmer zu Zimmer und verwüsteten die Einrichtung. In dem Chaos landete ein Fotoalbum aufgeschlagen auf dem Boden", sagt Murangwa. "Zu sehen war unser Mannschaftsbild von Rayon Sports. Einer der Soldaten blieb stehen, sein Gesichtsausdruck wurde freundlich."

"Das war ein Moment des Wahnsinns"

Der Soldat ist seit langem Fan von Rayon Sports. Er schwelgt in Erinnerungen über Tore und Titel, bedankt sich bei Eric Murangwa für dessen Leistungen. Und er gibt Hinweise, wie Murangwa die Nacht überleben kann. Mit offenen Türen und Vorhängen, dann sehe das Haus für andere Milizen geräumt aus.
Murangwa sagt: "Der Mann, der mich eben noch töten wollte, sprach nur noch über Fußball, als gebe es nichts Wichtigeres. Das war ein Moment des Wahnsinns.
Eric Murangwa ist heute Mitte 40. Ein groß gewachsener, schlanker Mann. Er wirkt nachdenklich, wägt seine Worte ab. Er nimmt sich Zeit für das Interview, möchte Hintergründe verständlich machen. Fußball und Politik in Ruanda haben eine gemeinsame Geschichte – und sie beginnt lange vor dem Genozid.
Eric Murangwa posiert für ein Foto.
Eric Murangwa spielte als Torhüter für den ruandischen Erfolgsverein Rayon Sports.© Deutschlandradio / Ronny Blaschke
Bereits im frühen 20. Jahrhundert wachsen Spannungen zwischen Hutu und Tutsi. Was sie trennt, sind nicht Sprache oder Religion, sondern der soziale Status. Die Tutsi gelten als herrschende, überlegende "Rasse". Die deutschen und später die belgischen Kolonialherren laden diese Hierarchie mit biologischen Pseudomerkmalen auf.
Der Fußball wirft ein Licht auf diese Geschichte, erzählt Jules Karangwa, Mitarbeiter des Fußballverbandes in Ruanda: "Der Fußball war ein soziales Werkzeug. Das haben schon die europäischen Missionare gezeigt, die das Spiel Ende des 19. Jahrhunderts nach Ruanda brachten. Das Land war damals eine Monarchie. Der König hielt sich eine eigene Mannschaft und besuchte Spiele. So konnte er mit der Bevölkerung in Kontakt treten."

Der Nationaltrainer sollte nur Hutu spielen lassen

Die Unabhängigkeit Ruandas 1962. Hunderttausende Tutsi fliehen vor der neuen Hutu-Herrschaft in die Nachbarländer. Tutsi, die in Ruanda bleiben, müssen mit Verfolgung rechnen. Höhere Bildung und Behördenjobs bleiben ihnen versperrt. Etliche unterdrückte Tutsi schließen sich in Fußballteams zusammen. Für sie eine der wenigen Möglichkeiten, um sich in größeren Gruppen zu treffen.
Ab den 1970er-Jahren radikalisiert sich die Lage in Ostafrika, auch im kleinen Ruanda. Der 1972 gegründete Fußballverband und die Klubs der ersten Liga stehen unter der Kontrolle der MRND, der einzigen legalen Partei.
Ein Machtzentrum der Hutu, erzählt der frühere Journalist Jules Karangwa: "Die Tutsi sollten überall an den Rand gedrängt werden Der Trainer des Nationalteams erhielt von der Regierung die Anordnung, nur Hutu spielen zu lassen."
Ab den 1980er-Jahren nimmt die Gewalt gegen die Tutsi zu. Eine der treibenden Kräfte: die Interahamwe. Diese paramilitärische Organisation rekrutiert junge Kämpfer auch auf Bolzplätzen und Tribünen. Propagandaveranstaltungen finden in der Nähe von Stadien statt.
Damals steht der junge Torwart Eric Murangwa auf dem Sprung in die erste Liga. Er ist mit dem Bewusstsein aufgewachsen, dass er anders ist. In der Schule, beim Arzt, in der Warteschlange: als Tutsi fühlt er sich benachteiligt. Anfang der 90er-Jahre wird der Bus seines Vereins Rayon Sports regelmäßig von Hutu-Milizen gestoppt. Meist werden im Team nur die Tutsi durchsucht und bedroht.

Tutsi-Spieler wurden von Polizei schikaniert

Es beginnt eine Zeit, in der Radiomoderatoren Tutsi als Kakerlaken und Schlangen bezeichnen. Die Folgen spürt Eric Murangwa auch beim Fußball. "Es gab Vereine, die eng mit dem alten Regime und dem Militär verbunden waren", erzählt er.
"Als Tutsi erlebten wir bei Auswärtsspielen einen unglaublichen Hass, von gegnerischen Fans und von der Polizei. Für mich als Torwart war das gefährlich, viele Fans standen nur wenige Meter hinter mir. Und auch in meinem eigenen Klub gab es Funktionäre, die mich nicht mochten. Sie versuchten, meine sportliche Entwicklung zu stoppen."
Einmal verweigert Eric Murangwa ein Spiel in Gisenyi, dem Geburtsort des Staatspräsidenten Habyarimana. Zu gefährlich erscheint ihm die Hochburg der radikalen Hutu.
Doch der Fußball kann den Hass auch in den Hintergrund drängen, für eine Weile. März 1994, wenige Wochen vor Beginn des Völkermordes. Im afrikanischen Wettbewerb der Pokalsieger empfängt Rayon Sports mit Eric Murangwa den sudanesischen Klub Al Hilal. Rayon gewinnt 4:1 und zieht in die dritte Runde ein, der größte Erfolg in der Fußballgeschichte Ruandas. Mehr als 30.000 Menschen jubeln im Stadion Amahoro, zu Deutsch: Frieden. Auch Hutu klopfen dem Tutsi Murangwa auf die Schulter.
"Die Menschen haben für einen Tag vergessen, was sie trennt. Hutu und Tutsi sangen und tanzten gemeinsam", sagt Murangwa. "Soldaten schwenkten weißblaue Fahnen unseres Klubs. Und sogar Politiker wollten sich mit uns im Fernsehen zeigen. Das war verrückt."

Fußballer töteten ihre Teamkollegen

Es sollte viel verrückter werden. Wenige Wochen nach dem Sieg werden Tausende Tutsi auch im Stadion Amahoro interniert und getötet. Der Genozid kostet mindestens 800.000 Menschen das Leben. Die Mörder kommen aus Armee, Präsidentengarde und Polizei, doch auch die Bevölkerung beteiligt sich: Lehrer töten ihre Schüler, Fußballer ihre Teamkollegen.
Gegenüber Bekannten sei man oft in größerer Gefahr gewesen als gegenüber Unbekannten, erinnert Eric Murangwa: "Meine Mitspieler kannten meine politische Haltung, sie hätten mich leicht verraten können. Aber sie entschieden sich für die Vernunft und gegen den Wahnsinn. Einige haben dafür ihr Leben riskiert."
Der Völkermord dauert fast 100 Tage. Es sind Hutu-Kollegen, die für Eric Murangwa Verstecke und Lebensmittel organisieren. Mehrfach befreit er sich aus bedrohlichen Situationen, weil die Mörder in ihm vor allem den Fußballstar sehen. Für einige Tage kommt Murangwa bei einem ehemaligen Funktionär seines Vereins unter. Sie essen gemeinsam, spielen Karten. Doch dieser Funktionär muss später ins Gefängnis, für die Morde an mehreren Tutsi.

"Es war eine unbegreifliche Zeit"

"Die Welt war nicht schwarz und weiß", sagt Murangwa. "Es gab Menschen, die andere quälten und umbrachten. Doch dieselben Menschen retteten am nächsten Tag anderen das Leben. Es war eine unbegreifliche Zeit."
Im Juli 1994 ist die Befreiung Ruandas durch die Rebellenarmee abgeschlossen. Rund 400.000 Mädchen und Frauen sind Opfer von Vergewaltigungen geworden, 300.000 Kinder müssen ohne ihre Eltern leben. Das Vertrauen in Institutionen ist erschüttert, vor allem in die katholische Kirche, die das Morden geduldet hatte.
Überlebende wie Eric Murangwa sprechen über Massengräber, Seuchen und die Sorge vor einem Aufflammen der Konflikte: "Die meisten Verantwortlichen für den Genozid flohen in die Nachbarländer. Dort warteten sie auf eine Chance auf den Wiedereinmarsch. Immer wieder starteten sie Angriffe, um Ruanda zu destabilisieren. Unsere Lage war noch immer gefährlich, aber wir wollten ein anderes Leben führen."
Fotografien von Opfern des Völkermordes in einer Gedenkstätte in Ruandas Hauptstadt Kigali
Fotografien von Opfern des Völkermordes: Viele Mitglieder von Eric Murangwas Verein verloren ihr Leben oder flohen.© picture-alliance/ dpa / Wolfgang Langenstrassen
Aus dem erweiterten Familienkreis von Eric Murangwa fallen 35 Menschen dem Genozid zum Opfer. Viele Mitglieder seines Vereins sind tot oder auf der Flucht. Doch Murangwa zwingt sich, nach vorn zu blicken. Mit alten Mitspielern verabredet er sich zum Kicken. Zwei Monate nach dem Genozid trifft Rayon Sports in einem Freundschaftsspiel auf den Rivalen Kiyovu Sports.

"Wir waren die Botschafter einer neuen Gesellschaft"

Vor rund 20.000 Zuschauern, erinnert Eric Murangwa: "Das war ein sehr emotionaler Moment. Zum ersten Mal kam bei einer öffentlichen Veranstaltung so etwas wie Freude auf. Das hat uns gezeigt, dass der Fußball auf dem Weg in die Normalität eine wichtige Rolle spielen kann."
Nach dem Spiel kommen einige Familienmitglieder auf Eric Murangwa zu. Sie dachten, er sei tot. Bald darauf finden Gedenkturniere statt. Murangwa wird zum Kapitän des neuen ruandischen Nationalteams ernannt. Er sagt: "Als mir die Kapitänsbunde überreicht wurde, habe ich eine tiefe Verpflichtung empfunden. Wir waren die Botschafter einer neuen Gesellschaft. Ich habe mich ein bisschen wie der Anführer unseres Landes gefühlt."
Bei Auswärtsspielen geht Eric Murangwa auf ruandische Exilanten zu und bittet um Hilfe für den Wiederaufbau. Auch nach seiner Fußballkarriere erzählt er seine Geschichte: in Dokumentationen, Schulen und anderen Jugendeinrichtungen.

Menschen für Konflikte sensibilisieren

Eric Murangwa hat es sich zur Aufgabe gemacht, Menschen für Konflikte zu sensibilisieren. Er möchte über das gesellschaftliche Klima sprechen, das den Massenmord in Ruanda möglich machte. Mit Freunden hat er eine Plattform gegründet: "Fußball für Hoffnung, Frieden und Einheit".
Murangwa sagt: "Diese Plattform soll einen Beitrag für Versöhnungsprozess in Ruanda leisten. Schritt für Schritt haben wir uns mit internationalen Organisationen vernetzt, die sich mit anderen Genoziden beschäftigen, vor allem mit dem Holocaust. Mit dem Storytelling des Fußballs können wir junge Leute erreichen."
Ein wichtiger Ort für Vergangenheit und Zukunft des ruandischen Fußballs ist das Stadion Nyamirambo. Umgeben von staubigen Straßen und Flachbauten mit Friseursalons und Getränkeshops. 1998 wurden im Nyamirambo 20 Täter und Verantwortliche des Völkermordes hingerichtet, 2007 wurde die Todesstrafe abgeschafft. Seitdem soll das Nyamirambo ein Ort des Vergnügens sein. Vor allem während der Heimspiele des erfolgreichsten Vereins, des Armeeklubs APR.
Mubaraka Muganga ist einer der Vizepräsidenten des Vereins und sagt: "Anfang der 90er-Jahre wollten wir Ruanda von der Gewaltherrschaft befreien. Es herrschte Krieg, viele Menschen wurden getötet. Der Anführer unserer Rebellenarmee und jetzige Staatspräsident Paul Kagame wollte für uns Soldaten ein wenig Ablenkung schaffen. Also spielten wir Fußball und gründeten eine Mannschaft. So kamen wir auf andere Gedanken."
Der Zweisternegeneral Mubaraka Muganga verfolgt Heimspiele auf der Ehrentribüne in Uniform. Auf der Gegengerade stehen Hunderte Zuschauer. Auch Trommler und Trompeter, viele mit geschminkten Gesichtern. Militärs wie Mubaraka Muganga spielten eine wichtige Rolle bei der Niederschlagung des Genozids. Den Fußball nutzen sie nun zur Repräsentation. APR, inzwischen 17-mal Meister, soll als ein Symbol gelten. Für Ruandas Auferstehung.

Fußball half Rebellen, Kämpfer zu rekrutieren

"Der Fußball hat unsere Soldaten im Befreiungskampf bei Laune gehalten. In abgelegenen Wäldern organisierten wir Turniere", sagt Mubaraka Muganga. "Das sprach sich herum und zog Gleichgesinnte an. So half uns der Fußball bei der Mobilisierung neuer Kämpfer."
Fast 27 Jahre nach dem Völkermord an den Tutsi ist Ruanda nicht wiederzuerkennen. Man kann sich davon ein Bild in Kigali Heights machen, einem der Geschäftsviertel in der Hauptstadt. In gläsernen Büros haben sich Banken, Startups und Cafés niedergelassen, daneben ein Luxushotel und ein Kongresszentrum.
Jules Karangwa steht vor einer Tribüne.
Im Jahr vor dem Völkermord geboren: Jules Karangwa ist Mitarbeiter des ruandischen Fußballverbandes.© Deutschlandradio / Ronny Blaschke
Ruanda ist eines der am dichtesten besiedelten Länder Afrikas, hat aber keinen Meerzugang und kaum Rohstoffe. Daher möchte die Regierung Touristen, Investoren und große Events anwerben, sagt Jules Karangwa, Mitarbeiter des ruandischen Fußballverbandes: "Wir haben es geschafft, internationale Fußballwettbewerbe zu organisieren, gerade im Nachwuchs. Auch das Führungsgremium der Fifa hat bei uns getagt."

Die Vergangenheit als Verpflichtung

Jules Karangwa wurde im Jahr vor dem Völkermord geboren, sein Vater wurde getötet. Karangwa wollte schon als Jugendlicher den Wiederaufbau Ruandas mitgestalten. Er studierte Jura, arbeite als Sportreporter, wechselte zum Fußballverband. Jules Karangwa steht für die wachsende Mittelschicht, die sich mit Bildung einen gewissen Wohlstand erarbeiten möchte. Und er schöpft aus der Vergangenheit eine Verpflichtung.
Er sagt: "Die Regierung nutzt den Fußball als Element ihrer Versöhnungspolitik. In jeder Gemeinde finden Gedenkturniere statt. Das lockere Umfeld des Sports hilft uns, ins Gespräch zu kommen. Wir laden auch andere Nationalteams ein und senden unsere Botschaften in die Welt hinaus, damit so etwas Schlimmes nie wieder passiert."
1994 lag die Lebenserwartung in Ruanda bei 28 Jahren, mittlerweile liegt sie bei fast siebzig. Mehr als 40 Prozent der nationalen Ausgaben fließen in Bildung und Gesundheit. Im Weltbank-Index für wirtschaftsfreundliche Staaten belegt Ruanda Platz 29. Kann der Fußball mit sportlichen Erfolgen irgendwann die Ambitionen der Regierung unterstreichen?

Kicken ist ein Teil der Versöhnung

Jules Karangwa sagt: "Zehn Jahre nach dem Genozid, 2004, qualifizierte sich unser Nationalteam zum ersten und einzigen Mal für die große Afrikameisterschaft. Dieser Erfolg stärkte den Zusammenhalt. Die Regierung und wir als Verband bauen neue Plätze, damit wir daran weiter anknüpfen können."
Ein Besuch in Kimisagara, einem Viertel von Kigali mit überdurchschnittlich hoher Arbeitslosigkeit. Jugendliche in bunten Trikots stürmen über einen kleinen Bolzplatz. Daneben findet in einem Flachbau ein Workshop zu Gewaltprävention statt. Darüber prangt der Name des Projektes: Espérance, Hoffnung.
Die Verantwortung trägt Victor Sewabana: "Es gibt hier Probleme: Schulabbrüche, Drogenmissbrauch, Gewalt. Mit Fußball erreichen wir Jugendliche aus dem Viertel, die wir sonst nicht erreichen würden."
Espérance geht 1996 an den Start, zwei Jahre nach dem Genozid. In einer Zeit, in der sich vor allem Kirchen und Nachbarschaftsgruppen der Versöhnung verschreiben. Espérance greift eine Idee auf, die schon in anderen Ländern umgesetzt wird, etwa im kolumbianischen Medellín: Mädchen und Jungen aus unterschiedlichen Milieus spielen ohne Schiedsrichter Fußball. Für Selbstvertrauen und Teamfähigkeit.

"Das Misstrauen war groß"

Victor Sewabana, aufgewachsen in der Nachbarschaft, ist seit Anfang an dabei und sagt: "Die Menschen waren damals traumatisiert. Das Misstrauen war groß. Viele Eltern warnten ihre Kinder vor Kontakten. Sie dachten, das Morden könnte wieder losgehen."
Wie lässt sich Versöhnung gestalten, wenn biografische Wurzeln nicht angesprochen werden sollen? Wie kann man Kinder einbinden, deren Eltern zu den Mördern gehörten? Nach fünf, sechs Jahren findet Espérance seine Balance, bald mit neuen Partnern: mit dem Deutschen Entwicklungsdienst DED, mit der Fifa und dem Netzwerk Streetfootballworld.
Espérance erweitert seine Methoden über den Fußball hinaus, führt Theater und Musik ein, mittlerweile mit sieben Trainern und 50 Helfern, sagt Victor Sewabana: "Die Regierung und die Zivilgesellschaft setzten sich dafür ein, dass wir nicht mehr über die ethnische Trennung sprechen, nicht über Hutu und Tutsi. Es soll nur eine Bezugsgröße geben: Ruanda. Wir stellen das Gemeinsame in den Mittelpunkt. Und gerade die junge Generation hat das verinnerlicht."
Viktor Sewabana posiert vor einem Fußballplatz für ein Foto.
"Wir stellen das Gemeinsame in den Mittelpunkt", sagt Viktor Sewabana vom Projekt Espérance in Kigali.© Deutschlandradio / Ronny Blaschke
Regelmäßig schauen Vertreter des ruandischen Sportministeriums bei Espérance vorbei, ebenfalls von den Vereinten Nationen und der Fifa.

Entwicklungshilfe als eine Art "Ablasshandel"?

Auch Profiklubs wie Werder Bremen und der DFB waren in Ruanda unterwegs. Das Land gilt bei europäischen Geldgebern als verlässlicher Partner, schreibt der langjährige deutsche Diplomat Volker Seitz in seinem Buch "Afrika wird armregiert".
Ansonsten zeichnet Seitz ein kritisches Bild: "Entwicklungshilfe hat für Regierungen und viele Menschen im Norden noch immer den Charakter von Ablasshandel, bei dem es vor allem darauf ankommt, Altruismus, Mitleid und Großzügigkeit zu zeigen."
In den vergangenen sechs Jahrzehnten sollen rund zwei Billionen Dollar aus dem globalen Norden in den Süden geflossen seien. Dennoch haben sich Lebensbedingungen in vielen Ländern nicht wesentlich verbessert. In Ruanda ist der Staatshaushalt zu mehr als 40 Prozent von ausländischen Zahlungen abhängig.
Allein in der Hauptstadt Kigali sind mehrere Hundert Hilfsorganisationen angesiedelt. Deren Mitarbeiter brauchen Unterkünfte, Büromaterial und Fahrer, schreibt Volker Seitz: "In Afrika hat sich eine Art Entwicklungshilfe-Industrie entwickelt, die längst zum Selbstläufer geworden ist. Es ist von keiner dieser Organisationen zu erwarten, dass sie sich selbst abschafft."

Sport ist ein beliebtes Motiv für Broschüren

Spätestens seit der Vergabe der Fußball-WM 2010 an Südafrika ist Sport, vor allem der Fußball, ein beachtetes Thema der Entwicklungshilfe. Ein beliebtes Motiv in den Broschüren der Organisationen sind Helfer, die mit Einheimischen auf staubigen Bolzplätzen kicken.
Rund um die WM 2010 lässt die Fifa in Afrika 20 Begegnungsorte bauen: "Football For Hope". Etliche dieser Zentren entwickeln sich gut, zum Beispiel Espérance in Ruanda. Andere verfallen, weil ihre Mitarbeiter nicht fortgebildet werden.
Kinder und Jugendliche spielen auf Bolzplatz Fußball.
Im Projekt Espérance geht es neben dem Spaß darum Kindern Selbstvertrauen und Teamfähigkeit beizubringen.© Deutschlandradio / Ronny Blaschke
Bereits in den 1960er-Jahren entsandte die Bundesrepublik Trainer nach Afrika und Asien. Oftmals fügte sich ihr Engagement in den Zeitgeist ein, in eine gönnerhafte Perspektive auf die "Dritte Welt". Ab 2005 stärkte Außenminister Frank-Walter Steinmeier die "Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik".
In der Sportförderung des Auswärtigen Amtes wurden mit DFB und dem Deutschen Olympischen Sportbund bis heute rund 1500 Maßnahmen in mehr als 100 Ländern durchgeführt.
Die Industriestaaten fordern von afrikanischen Regierungen Eigeninitiative, aber nicht um jeden Preis. Ruanda etwa möchte seinen Tourismussektor ausbauen. Die Regierung wirbt in Europa für ihre Nationalparks und Berggorillas.

Kritik an Tourismuswerbung auf Trikotärmeln

Ruanda überweist pro Jahr geschätzte 35 Millionen Euro nach London, damit der FC Arsenal auf seinen Trikotärmeln mit dem Schriftzug "Visit Rwanda" spielt. In England sind einige Politiker empört: Wie könne ein Land, das aus dem britischen Haushalt Entwicklungshilfe bezieht, so viel Geld für einen Fußballklub ausgeben?
Viele Ruander fühlen sich von solcher Kritik getroffen, zum Beispiel Richard Bishumba, Sportredakteur der New Times, der führenden Zeitung in Kigali.
"Die allermeisten Kritiker sind wahrscheinlich noch nie in Ruanda gewesen", sagt er. "Manche Europäer wollen ihre Wahrnehmung gar nicht ändern, für sie wird Afrika immer arm bleiben. Aber die Werbung mit dem FC Arsenal zielt auf eine langfristige Wirkung. Und schon jetzt sind mehr Touristen und Investoren auf Ruanda aufmerksam geworden. Auch einige Sportstars haben Ruanda besucht."

Konflikte für eine Weile vergessen

Ruanda ist von krisengeplagten Ländern umgeben. Im Westen, in der Demokratischen Republik Kongo, leben viele Hutu-Extremisten im Exil und hoffen auf die Rückeroberung Ruandas. Paul Kagame, Ruandas Präsident, schickte Truppen und Waffen über die Grenzen, um das Erstarken der Hutu-Milizen zu verhindern. Die kongolesische Regierung aber verbittet sich die Einmischung Kagames.
Der Fußball kann Konflikte für eine Weile in den Hintergrund drängen. 2016 fand in Ruanda ein wichtiges kontinentales Turnier statt. Das Finale in Kigali gewann die Demokratische Republik Kongo.
Die kongolesischen Fans hatten die Grenze überqueren dürfen, nun sangen sie ihre Hymne und schwenkten ihre Fahne. Einige Wochen zuvor: unvorstellbar. Paul Kagame gratulierte den Gewinnern, die er sonst so ungern siegen sieht.
Mehr zum Thema