Der Beitrag ist eine Wiederholung vom 19. Januar 2020.
Dem tristen Slum entfliehen
23:36 Minuten
Wohl knapp eine Million von Nairobis geschätzten drei Millionen Einwohnern leben in einem der zahlreichen Slums der Hauptstadt. Hilfsprojekte versuchen den Kindern und Jugendlichen dort Perspektiven zu geben: zum Beispiel durch Fußballspielen.
"Das ist der einzige Ort, wo mein Vater und meine Mutter hinziehen konnten. Als ich hier aufgewachsen bin, musste ich lernen, dass man einige Dinge einfach nicht ändern kann. Aber mir wurde auch klar, dass man jeden Tag zumindest versuchen kann, etwas an seiner Haltung zu arbeiten. Deswegen sage ich nicht, dass es mir hier schlecht geht. Ich genieße einfach jeden guten Moment, den ich haben kann."
Vom Eingang seiner Holzhütte blickt Nicholas Kimeu zwischen Wäscheleinen hindurch auf Wellblechdächer und ausgewaschene Straßen. Sein ausgestreckter Arm deutet über Mathare, einer der zahlreichen Slums in Kenias Hauptstadt Nairobi – Nicholas Kimeus Geburtsort. Gegenüber wohnt sein Bruder. Die Hütte der Eltern eine Gasse weiter haben die beiden verlassen, als ihre Mutter 2012 gestorben ist.
Wenn Nicholas Kimeu seinen Blick nach links wendet, erscheinen im staubigen Dunst am Horizont die Hochhausfronten der Westlands. Dahinter erheben sich die grünen Hügel Nairobis voller exklusiver Wohnanlagen. Die Bäume und Wege dort zum Spazieren kennt Nicholas Kimeu nur aus Erzählungen und von Bildern.
"Die meisten Leute hier in Mathare haben keine klare Vorstellung davon, was für ein Leben sie sich eigentlich wünschen. Einige denken, sie sitzen für immer in diesem Loch fest, egal was kommt. Aber ich denke: Nein! Ich habe Dinge im Fernsehen gesehen, Bücher gelesen. Und ich habe eine Vorstellung für mich von einem besseren Leben."
Etwa eine Millionen Menschen leben in Nairobis Slums
Wohl knapp eine Million von Nairobis geschätzten gut drei Millionen Einwohnern leben in einem der zahlreichen Slums der Hauptstadt. Eingebettet zwischen Häuserblocks und Rohbauten aus Beton erstrecken sich auf riesigen Flächen und in Tälern die Hütten, Gassen und Stände derer, die sich anderen Wohnraum nicht leisten können.
Einige Wasserkanister und ein wackliges Regal lehnen an der Wand vor Nicholas Kimeus Holzhütte. Früher hat er hier mit einem Fußball auf die improvisierte Torwand geschossen. Heute, mit 27 Jahren, fotografiert er Bewohner von Mathare und schreibt Geschichten über das Leben im Slum. Die Idee zum Schreiben und Fotografieren hat Nicholas Kimeu in einem Kurs in der einzigen Bibliothek von Mathare bekommen.
"Die einzige Möglichkeit, am Angebot der Bibliothek teilzuhaben, war der Sport. Häufig kommen Sozialarbeiter einfach in Schulen. Dort verteilen sie Trikots und Fußbälle. Und dann nehmen sie uns mit auf den Fußballplatz. Um uns zu trainieren und Kindern Fußballspielen beizubringen. Plötzlich waren wir in einer Liga. Und dann haben wir erst mal einfach immerzu Fußball gespielt."
Jugend durch Sport stärken
Und sich nach und nach immer häufiger in der Bibliothek getroffen, um über das Leben im Slum zu sprechen und was es bedeutet, hier groß zu werden. Die "MYSA Mathare Library" ist eins der Projekte der Mathare Youth Sports Association, kurz MYSA. 1987 wurde die Hilfsorganisation gegründet und gehört mittlerweile zum Leben im Slum dazu – als Anlaufstelle für Beratung, als Ideengeber und als eine Art Kultur- und Sportzentrum. Die Mitarbeiter wollen die Jugend stärken, ihnen soziale Kompetenzen und Selbstvertrauen durch Sport und andere Projekte vermitteln. Michael Maina ist Programm-Manager bei MYSA und selbst in einem Slum groß geworden.
"MYSA arbeitet in sechzehn verschiedenen Vierteln in den Eastlands von Nairobi. Daraus hat sich eine Fußballliga entwickelt – mit Saisonspielen übers Jahr verteilt. Die besten Teams jeder Altersgruppe spielen um die Meisterschaft. Wie eine Champions League von MYSA. Jedes Jahr im Dezember finden dann die Finalspiele statt."
Fußball als gesellschaftliches Bindeglied
Die MYSA-League hat sich zur größten Jugendliga Afrikas entwickelt. Schon seit Jahren spielt ein Auswahlteam von MYSA, Mathare United, in der ersten kenianischen Liga und wurde mehrfach Meister. Aus keinem Klub sind so viele Nationalspieler des Landes hervorgegangen. Doch Profi werden bei Mathare United kann nur, wer im Slum aufgewachsen ist und Mathares Jugendmannschaften durchlaufen hat. Alle Spieler wissen, was Leben im Slum bedeutet. In Kenias Städten und Dörfern wird fast auf jedem verfügbaren Feld Fußball gespielt. Auch wenn der Profifußball keinen so großen Stellenwert hat wie die kenianischen Marathon- und Mittelstreckenläufer: Der Fußball dient gerade in den armen Vierteln auch als Bindeglied.
Auf klapprigen Holztischen vor den Hütten liegen Plastikspielzeug, Bananenstauden und gebratene Ziegenrippchen auf rauchenden Grillrosten aus. Kinder laufen Slalom um die Holzstangen vor den Hütten und zwischen geparkten Mofas. Von der Juja Road oberhalb des Slums dringt entferntes Motorknattern und das Hupen der Matatus, der typischen Taxi-Kleinbusse, in die Gassen.
Den täglichen Stau auf der Straße erlebt Michael Maina, wenn er nach Mathare fährt – von seiner Arbeitsstelle in Komarock bei MYSA. Als ehemaliger Teilnehmer von MYSA-Projekten kennt Michael Maina die Situation im Viertel.
"Wenn ich in Mathare bin, kann ich besser verstehen, welche Strapazen die Menschen hier für einfachste Dinge wie Wasser, Essen und eine halbwegs ordentliche Bleibe auf sich nehmen müssen. Das lässt mich jedes Mal auch demütig werden. Aber selbst wenn die Bewohner hier auch mal woanders hinkommen, vielleicht sogar die Möglichkeit haben, das Ausland zu sehen, wissen sie trotzdem zu schätzen, wie sie mit ihrem Leben hier auskommen können."
Auf seinem Weg durch Mathare bleibt Michael Maina alle paar Meter stehen, begrüßt Jugendliche und Kinder vor ihren Hütten mit Handschlag und Ghettofaust. Ein kurzer Spruch, ein schnelles Lächeln. Hammerschläge und Radiomusik begleiten die Gespräche über Alltag und Fußball. Ein süßlich brennender Geruch beißt in der Nase. Der Staub auf den Straßen wirbelt durch die Luft, als Michael Maina einer Gruppe von Kindern einen Ball zurückschießt.
"Wenn man hier mit einem Fußball auftaucht, kommen sofort Kinder, um gegen den Ball zu treten. Wenn sie dann ein bisschen gekickt haben, hat man ihre Aufmerksamkeit und kann mit ihnen auch über andere Dinge reden – ihre Rechte oder wie sie sich von Drogen fernhalten können. Das ist viel besser, als die Kinder einfach zusammenzutrommeln und ihnen stundenlange Vorträge zu halten."
Mit Kamera losziehen
Auch Michael Maina selbst hat über MYSA und Fußball zu kreativer Arbeit gefunden. Mittlerweile ist er Programm-Manager für das Projekt "Shootback". MYSA verleiht Kameras und Technik, damit die Teilnehmer auf eigene Faust ihr Viertel, ihre Freunde und ihre Umgebung fotografieren, filmen und dokumentieren können. Und vor allem, um Kindern und Jugendlichen Abwechslung und neue Perspektiven zu bieten.
"Die Projekte sind alle miteinander verzahnt und ergänzen sich. Das gemeinsame Ziel von allen Aktivitäten ist immer zu helfen und das Leben der Gemeinschaft und Teilnehmer zu verbessern. Es kann sein, dass jemand sich als Schiedsrichter bei MYSA engagiert und dann dort zum Ausbilder für andere reift. Weil man eben auch mit vielen verschiedenen Projekten in Kontakt kommt."
Nicholas Kimeu hat in vielen dieser Projekte genau zugehört, zugeschaut und sich Gedanken gemacht, was es heißt, in Mathare aufzuwachsen. Daheim in seiner Holzhütte mit zwei Wasserkanistern als Hocker und Tisch, einem Spiegel an der Wand und einer Pritsche in der Ecke hat er Geschichten dazu entwickelt und aufgeschrieben. Inzwischen fasst er seine Gedanken in eigene Texte und Gedichte über Herkunft und Schicksal.
"Dieser Eindruck hat sich in mir festgesetzt. Ich habe mich gefragt: Warum kommen ständig andere Leute hierher, um dann unsere eigenen Geschichten zu erzählen? Ich wollte die Gelegenheit nutzen, selbst zu erzählen. Ich wollte den Leuten meine Sicht auf die Kultur Nairobis und in Mathare näherbringen und das bekannt machen. Und ich wollte Leute von außerhalb das wahre Mathare kennenlernen lassen. Und mit dieser Idee bin ich auch das erste Mal mit der Kamera losgezogen."
An der Wand neben dem Spiegel hängt noch das allererste Foto, das Nicholas Kimeu gemacht hat: Zwei Kinder blicken hinter einer Ecke hervor in die Kameralinse. Dahinter verliert sich eine Gasse entlang winziger Rinnsale im rötlich lehmigen Boden vor einem Teppich aus zerdrückten Plastikflaschen. Bei regelmäßigen Treffen zeigen die Fotografen ihre Bilder. Dann unterhalten sich die Mitarbeiter von MYSA mit den Jugendlichen auch über Drogen, Kriminalität und Bürgerrechte.
Die große Kluft zwischen Arm und Reich
Nicholas Kimeu engagiert sich inzwischen dafür, Bäume zwischen die Hütten zu pflanzen und die Straßen vor der Regenzeit besser zu befestigen. Er hat sich vom Leben in Mathare inspirieren lassen – und von den Erzählungen anderer Bewohner.
"Ich habe aufmerksam gelauscht, wenn ein Bekannter mir beschrieben hat, wie er früher gestohlen und Leute überfallen hat. Und wie er erkannt hat, dass Stehlen auf Dauer keine gute Idee ist. Jetzt engagiert er sich für die andere Seite, die Betroffenen. Solche Geschichten bekomme ich hier immer wieder erzählt. Manchmal erlebe ich sie selbst, manchmal lese ich darüber. Daraus entwickle ich dann meine Ideen."
Bei seinen Projekten ist Nicholas Kimeu getrieben von seinen Gedanken und seiner Umwelt. Beim Schreiben reflektiert er die Dinge, die um ihn herum geschehen und denen er ausgesetzt ist. Ihm hilft es, das zu dokumentieren, was er jeden Tag sieht und erlebt.
"Das hier ist die Wirklichkeit, die gelebte Wirklichkeit. Wir spüren die Trennung, die große Kluft zwischen Arm und Reich jeden Tag. Und der Grund dafür liegt auch in der Politik und im System. Wenn reiche Leute andere reiche Leute dafür bezahlen, damit Handlanger dann die Ärmsten verantwortlich machen, ist das wie eine Nahrungskette, an deren Ende wir stehen. Man ist Spielball des Systems, nur auf sehr verschiedenen Ebenen." Auf dem Fußballfeld hingegen gelten andere Regeln. Alle Spieler werden gleichermaßen behandelt. Auch das Regelwerk macht sich MYSA zunutze, um zu zeigen, wie man etwas aus sich machen kann – in einem vorgegebenen Rahmen, mit möglichst gleichen Voraussetzungen.
Auf den Fußballplätzen in Komarock geht es zu wie bei Jugendmannschaften von großen Vereinen. Eingeteilt in Altersgruppen fordern die Trainer die Jugendlichen mit individuellen Übungen und in Trainingsspielen. Nicholas Kimeu war häufig im roten Trikot des aktuellen Champions League Siegers FC Liverpool auf dem Platz zu sehen: sein Lieblingsverein. Bis heute drückt er dem Team in der Premier League die Daumen. Doch nach und nach ist die Begeisterung für den Fußball dem Interesse an anderen Projekten gewichen.
"Irgendwann habe ich dann Unterricht in Fotografie und Film genommen. Aber für mich wurde dann schnell klar, dass mich Film mehr interessiert. Beim Fotografieren habe ich einfach losgelegt und geknipst. Mein erstes Foto habe ich ja immer noch. Aber dann ging es mit den Filmen los, was mehr Zeit braucht und gut ist. Gerade arbeite ich an einem fiktionalen Film mit einem Freund."
Filme über das Fußballprojekt
Auch Filme über das Fußballprojekt selbst gibt es. Mitarbeiter wollen zeigen, wie mit Hilfe von Sport mehr soziale Gerechtigkeit geschaffen werden kann. MYSA fördert viele solcher Ideen und will damit Ausgleich schaffen zur vermeintlich unerreichbaren Welt außerhalb der Slums. Wenn es nach den Mitarbeitern geht, sollen Kinder von Anfang an das Gefühl haben, hier die gleichen Chancen wie sonst wo zu haben. In einem dreistöckigen, bunt bemalten Betonhaus am Ende der großen Gasse voller Stände, Garöfen und wuselnden Menschen liegt die Bibliothek der Organisation. Kinder sitzen am Boden und blättern in Bilderbüchern.
Im oberen Stockwerk stehen Regale voller Romane, Geschichtsbücher und Biografien auf Englisch und Swahili. Fredrick Wambua leitet seit 2008 die Bibliothek, organisiert Bücherspenden und Lesestunden für die Kinder.
"Die meisten Hütten hier sind winzig. Zugang zu Bildung gibt es kaum. Das ist daheim nicht vorgesehen und es gibt auch einfach keinen Rückzugsort zum Lesen. Teilweise leben acht Familienmitglieder auf engstem Raum. Ein Zimmer dient häufig als Wohnzimmer, Kinderzimmer und Schlafzimmer zugleich. Dort gibt es einfach nicht genug Platz zum Lesen."
Draußen vor den Fenstern und dem grünen Schriftzug "MYSA Mathare Library" auf dem Zaun aus Blech dreht sich rumpelnd eine Betonmischmaschine. Einige Bewohner bauen neben der Bibliothek ein neues Haus. Gegenüber hängen tropfende Kleidungsstücke über eine Wäscheleine. An der Hauswand dahinter stehen auf Kreidetafeln die nächsten Spiele der englischen Premier League angeschrieben. Fredrick Wambua sitzt auf einem Stuhl am Tisch und blickt durch die Gitterstäbe der offenen Fenster.
"Die meisten Eltern, deren Kinder hier zu uns in die Bibliothek kommen, haben großes Vertrauen in diesen Ort. Sie wissen: Ihr Sohn oder ihre Tochter sind hier sicher. Und gleichzeitig können sie sich über alles informieren, was sie interessiert oder lernen wollen."
Kulturprojekte bilden Gemeinschaften
Inzwischen gibt es vier Bibliotheken über Nairobi verteilt. In jedem Viertel werden andere Projekte angeboten. Bei gemeinsamen Kulturveranstaltungen oder zu den Fußballspielen trifft man sich wieder. Je länger die Teilnehmer bei Projekten mitmachen, desto mehr werden sie auch in die Organisation mit eingebunden. So entsteht eine große Gemeinschaft. Auch andere Hilfsorganisationen sind in den Vierteln aktiv. Der Anspruch von MYSA ist es, die Bewohner zu Eigeninitiative und Engagement zu bewegen – jeder im Rahmen seiner Möglichkeiten. Die Voraussetzungen dafür sieht Michael Maina dabei trotz aller Schwierigkeiten sehr positiv.
"Inzwischen gibt es einfach viel mehr Möglichkeiten. Die Chancen sind besser für die Jugend und die Bewohner, wirklich kreativ zu sein. Es gibt mehr Kulturzentren und mehr Organisationen, die der Jugend helfen. Die Möglichkeiten, besonders für die Jugend, haben sich dahingehend wirklich verbessert."
Das Leben im Slum gleicht für Außenstehende teilweise einem Ameisenhaufen. Waren werden durch die Gassen getragen. Baumaterial liegt am Straßenrand. Jeder redet mit jedem. Doch neben allem Treiben spürt man nirgendwo wirkliche Hektik. Auch Michael Maina schlendert mehr als dass er ein festes Ziel ansteuert. In seinem weißem T-Shirt und Jeans sticht er etwas heraus aus der bunt gekleideten Menge. Eine Gruppe aus Jugendlichen in Fußballtrikots umringt ihn. Während Michael Maina auf sie einredet, schießen einige der Jungs einen Fußball gegen die Hauswand.
"Es herrscht hier nicht nur Chaos, wie viele Leute gerne behaupten. Die Straßen sind gut, auch wenn sie eben durch ein Slum führen. Man kommt überall hin. Und viele Leute hier betreiben ihren eigenen kleinen Handel. Vor allem aber herrscht Leben! Nicht nur Betrunkene und Drogenabhängige, wie Leute häufig denken. Klar, Drogen gab es hier immer und wird es wohl immer geben. Aber weil die Menschen merken, dass es viel mehr Möglichkeiten gibt, versuchen sie inzwischen auch viel mehr, etwas aus sich zu machen."
Vom Fußballplatz in die Zeitungsredaktion
Inzwischen haben Teilnehmer bei MYSA auch eine eigene Zeitschrift gegründet. Viele der Jugendlichen, die früher zusammen Fußball gespielt haben, sind jetzt quasi Kollegen. Das Cover des Magazins zeigt eine junge Kenianerin, stark geschminkt in einem orangenen Kleid. Darunter stehen Rubriken wie Wangari Maathai oder Matatu Culture. Das Mädchen ist das aktuelle Cover-Model des "Zoom Magazins". Die Magazinredaktion hat Njoki Muriithi als Gewinnerin des Monats durch ein Selfie von ihr ausgewählt. Untereinander sind die Jugendlichen im Slum gut vernetzt. Doch die Viertel sind immer noch Enklaven. Gladwin Kariuki lebt außerhalb der Stadt. Er arbeitet als Chauffeur und Uber-Fahrer und kennt jedes Viertel in Nairobi. Selten wollen seine Fahrgäste nach Mathare oder in andere Slums. Doch Gladwin Kariuki erlebt täglich die verschiedenen Seiten der Stadt – und beobachtet, wie sie sich entwickelt.
"Die Slums gab es schon immer. Das geht zurück bis in die Zeiten vor der Unabhängigkeit Anfang der 60er-Jahre. Aber so langsam verbessert sich die Situation der Bewohner dort ein bisschen. Sodass sogar Leute aus den Randbezirken freiwillig in die Slums ziehen. Und diese Tendenz wird sich noch verstärken."
Je weiter östlich man in Nairobi fährt, desto weiter erstrecken sich die riesigen Siedlungen. Von oben erblickt man das Ausmaß der Stadt. Das Ende der schillernden Dächer am Horizont ist im diesigen Licht nicht zu erkennen. Gladwin Kariuki selbst meidet beruflich das Zentrum der Stadt mit ständigem Stau, soweit er kann. Er nutzt lieber die neu gebauten Ringstraßen. Einige Bewohner ohne Fahrzeug sind allerdings darauf angewiesen, zentral mit kurzen Wegen und dafür ärmlicher zu wohnen.
"Ein Arbeitsplatz hier ist meist weit entfernt vom Wohnort. Das geht dann, wenn man genug verdient und sich ein Haus außerhalb leisten kann. Um Nairobi herum sind Häuser nicht gerade billig. Also ziehen viele Leute es vor, zentraler in einem Slum zu leben, auch aufgrund der Entfernung. Und das vertieft dann noch weiter die Kluft zwischen Reich und Arm."
Auf Hilfe angewiesen sein
Im Slum leben und arbeiten heißt auch: Auf Hilfe angewiesen sein. MYSA lebt nicht nur von Spenden. Europäische Regierungen, der Weltfußballverband FIFA und die Kenyatta Universität in Nairobi unterstützen die Projekte finanziell. Doch inzwischen verdient die Organisation auch eigenes Geld. Am Hauptsitz in Komarock bieten Mitarbeiter und Teilnehmer Fitnesskurse und Physiotherapie an. So können Projekte und Personal weiter finanziert werden. Die freiwilligen Helfer bekommen Punkte, wenn sie bei Fußballturnieren, bei Aufräumaktionen in Mathare oder AIDS-Präventionskursen mitmachen – zusätzliche Motivation für Nicholas Kimeu und andere, etwas im Slum zu verändern.
"So viele Menschen sind hier aufgewachsen. Und dann leben sie halt hier. Die nächste Generation führt das gleiche Leben. So entsteht ein Zyklus, der immer wieder neu anfängt. Dadurch ändert sich an der Situation hier aber rein gar nichts. Ich wollte aber unbedingt Initiative zeigen. Weil, wer weiß, vielleicht verlasse ich eines Tages diesen Ort. Aber vorher will ich hier etwas säen für die Zukunft. Damit die Leute nicht nur rumsitzen, sondern verstehen, dass sich nur vom reinen Wunsch hier wegzukommen an diesem Ort nie etwas ändern wird."
An der Tür zu Nicholas Kimeus Hütte steht in schwarzer Farbe: Empire – ein eigenes Reich. Daneben türmen sich auf einem zerfallenen Regal Holzpaletten, Wellblechreste und Plastiktonnen.
Kreativer aufgrund der Umstände
Michael Maina hält eine Broschüre in der Hand. Die beiden unterhalten sich vor der Hütte über das Filmfest in Mathare. Nicholas Kimeu will dort seinen ersten Film vorführen. Einmal im Jahr organisiert MYSA im Innenhof eines improvisierten Kulturzentrums das Mathare Youth Film Festival. Michael Maina hofft, dadurch auch noch mehr Aufmerksamkeit für die Projekte und die freiwilligen Helfer zu bekommen.
"Die meisten Leute, die wirklich etwas erreicht haben, stammen von dieser Seite der Stadt. Sie sind einfach kreativer aufgrund der Umstände, aus denen sie stammen. Manchmal erstaunt es die Slumbewohner selbst, zu was einige Leute imstande sind. Die bekanntesten Musiker und Schauspieler Kenias stammen von dieser Seite der Stadt. Zu denen schauen wir auf, weil wir sie als Vorbilder sehen. Für uns stehen sie dafür, dass man etwas aus sich machen kann, auch wenn man hier auf dieser Seite groß wird."
Im improvisierten Büro hinter der Graffiti-Wand lehnen Teile einer Bühne und eine Filmleinwand zum Ausrollen. Michael Maina und die anderen Mitarbeiter organisieren seit Wochen bereits Bands und weitere freiwillige Helfer – jedes Jahr aufs Neue. Fußball gespielt wird mit Sicherheit auch zwischendrin. Denn Mathare will sich an diesem Tag wieder mal groß, bunt und laut zeigen – mit einer Stimme tief aus den Tälern Nairobis.