Wir konnten damals das Haus nicht verlassen. Die Gefahr war groß, von einem Scharfschützen erschossen zu werden. An Fußballtraining war nicht zu denken.
Erinnerungen von Dženan Đipa an den Krieg
Fußball und Politik in Bosnien und Herzegowina
Friedliche Fans von Zeljeznicar Sarajevo: Doch immer wieder kommt es zu Ausschreitungen, die politisch motiviert sind. © Imago / Aleksandar Djorovic
Spielfeld der Spalter
23:36 Minuten
Vor 30 Jahren umzingelten serbische Scharfschützen das zentrale Fußballstadion von Sarajevo. Und auch heute noch kommt es in der Region zu politisch motivierten Ausschreitungen rund um die Stadien. Doch es gibt auch Projekte der Versöhnung.
Kurz nach Beginn des russischen Angriffskrieges in der Ukraine im Februar 2022 zeigen Fans im serbisch geprägten Banja Luka ein Banner mit der Botschaft: „Serben und Russen – Gott ist mit uns.“
Die kyrillische Sprache, die Vereinsfarben des FK Borac: In vielem orientieren sich die Anhänger in Banja Luka an Symbolen des Nachbarstaates, an Serbien. Die Symbole von Bosnien und Herzegowina, dem Staat, in dem sie leben, lehnen sie ab.
Der Krieg ist vorbei, der Nationalismus lebt fort
Auch die anderen Bevölkerungsgruppen können mit den offiziellen Symbolen des bosnischen Nationalstaates wenig anfangen. Mit Hymne, Fahne oder Landeswappen, die nach dem Dayton-Abkommen 1995 eingeführt wurden.
Das führt auch im Fußball zu Abwehrreflexen, sagt der Fanforscher Alexander Mennicke: „Wenn diese Hymne bei Länderspielen oder auch bei normalen Spielern gespielt wird, dann ist es so, dass die bosniakischen Gruppen ihre eigene Hymne singen. Und zwar eine Hymne, die 1992 innerhalb des Unabhängigkeitsprozesses und während des Krieges so internalisiert wurde und dort eine große Rolle gespielt hat. Diese Hymne wird sozusagen anstelle der oktroyierten Symbole von Dayton benutzt.“
Der Bosnienkrieg ist seit Langem vorbei, der Nationalismus lebt fort. Wie können sich die Bevölkerungsgruppen wieder annähern?
Im Fußballverband von Bosnien und Herzegowina hat Dženan Đipa soziale Projekte entwickelt. Mädchenturniere, Gesundheitsvorsorge, eine Schulliga. Wie so viele andere Menschen in Bosnien hat auch Dženan Đipa prägende Erinnerungen an den Krieg. Er ist damals, Anfang der 90er-Jahre, noch zur Schule gegangen.
Er sagt: "Wir konnten damals das Haus nicht verlassen. Die Gefahr war groß, von einem Scharfschützen erschossen zu werden. An Fußballtraining war nicht zu denken. Jahrelang mussten wir in unserem Viertel bleiben. Ich habe vergessen, wie Schokolade oder Cola schmecken."
Ein Heimspiel in Banja Luka ist undenkbar
Seit der Kindheit liebt Dženan Đipa den Fußball, auch als Ablenkung vom traurigen Alltag. Nach dem Krieg unterstützt er als jugendlicher Fan das neue Nationalteam von Bosnien und Herzegowina.
2007 boykottieren mehrere Spieler das bosnische Nationalteam. Nach ihrer Einschätzung legt der Fußballverband mehr Wert auf die nationalen Identitäten der Spieler als auf ihre sportlichen Talente.
Inzwischen aber bemühe sich der Verband um Verständigung, sagt Dženan Đipa: „Das ist eine große Herausforderung. Der Vorstand des Fußballverbandes hat 15 Mitglieder. Fünf für jede der drei Nationalitäten: Bosniakisch, Serbisch und Kroatisch. Nach Regeln des europäischen Verbandes UEFA dürfen wir aber nur einen Präsidenten haben. Sicherlich gibt es in unserem Land viele Menschen, die nicht das bosnische Nationalteam unterstützen. Sie halten eher zu Serbien oder Kroatien. Das ist okay, so lange alles friedlich bleibt.“
Das Nationalteam von Bosnien und Herzegowina bestreitet Heimspiele in Sarajevo oder Zenica, in Städten mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit. Ein Auftritt in Banja Luka, der Hauptstadt der Republika Srpska, ist aktuell undenkbar.
Sicherheitsdienst in der Schule
Die Konfliktlinien verlaufen quer durch das Land Bosnien und Herzegowina. Doch manchmal verlaufen sie auch quer durch eine Stadt. Ein eindringliches Beispiel ist Mostar in der Herzegowina. Die Region liegt im Südwesten des Landes, nicht weit von der Grenze zu Kroatien entfernt. Mostar veranschaulicht die Komplexität des Bosnienkrieges.
Kontroverse Themen in der Öffentlichkeit führten auf unserem Schulhof zu Konflikten: Parlamentswahlen, der Internationale Strafgerichtshof, aber auch Fußballspiele in Mostar.
Fußballfan Esmer Meškić
Esmer Meškić ist in Mostar aufgewachsen, als er während des Krieges noch ein Kleinkind war. Sein Vater gehörte damals einer bosniakischen Kampfeinheit an.
"Meine Familie und ich wurden von Kroaten in einem Lager festgehalten. Im Juli, bei rund 40 Grad, und das für mehrere Wochen. Meine Eltern litten danach unter einer posttraumatischen Belastungsstörung.“
Esmer Meškić besuchte in der Schule eine Klasse mit ausschließlich muslimischen Schülern. Er erinnert sich: „Bosniaken und Kroaten gingen in dieselbe Schule, aber in unterschiedliche Klassen. Wir begegneten uns nur draußen während der Pausen. Kontroverse Themen in der Öffentlichkeit führten auf unserem Schulhof zu Konflikten: Parlamentswahlen, der Internationale Strafgerichtshof, aber auch Fußballspiele in Mostar. Manchmal gab es Schlägereien zwischen Schülern. Ein Sicherheitsdienst war rund um die Uhr anwesend.“
Todesschüsse beim Fußball
Nicht nur die Stadt Mostar ist ethnisch getrennt – auch ihre Fußballlandschaft. Esmer Meškić ist Fan von Velež Mostar, gegründet 1922. Jahrzehnte lang ist Velež ein Sinnbild der multikulturellen Gesellschaft. Doch nach dem Krieg ist es damit vorbei. Velež muss sein altes Stadion im Westen von Mostar an den verhassten Stadtrivalen abtreten. Inzwischen zieht Velež vor allem muslimische Fans an.
Der große Stadtrivale ist Zrinjski Mostar. Ein Klub mit kroatischen Wurzeln, der im kommunistischen Jugoslawien verboten war. Zrinjski hatte nämlich Verbindung zur Ustascha gehalten, einer faschistischen Bewegung während des Zweiten Weltkrieges.
Und auch heute noch glorifizieren viele Fans von Zrinjski die Ustascha. Rund um ihr Stadion sind etliche Wände mit Hakenkreuzen und nationalistischen Symbolen beschmiert, berichtet Esmer Meškić: „Fans von Zrinjski Mostar haben Kriegsverbrechen der kroatischen Truppen gefeiert. Viele von ihnen würden unseren Landesteil lieber an Kroatien anschließen. Sie haben sogar die Zerstörung unserer historischen Brücke verhöhnt. Aber auch für uns ist der Fußball politisch. Im Fußball können wir an bosnische Generäle und Soldaten erinnern. Manchmal ist es schon in den Nächten vor großen Stadtderbys zu Schlägereien gekommen. Als ich 17 oder 18 war, da haben wir genau aufgepasst, in welche Straßen und Kneipen wir gehen. Es gab sogar Kämpfe mit Baseballschlägern.“
Dieser Hass kann tödliche Folgen haben. Am 4. Oktober 2009 reisen hunderte muslimische Fans des FK Sarajevo zum Auswärtsspiel in die Kleinstadt Široki Brijeg, in der ausschließlich bosnische Kroaten leben. Der lokale Klub in Široki Brijeg akzeptiert nur katholische Spieler.
Bei einem Europapokalspiel gegen Beşiktaş Istanbul präsentierten seine Fans einen Kreuzritter mit dem Schriftzug: „Bollwerk der Christenheit“. Nun, im Oktober 2009, eskaliert die Lage in Široki Brijeg. Muslimische und kroatische Bosnier gehen aufeinander los. Im Chaos ergreift ein Kroate mutmaßlich die Waffe eines Polizisten und erschießt einen Fan des FK Sarajevo. Der Täter wird festgenommen, kann sich aber später offenbar nach Zagreb absetzen. In der Hauptstadt Kroatiens muss er keine Auslieferung fürchten.
Der Politikwissenschaftler Alexander Mennicke untersucht diesen Fall in seiner Bachelorarbeit und er beschreibt auch das spätere Opfergedenken der bosniakischen Fans in Sarajevo: „Am anschaulichsten war das auf jeden Fall direkt nach dem Todestag. Als Fans des FK Sarajevo die wichtigste Kreuzung in Sarajevo besetzt haben, um dort die Aufklärung des Falles zu fordern. Und die Fans des größten Rivalen aus der eigenen Stadt, von Željezničar, sind in einem Marsch von ihrem eigenen Stadion auf diese Kreuzung zugelaufen. Und am Ende bei diesem Treffen haben beide gemeinsam die Nationalhymne gesungen und sind sich in die Arme gefallen.“
Zeichen der Zuversicht
Die Ursachen für die Eskalationen zwischen bosniakischen und kroatischen Fans sind vielfältig. Manchmal liegen sie sogar in der Ferne. So wie im Sommer 2008: Damals bezwingt die Türkei im Viertelfinale der Europameisterschaft Kroatien. Als Reaktion gehen im ethnisch geteilten Mostar hunderte Fußballfans aufeinander los, es gibt zahlreiche Verletzte.
Auch Esmer Meškić kann sich gut an jenen Tag 2008 in seiner Heimatstadt erinnern. Er schildert seine Erinnerungen in Mostar in einem zentralen Café. Er schaut hinüber zum „Museum of War and Genocide“, einem Erinnerungsort mit erschütternden Bildern und Videos über den Völkermord von Srebrenica. Er sagt: „Jedes Land auf dem Balkan hat eine eigene Geschichtsschreibung. Wir müssen unseren Kindern die objektive Wahrheit nahebringen. Und die findet man beim Internationalen Strafgerichtshof. Ich kann nicht jeden Kroaten hassen. Verbrechen werden von Individuen begangen, nicht von ganzen Bevölkerungsgruppen.“
Kann der Fußball diesen Prozess begleiten? Kann das Nationalteam von Bosnien und Herzegowina ein Symbol der Annäherung werden? Im Sommer 2014 bestreitet die bosnische Nationalmannschaft in Brasilien ihre bislang einzige WM. Gleich im ersten Spiel verlangt sie Argentinien einiges ab, unterliegt aber 1:2. Sogar in Serbien und Kroatien äußern viele Menschen dafür Respekt. Es gibt sie also doch, die Zeichen der Zuversicht.