Künstler mit Kick
Nicht nur in Deutschland prägt der Fußball die Alltagskultur vieler Menschen. Mittlerweile erreicht der Sport auch die sogenannte Hochkultur: auf der Frankfurter Buchmesse, im Leipziger Theater oder in einer Hamburger Galerie und im Berliner Stadtmuseum.
Der Logenbereich im Volksparkstadion bietet viel Platz. Für gewöhnlich sind hier Fans und Mitarbeiter des Hamburger SV unterwegs. Doch an diesem Vormittag stehen 18 Grundschüler im Halbkreis vor einer Tafel. Darauf zu lesen sind drei Strophen. Die Schüler komponieren eine Hymne zum 130. Jubiläum des HSV. Mit dabei sind zwei Musiker und zwei Pädagoginnen der Symphoniker Hamburg, einem der wichtigsten Orchester Norddeutschlands. Immer wieder sorgen sie für Auflockerung.
Fußball, Musik, Schule. Möglich macht diese Dreiecksbeziehung das "Hamburger Weg Klassenzimmer". Dieses Netzwerk des HSV fördert das Lernen außerhalb der Schule, in Sprachen und Wirtschaft, in Geschichte und Medien. Eine prägende Mitarbeiterin dieses Projekts ist Judith Krischke. Sie hat ein Lehramtsstudium in Mathematik und Musik abgeschlossen. Sie liebt Fußball, sie spielt Kontrabass, und so kann sie im Stadion mit den Schülern ihre Leidenschaften verbinden.
"Also erstmal ist es zum Einstieg schön, zu sehen, es gibt Gemeinsamkeiten, die erstmal so fremd erscheinen. Dann ist es, glaube ich, ganz zentral, dass sie mitbekommen, dass es hier um ein Team geht in beiden Fällen. Und die Klasse ist das Team. Und wir haben hier das Fußballteam und da das Orchesterteam. Und dass dieser Teamgeist weitergegeben wird. Das denen das wirklich bewusst gemacht wird."
Während des fünfstündigen Workshops diskutieren Schüler und Musiker immer wieder über Parallelen zwischen Orchester und Fußballteam. Dort der Dirigent, hier der Trainer. Dort der Kapitän, hier der Konzertmeister. Moderiert wird der Austausch von der Geigerin Johanna Franz. Sie gestaltet bei den Hamburger Symphonikern die Musikvermittlung jenseits von traditionellen Konzertsälen, auch für Kinder. Zum Beispiel im Stadion.
"Was eben noch stimuliert wird, ist dieses kreative Arbeiten. Das ist ja im Schulsystem oft anders, außer, wenn man einen ganz tollen Kunstlehrer hat oder einen ganz tollen Musiklehrer, da wird ja viel vorgegeben. Es geht mehr um Reproduzieren von irgendwelchen Sachen. Aber wir lassen die Kinder ganz frei laufen. Und wir sagen: So, jede Idee, egal wie sie klingt, erstmal erzählen, wird alles aufgeschrieben, aufgenommen. Und wir versuchen halt, irgendwie alles da rein zu bringen. Das merke ich auch für die Schulen, wo wir viel sind, ist immer dieser ganz andere Zugang. Ist ja auch bei Kreativität, dass auch mal ein bisschen Chaos entsteht. Und dann aus Chaos entsteht dann wieder etwas Geordnetes. So arbeiten wir im Prinzip."
An diesem Tag sind Schüler im Alter von acht und neun Jahren aus Bargteheide zu Gast. Viele von ihnen lernen Instrumente, einige tragen Trikots des HSV. Ob Theater oder Wald, Museum oder Bäckerei – ihre Johannes-Gutenberg-Schule sucht immer wieder außerschulische Lernorte. Für das Projekt von HSV und Symphonikern hat sich die Klasse mit einem Plakat und einer Schulhymne beworben. Begleitet von Musiklehrer Arne Pfaffinger.
"Die Augen funkeln vor Begeisterung. Also wie die Kinder hier schon die Gänge durchgehen. Die sind also voll und ganz mittendrin und fühlen sich dabei. Aber ich habe sie auch eben hier beim Gespräch hochkonzentriert erlebt, wollten sich mit einbringen. Also das, was man sich immer wünscht. Wir versuchen, alle Kinder zu beteiligen. Auch in der Bewerbung jetzt zum Beispiel war ein ganz zentraler Punkt, dass jedes Kind etwas dazu beigetragen hat."
Nach dem Mittagessen und der Generalprobe stehen Schüler und Musiker im Stadion direkt am Spielfeld. Ein Kamerateam nimmt die Hymne auf, sie soll beim nächsten Heimspiel vor mehr als 50.000 Zuschauern gezeigt werden.
"Ich habe viel über Musik gelernt und über den Dirigenten, und über seinen Helfer."
"Als wir hier angekommen sind, haben wir erstmal geguckt, was Fußball und Orchester gemeinsam haben. Und Unterschiede."
"Ich fand das eigentlich ganz cool. Ich fand das auch cool, dass wir eine Hyme für den HSV gemacht haben. Und dass wir das Stadion auch noch mal kennengelernt haben."
"Und ich fand ein Instrument besonders toll, und das war die Geige. Ich war hier noch nie und das ist toll."
Fußball hat auch früher Künstler inspiriert
Der Fußball ist eine bedeutende Alltagskultur unserer Zeit. Seit Jahrzehnten regt er auch die Fantasie von Schriftstellern, Künstlern oder Regisseuren an. 1982 gestaltete der Maler Joan Miró das Plakat für WM-Gastgeber Spanien. 1990, am Vorabend des WM-Endspiels, gaben die Tenöre Pavarotti, Domingo und Carreras ein weltweit beachtetes Konzert in Rom. 2004 hielt Literaturnobelpreisträger Günter Grass eine Lesung im Stadion des FC St. Pauli. Hunderte weitere Beispiele ließen sich nennen, sagt der Literaturwissenschaftler Olliver Tietz.
"Wenn man jetzt zurückblickt, war 2006 die Weltmeisterschaft in Deutschland wirklich eine Art Initiation für unglaublich viele Themen im Bereich Soziales, Gesellschaftspolitik, eben auch Kultur. Wenn ich jetzt sehe, ,11mm’ ist damals entstanden, die Autoren-Nationalmannschaft hat sich damals gegründet und die Fußball-Akademie in Nürnberg hat sich gegründet."
Olliver Tietz hat als Geschäftsführer die DFB-Kulturstiftung aufgebaut. Seit ihrer Gründung 2007 hat sie fast 200 Projekte gefördert. Darunter waren Ausstellungen über verfolgte jüdische Spieler, Theaterstücke, Lesungen oder das Berliner Filmfestival "11mm". Mit dem Kuratorium der Kulturstiftung wirkt der DFB in Gesellschaft und Kultur hinein, zu ihren Mitgliedern zählen die Kulturstaatsministerin oder der Präsident des Goethe-Instituts. In den vergangenen vier, fünf Jahren hat sich das Themenspektrum noch weiter aufgefächert. Die Konzepte werden konkreter und langfristiger organisiert.
"Fast alles, was wir machen, hat immer einen gewissen Experimentalcharakter, weil es keine Vorbilder hat. Wir machen natürlich jetzt auch quasi die Autorenländerspiele anders, als wir sie früher gemacht haben. Als wir das erste Autorenländerspiel gemacht haben, da haben wir das Spiel gemacht, und dann an einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit dann die Lesung im Deutschen Theater in einem relativ starren Ambiente mit Frank-Walter Steinmeier als Ehrengast. So würden wir ein Autorenspiel mit Lesung nicht mehr aufziehen. Sondern das ganze muss einfach viel bodenständiger veranstaltet werden. Oder dass man eben Spiel und Lesung viel enger miteinander verzahnt."
Die Kulturprojekte stärken sie das Image einer Branche, die viel Vertrauen verspielt hat, durch Korruption, astronomische Spielergehälter oder Fangewalt. Die DFB-Kulturstiftung ist als Förderin jedes Jahr bei der Frankfurter Buchmesse dabei. An den Wochenenden, den Publikumstagen der Messe, ist der Andrang besonders groß, auch in Messehalle 3.1. Dort am Kopfende befindet sich das "Kulturstadion". Auf einer kleinen Bühne vor einer orangefarbenen Wand diskutieren Schriftsteller und Profikicker, Wissenschaftler und Trainer, Verleger und Journalisten. Im Mittelpunkt: die verzweigte Welt des Fußballs.
"Das dickere Brett war hier in der Buchmesse. Da hat es sehr lange gedauert, bis die überhaupt die Dimension erkannt haben, was Fußball für eine Rolle spielt. Und dass es eben nicht nur ein Sport ist, den mehr oder weniger verrückte Fans angucken, sondern das es ein Sport ist, der mittlerweile in der Gesellschaft angekommen ist."
Die Sozialwissenschaftlerin Karin Plötz gründete 2007 die LitCam, eine gemeinnützige Tochtergesellschaft der Buchmesse, für die Förderung von Grundwissen und Medienkompetenz von benachteiligten Kindern. Plötz ging auch auf Fußballvereine zu. Ihre Kollegen im Frankfurter "Haus des Buches" ließen sie gewähren, Sport war im literarischen Umfeld verpönt, an einen Erfolg glaubten wenige. Doch Karin Plötz hatte die richtige Orientierung.
"Und das wurde initiiert dadurch, dass ich einen Freund hatte, der in England Fußballlehrer war und gleichzeitig Lehrer für Physik und Mathematik. Und der mir dann erzählte: Meine Jungs sind zwar aus dem Brennpunkt, 15-Jährige, aber Mathe und Physik klappt ganz gut mit denen, weil sie wissen, wenn sie nicht aufpassen, werden sie nicht aufgestellt beim Training. Und da habe ich gedacht, diese Verbindung ist eigentlich ideal. Und habe ,Fußball trifft Kultur’ gegründet."
Fußball, Poetry-Slam und Grafikwerkstatt
Mindestens ein Schuljahr lang erhalten 24 Kinder im Umfeld eines Fußballklubs zweimal wöchentlich Fußballtraining, kombiniert mit Förderunterricht. Karin Plötz treibt mit bescheidenen Mitteln eine Aufgabe voran, die die reichen Vereine oft nicht angehen. Sie ermuntert Kinder, die nur an Fußball denken, ihren Sport auch mal gegen Kultur zu tauschen. An mehr als zwanzig Standorten begleiten Projektmitarbeiter die Kinder in Museen, zu Poetry-Slams oder in die Grafikwerkstatt. Und sie regen zum kritischen Denken an, gerade mit Blick auf die Fußballindustrie, die sich abhängig macht von Wettanbietern, Bierbrauerein oder Imbissketten. In den ersten Jahren ist Plötz oft auf Widerstände gestoßen, bei Klubs und Kulturpartnern. Doch mittlerweile kann sie in die Offensive gehen, zum Beispiel mit dem "Lesekicker", einem Jugendbuchpreis.
"Weil Fußball ist als Motivation für die Kinder sowieso das Größte. Und wenn wir Kinder haben, so Lesemuffel, die kriegen etwas über Ronaldo zu lesen, dann lesen die auch mal eine ganze Seite zu Ronaldo, oder auch mal ein Buch, weil sie einfach das Thema interessiert. Und da haben wir gesagt: wir müssen da mal einen Preis ausloben für das beste Kinder-Fußballbuch. Weil wir auch ein bisschen sehen: das ist noch Luft drin. Also die können noch ein bisschen besser werden, die Fußballbücher.
Ortswechsel. Das Millerntor-Stadion, die Heimat des FC St. Pauli, Ende Juni. Hunderte Gäste schieben sich durch die Katakomben, wenige zieht es hinaus auf die Tribünen. Sie bleiben vor hohen Wänden stehen, verziert mit Malereien und Graffitis. Bestaunen Fotografien und Skulpturen, Videos und Installationen. Drei Bühnen sind im Stadion aufgebaut. Bands spielen, DJs legen auf, Autoren stellen Bücher vor. Auf einer Fläche von 4000 Quadratmetern findet die siebte 'Millerntor Gallery' statt, sie ist eines der größten Kulturfestivals Hamburgs, berichtet Michael Fritz, einer ihrer Gründer.
Die Millerntor Gallery ist ein Gesamtkunstwerk. Man muss sich 500 verrückte, ehrenamtliche Menschen vorstellen, die sich engagieren, ihre Zeit spenden, und die sich hier auch entwickeln können. Dazu packt man noch 170 Künstler aus 21 Nationen, aus Uganda, aus Nepal aus Kenia, die alle mit ihrer Kunst aufmerksam machen auf das Thema Youtopic oder auch sauberes Trinkwasser oder menschenwürdige Sanitärversorgung."
Michael Fritz ist einer der prägenden Köpfe von "Viva con Agua". Der 2006 gegründete gemeinnützige Verein setzt sich für sauberes Trinkwasser und eine menschenwürdige Versorgung ein. Durch sein Netzwerk von 10.000 Unterstützern wurden die Lebensbedingen von einer halber Million Menschen verbessert. "Viva con Agua" wollte von Beginn an Spenden sammeln, soziales Engagement fördern und vor allem: auf die globale Ungleichheit aufmerksam machen.
"Und daraus hat sich dann eine Kunstausstellung ergeben, die sehr unprofessionell organisiert war, weil wir nicht mal Galerie-Schilder hatten und wussten, dass das für so einen Kunstverkauf förderlich ist, wenn man dann den Preis hinschreibt. Und wer der Künstler ist und vielleicht noch das Material und das Format und so."
Die "Millerntor Gallery" ist professioneller geworden. Während des viertägigen Festivals begleitet Michael Fritz Besuchergruppen durch die Katakomben. In Führungen und Workshops machen sich Schulklassen mit der Kunst vertraut. Über das ganze Jahr ist das Team mit der Organisation beschäftigt. Der Aufbau dauert nach dem Ende der Fußballsaison einen ganzen Monat, der Abbau auch. Der FC St. Pauli stellt sein Stadion kostenfrei zur Verfügung. Die linksalternative Fangemeinde wirbt seit Jahrzehnten für eine gesellschaftliche Vielfalt. Der Verein möchte Menschen für Debatten zusammenbringen, sagt dessen Präsident Oke Göttlich. Gerade im Jahr der Ausschreitungen während des G20-Gipfels sei das besonders wichtig gewesen.
"Zum Beispiel etwas Gewachsenes wie hier die Millerntor Gallery, das ist etwas, das hat sich niemand ausgedacht. Sondern das hat sich dann einzeln, zwei Leute, saßen da, haben gesagt: komm’, wir hängen mal Bilder von alten Fußballern des FC St. Pauli, dem alten Stamm, hin. Und daraus wurde eine Millerntor Gallery, die mit Fußballpublikum sehr wenig zu tun hat. Ist aber ein offenes Thema, und eben gerade in Zeiten von G20 interessant: wir machen Hamburg nicht zur Festung, sondern wir öffnen unser Stadion für zwanzig Internationale und 200 Künstler insgesamt. Das ist total spannend, weil es zu uns passt. Ist aber keine Kundenbindungsmaßnahme. Aber natürlich werfen uns Kritiker vor: das ist alles kommerzieller Marketingkram. War es nie und ist einfach aus uns gewachsen."
16.000 Menschen haben die Millerntor Gallery besucht. Siebzig Prozent der Erlöse fließen in Wasser- und Bildungsprojekte, der Rest bleibt bei den Künstlern, viele stehen am Anfang ihrer Laufbahn. Michael Fritz glaubt, dass sich durch das Kulturfestival im Stadion unterschiedliche Milieus vermischen, Alt und Jung, Bürgerlich und Alternativ. Dort könnten sich die klassischen Museen und Galerien etwas abschauen. Zum Beispiel bei der Herausforderung, ihr Stammpublikum zu verjüngen.
"Bisher läuft es dann immer so: Ja, da ist nur Graffiti oder Streetart und so weiter. Wird noch nicht so ernst genommen, auch auf dieser kuratorischen, intellektuellen Ebene, sondern das ist dann halt: ja, das ist ein bisschen sozial. Das ist für viele Leute nicht so richtig greifbar, weil du kannst halt nicht ein Label drüber packen. Also wir propagieren ja den Zugang zu sauberem Trinkwasser für alle Menschen. Genauso sollte aber auch Kunst einen Zugang für alle Menschen haben. Und es gibt halt doch auch öfter, dass Kunst einen sehr elitären Touch hat. Und nur eine sehr elitäre, intellektuelle Welt anspricht. Und das versuchen wir auch hier: Dass wirklich sich auch jeder mit Kunst auseinander setzen darf. Deswegen gibt es eine kleine Hürde Eintritt. Oder eben auch Kunst, die erschwinglich ist für jeden Menschen. Es gibt hier Werke ab fünf Euro oder zehn Euro."
Fußball-Akademie fördert die Kulturarbeit
Ein Besuch in Nürnberg. Im Rahmen einer jährlichen Gala verleiht die Deutsche Akademie für Fußball-Kultur ihre bundesweit ausgeschriebenen Preise, für das beste Fußballbuch oder in einer wechselnden Sonderkategorie für Comic oder Hörspiel, für Computerspiel oder Fangesang. Den größten Aufwand betreibt die Akademie mit dem "Lernanstoß", einem Bildungspreis mit Fußballbezug. Geschäftsführerin der Akademie ist die Kulturwissenschaftlerin Birgitt Glöckl.
"Also am einfachsten ist zu erklären, wenn jemand fragt: Fußballkultur, was soll denn der Quatsch, was macht Ihr eigentlich? Wir machen Kulturveranstaltungen, wie man sie sich klassisch vorstellt. Lesungen, Filmreihen, Podiumsdiskussionen, eben auch eine Preisverleihung, die immer das Thema Fußball haben. Das ist so die eine Richtung. Und die andere ist, dass wir Menschen, Einrichtungen, Initiativen vernetzen, die aus dem Fußball kommen und ein bisschen über den Tellerrand gucken."
Die Fußball-Akademie wurde 2004 gegründet, mit Blick auf die WM in Deutschland zwei Jahre später. Was den Anschein einer Behörde trägt, ist eine Stabsstelle des Kulturamts Nürnberg. In den ersten Jahren mussten sich die Mitarbeiter gegenüber anderen Beamten rechtfertigen. Könne man Fußball ebenso als Kultur betrachten wie Theater, Oper oder Museen?
"Hier in Nürnberg gibt es ja auch eine Besonderheit, seit den Siebziger Jahren, diese Kultur-für-Alle-Bewegung, also Soziokultur, die sich eher auch im Stadtteil abspielen kann und nicht nur in den großen Veranstaltungshäusern. Das ist auch etwas, das wir mit unserer Arbeit aufgreifen. Also Veranstaltungen nicht nur im Hocheintrittspreis-Segment für eine bestimmte Schicht zu machen, sondern auch zu gucken, dass wir Angebote für alle Bürgerinnen und Bürger der Stadt machen. Wir sind auch ein bisschen ein Ausreißer in diesen Kulturveranstaltungen, die sind ja oftmals von Frauen besucht. Bei uns sind dann eher die Männer, auch mal so ältere Herren, die dann mal in so eine Kultureinrichtung kommen und sich einen Abend da hinsetzen und sich ein Gespräch anhören. Das finde ich auch ganz interessant. Wenn man sagt, wir haben einen Bildungsauftrag, dann kriegen wir damit eine Zielgruppe, die sonst relativ wenig in solche Einrichtungen geht."
Die Internetseite der Fußball-Akademie hält ein Archiv an Literaturtipps, Bildungskonzepten und Veranstaltungstipps parat. Zu ihren rund 150 Mitgliedern zählen Theaterwissenschaftler und Kunsthistoriker, Menschenrechtsexperten und Verleger. Sie bilden ein kritisches Gegengewicht zum kommerziellen Mehrheitsgeschmack des Fußballs. Es ist erstaunlich, was die Akademie mit ihrem unteren sechsstelligen Jahresetat bewirkt. So dass man sich fragt, warum nicht jeder Bundesligist ein solches Kulturangebot finanzieren kann.
Theaterstück über einen jüdischen Nationalspieler
Das Theater der Jungen Welt in Leipzig ist ausverkauft. Schulklassen und Vereinsmitglieder, Jugendgruppen und Eltern mit ihren Kindern: Ein junges Publikum verfolgt auf der Bühne den Leidensweg von Julius Hirsch, genannt "Juller". Der einst gefeierte jüdische Nationalspieler verließ 1933 freiwillig den Karlsruher FV, so kam er dem Rauswurf der Nazis zuvor. Später wurde er in Auschwitz ermordet.
Der Autor Jörg Menke-Peitzmeyer und der Regisseur Jürgen Zielinski möchten mit ihrem neunzigminütigen Stück deutlich machen, wie der Antisemitismus im Dritten Reich die ganze Gesellschaft erfasste. Und sie stellen Bezüge zur Gegenwart her.
Jürgen Zielinski, Intendant des Theaters der Jungen Welt:"Erkenntnis, glaube ich, reift immer dann am besten, wenn man auch emotional etwas verarbeitet. Und das ist, denke ich, der große Vorteil von Theater. Vor allem wollen wir nicht belehrend sein. Theater darf nicht die Fortsetzung des Lehrplans mit anderen Mitteln sein. Also wir müssen unser professionelles Theaterhandwerk einsetzen und auch Fragen stellen, wie in einer Zeit der Sprachverkürzung Theater überhaupt noch einen Reiz hat."
Jürgen Zielinski, Intendant des Theaters der Jungen Welt:"Erkenntnis, glaube ich, reift immer dann am besten, wenn man auch emotional etwas verarbeitet. Und das ist, denke ich, der große Vorteil von Theater. Vor allem wollen wir nicht belehrend sein. Theater darf nicht die Fortsetzung des Lehrplans mit anderen Mitteln sein. Also wir müssen unser professionelles Theaterhandwerk einsetzen und auch Fragen stellen, wie in einer Zeit der Sprachverkürzung Theater überhaupt noch einen Reiz hat."
Das Stück "Juller" wird immer wieder auf Reisen gehen. Auftakt der Gastspielreihe war vor kurzem das Fußballmuseum in Dortmund. Weitere Stationen: unter anderem Karlsruhe, Berlin und Dresden. Zudem gibt das Theater ein Begleitbuch heraus. Und eine Aktions-Sporttasche: darin finden sich Hefte, Fotos und Spielideen, mit denen Lehrer oder Trainer einen Workshop gestalten können. Entwickelt wurde die Tasche von der Berliner Theaterpädagogin Bettina Frank.
"Es gibt zum Beispiel eine Übung, da geht es um Kevin-Prince Boateng, der einmal das Spielfeld verlassen hat nach rassistischen Anfeindungen. Dann gibt es eine Spielübung dazu, wo man versucht zu erfassen, was die Gedankengänge der verschiedenen Akteure sind. Dann ist ein Vorschlag aus der Tasche: Lest doch mal, wie Julius Hirsch zum Beispiel reagiert hat auf die Mitteilung im Radio, jüdische Sportler werden ausgeschlossen aus den Vereinen. Ich schreibe auch immer wieder in der Tasche: man kann das nicht vergleichen, das sind unterschiedliche Zeitkontexte. Aber man kann mal dieses Gedankenspiel wagen und sagen: aha, wie gehen Menschen mit solchen Situationen um."
Fussball drängt in die Hochkultur vor
Bei der Bundestagswahl in Sachsen hat die AfD die meisten Stimmen erhalten. In Politik und Bildung sucht man seit langem nach Strategien, um Jugendliche an politischen Prozessen zu beteiligen. Für eine offene Gesellschaft. So entstehen nun Allianzen, die unterschiedliche Milieus ansprechen sollen. Das Theater der Jungen Welt lud zu einem Debattenabend, gemeinsam mit den Rasenballisten, einem kritischen Fannetzwerk von RB Leipzig. Zu den Organisatoren zählte auch der politisch interessierte RB-Anhänger Niko, seinen vollständigen Namen möchte er nicht nennen. Aus Sorge vor hitzigen Gegenreaktionen.
"Antisemitismus ist ein greifbares Thema für viele Personen. Wenn man aber Antiziganismus hört, ist es, glaube ich, abstrakter für viele Menschen, darunter klar was zu verorten. Und wenn man dann Leute im Stadion damit konfrontiert, nachdem sie irgendwie ,XYZ, du Zigeuner’ gesungen haben, ist es schwierig, für viele im Stadion, zu verstehen, warum das eben nicht in Ordnung ist."
Der Fußball dringt immer mehr in die so genannte Hochkultur vor, in Literatur und klassische Musik, in Galerien und Theater. Der Leipziger Intendant Jürgen Zielinski hatte schon 2011 ein Stück über Depressionen im Fußball entwickelt. In Göttingen beschäftigte sich das Theater vor Ort mit Homophobie, in Osnabrück mit Leistungsdruck, in Hannover mit Hooligans. Eine wichtige Förderin solcher Projekte ist die 2007 gegründete DFB-Kulturstiftung. Deren Geschäftsführer Olliver Tietz sagt, dass auch kleine Vereine jenseits der Theaterbühnen aktiv werden können.
"Und da kann ich immer nur empfehlen, sich zu vernetzen: Es gibt in jeder mittelgroßen Kommune Kulturämter, es gibt entsprechende Kulturvereine, Institutionen, die alle tolle Ideen haben, ein Theater, einen Musikverein und so weiter. Wenn man da ein bisschen offen ist und mit seinem Verein in der Nachbarschaft spricht oder mit seinem Kulturamt spricht, dann findet man sicher gute Lösungen."
Die Geschichte des Fußballs auf deutschem Boden reicht bis ins 19. Jahrhundert zurück. Der Begriff der Fußballkultur wurde dabei stets unterschiedlich interpretiert. So bunt, sehenswert und vielschichtig wie heute war sie noch nie. Sollte die EM 2024 nach Deutschland kommen, könnte das erst der Anfang sein.