Die Wüsten-WM als Eintrittskarte
24:20 Minuten
Fußball ist so viel mehr als nur ein Sport. Für Staaten am Golf ist er ein Mittel, für das eigene Land und speziell die Wirtschaft zu werben. Wenn Katar 2022 die Weltmeisterschaft austrägt, ist das auch eine Absicherung gegen Saudi-Arabien.
Januar 2019, die Fußball-Asienmeisterschaft findet in den Vereinigten Arabischen Emiraten statt, in einer der wohlhabenden Öl-Monarchien am Persischen Golf. Das Nationalteam des kleinen Nachbarn Katar muss auf der kurzen Anreise in Kuwait zwischenlanden. Fans aus Katar dürfen nicht einreisen. Auch ohne sie stürmt ihre Nationalmannschaft ins Halbfinale und trifft dort auf den Gastgeber, die Emirate. In der Hauptstadt Abu Dhabi verteilt die Sportbehörde Tickets nur an heimische Fans. Meldungen kursieren, wonach eine Unterstützung für Katar bestraft werden könne.
Doch der Gastgeber der WM 2022 gewinnt 4:0. Zuschauer werfen Schuhe auf den Rasen. In der arabischen Welt: ein Zeichen tiefer Abneigung. Drei Tage später gewinnt Katar das Finale gegen Japan und ist erstmals Asienmeister. Funktionäre der Emirate bleiben der Siegerehrung fern. Jassim Matar Kunji hat in der katarischen Liga gespielt, inzwischen ist er Journalist beim Fernsehsender Al Jazeera:
"Die Asienmeisterschaft 2019 verdeutlichte die Spannungen am Golf. Ähnlich sieht es in den Vereinswettbewerben aus: Einige Sponsorenverträge wurden gekündigt und Spielertransfers abgesagt. Wenn Teams aus Katar in den Vereinigten Arabischen Emiraten spielten, wurden sie von der Polizei begleitet."
Katar pflegt Kontakte in den Westen als Selbstschutz
Seit 2017 spitzt sich ein alter Konflikt am Persischen Golf zu. Damals verhängt die Regionalmacht Saudi-Arabien eine wirtschaftliche Blockade über Katar. Die Vereinigten Arabischen Emirate, Bahrain und Ägypten schließen sich an und setzen ihre diplomatischen Beziehungen mit Doha ebenfalls aus. Ihr Vorwurf: Katar würde Terrorgruppen unterstützen und pflege eine zu große Nähe zum Iran.
Saudi-Arabien stellt Lebensmittelimporte nach Katar ein. Durch die Unterbrechung von Reisewegen werden Familien voneinander getrennt. Die staatliche Fluglinie Qatar Airways darf den saudischen Luftraum nicht mehr nutzen. Viele Katarer halten einen Krieg für möglich und platzieren Milliarden Dollar auf ausländischen Konten. Das Wirtschaftswachstum Katars erhält eine Delle. Der Reporter Jassim Matar Kunji.
"Das war der Moment, auf den sich Katar mehr als zwei Jahrzehnte vorbereitet hat. Viele Menschen befürchteten eine Invasion von Saudi-Arabien. Sie erinnerten sich an 1990, als der übermächtige Irak in das kleine Kuwait einmarschiert war. So etwas wollte Katar verhindern. Die Regierung knüpfte frühzeitig Kontakte in den Westen und stieß Projekte an. Die Austragung der Fußball-WM 2022 ist ein Teil dieser Strategie."
Saudi-Arabiens Armee besteht aus rund 200.000 Soldaten. Im Gegensatz dazu verfügt Katar gerade mal über 12.000. Die Fläche Saudi-Arabiens ist etwa 200 Mal so groß wie die des Nachbarn. Daher verfolgt Katar seit Jahrzehnten eine aufwändige Strategie der Soft Power, mit milliardenschweren Investitionen in Kultur, Wissenschaft und Fußball. Mit Großveranstaltungen, Vereinsbeteiligungen oder Sponsoren-Partnerschaften bei Paris Saint-Germain oder beim FC Bayern München. Der deutsche Politikwissenschaftler Danyel Reiche beobachtet den Sport im Nahen Osten seit Jahren.
"Im Fall von Paris Saint-Germain war der Neymar-Transfer interessant, der wenige Wochen nach Beginn der Blockade durch Saudi-Arabien verkündet wurde. Das war eine strategische Meisterleistung von Katar. Ökonomisch war der Transfer vielleicht Unsinn, weil viel zu teuer. Aber damit hat man das ganze Narrativ in der internationalen Presse verändert. Man hat nicht mehr über das ,arme Katar' gesprochen, das einer Blockade ausgesetzt ist, sondern fast nur noch über den Kauf von Neymar."
Viel kritisiert: Katars Investitionen in europäische Clubs
Um den sportlichen und politischen Aufstieg Katars besser zu verstehen, lohnt ein Blick in die Entwicklung des Landes und seiner Nachbarn.
Noch vor gut 50 Jahren liegen die arabischen Machtzentren in Kairo, Damaskus oder Bagdad. Die kleinen Scheichtümer auf der Arabischen Halbinsel wie Kuwait, Bahrain oder die Emirate spielen keine Rolle. Katar hat 1970 rund 100.000 Einwohner. Danyel Reiche:
"Katar ist noch ein sehr junges Land, das erst seit Anfang der 70er Jahre unabhängig ist. Es war vorher ein britisches Protektorat. Und Katar hat 1984 in Los Angeles das erste Mal an Olympischen Sommerspielen teilgenommen, übrigens sich auch qualifiziert für den Fußballwettbewerb. Und dann ab den 90er Jahren hat Katar sehr aggressiv daran gewirkt, so viele Sportgroßveranstaltungen wie möglich auszurichten."
Katar leitet eine Modernisierung ein, lange unter dem militärischen Schutz Saudi-Arabiens. Doch bald will sich Katar aus der Umklammerung lösen und öffnet sich für Investoren. In Doha entstehen Zweigstellen westlicher Universitäten. Zudem das Museum für Islamische Kunst, das Philharmonische Orchester, ein Filmfestival. Die konservative Monarchie Saudi-Arabiens blickt mit Skepsis auf die Reformen.
"Ich glaube, den Nachbarstaaten ist vor allem der katarische Fernsehsender Al Jazeera ein Dorn im Auge, der sehr kritisch über vieles berichtet. Mit einer Ausnahme: Es gibt keine Kritik an der Innenpolitik Katars."
2010 erhält Katar die Fußball-WM 2022, bis heute von Korruptionsvorwürfen überschattet. Kurz danach erwirbt Katar die Mehrheit von Paris Saint-Germain. Und steigt als Sponsor beim FC Barcelona ein. Immer mehr Spitzenklubs verbringen Trainingslager in Doha, unter anderem der FC Bayern.
2010 erhält Katar die Fußball-WM 2022, bis heute von Korruptionsvorwürfen überschattet. Kurz danach erwirbt Katar die Mehrheit von Paris Saint-Germain. Und steigt als Sponsor beim FC Barcelona ein. Immer mehr Spitzenklubs verbringen Trainingslager in Doha, unter anderem der FC Bayern.
Weit mehr als eine Milliarde Euro investiert Katar bis heute in den europäischen Fußball. Die Kritik daran ist groß, zumindest in Deutschland, England oder Frankreich, aber in der arabischen Welt wächst der katarische Einfluss. Das ärgert den einst übermächtigen Nachbarn Saudi-Arabien, berichtet der britische Experte für Sportökonomie Simon Chadwick.
"Eine Agentur wollte nachweisen, wie ungeeignet Katar für die Austragung der WM sei. Doch dann stellte sich heraus, dass die Kampagne von Saudi-Arabien finanziert wurde. Katar lehnte eine Erweiterung der WM 2022 von 32 auf 48 Teams strikt ab, ein Zeichen gegen mögliche Co-Gastgeber wie die Vereinigten Arabischen Emirate und Saudi-Arabien."
Katar konkurriert um Investoren, Touristen und Fachkräfte vor allem mit Abu Dhabi und Dubai, den beiden einflussreichsten Städten der Vereinigten Arabischen Emirate. Das größere Dubai setzt auf Einkaufszentren, Familienunterhaltung und Großereignisse wie die Expo 2021. Der Flughafen in Dubai ist ein führendes Drehkreuz. Auch dank Fußball. Die staatliche Fluglinie Emirates mit Sitz in Dubai ist seit Beginn des neuen Jahrtausends als Sponsor in großen europäischen Ligen aktiv, beim FC Arsenal, AC Mailand, Real Madrid oder dem Hamburger SV.
Sport als Werbestrategie für eigene Wirtschaftszweige
Das kleinere Abu Dhabi legt 2008 nach und kauft sich bei Manchester City ein. Es folgen Handelsabschlüsse zwischen den Emiraten und Großbritannien. Als Trikotsponsor von Manchester City wirkt die staatliche Fluglinie Etihad, Konkurrenz von Emirates und Qatar Airways. Die zuständige "City Football Group" spannt ein globales Netzwerk und erwirbt Vereinsanteile in New York, Melbourne oder Yokohama, auch im spanischen Girona und in Chengdu, im Südwesten Chinas. Simon Chadwick:
"Etihad möchte Chengdu als ein Drehkreuz für Ostasien entwickeln. Rund um diese Ankündigung schlossen Abu Dhabi und China weitere Handelsverträge. Und Katar? Das Finale der WM 2022 soll im Lusail Iconic Stadium stattfinden. Dieses Stadion wird von chinesischen Firmen gebaut. Wir sehen in der Fußballindustrie eine massive Machtverschiebung nach Osten. Für die chinesische Geopolitik sind die Golfstaaten eine wichtige Region."
Die Staaten am Persischen Golf wollen sich als Zentren des Fußballs etablieren. Obwohl sie im Gegensatz zu anderen Ländern der arabischen Welt auf keine große Tradition zurückblicken können.
In Ägypten, Marokko oder Tunesien wird Fußball bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts gespielt. Erst mit Verzögerung auch in Katar, berichtet der Sportwissenschaftler Mahfoud Amara von der Qatar Universität:
"Etwa Mitte des 20. Jahrhunderts, nach der Entdeckung von Öl und Gas, ging es richtig los. Ausländische Arbeiter brachten den Fußball mit. Es gab aber auch Einheimische, die in Ägypten oder Jordanien studierten und dort den Fußball schätzen gelernt haben."
Abhängigkeit von Öl und Gas
Von sportlichem Erfolg kann zunächst keine Rede sein. In den vergangenen Jahren dann ein Generationenwechsel unter den Herrschern. In Katar übernimmt 2013 Tamim bin Hamad Al Thani die Macht von seinem Vater. In den Vereinigten Arabischen Emiraten positioniert sich Mohammed Ben Zayed als neuer starker Mann. Und in Saudi-Arabien tritt Mohammed bin Salman aus dem Schatten des Königs hervor. Mahfoud Amara:
"Die Staaten am Golf wollen neue Wirtschaftszweige entwickeln. Denn ihre traditionellen Einnahmequellen Öl und Gas sind endlich. Der Sport dient als Strategie, um auch andere Sektoren bekannter zu machen: Tourismus, Handel, Transportwesen oder Dienstleistungen."
Der Staatshaushalt Saudi-Arabiens ist zu mehr als 80 Prozent von Öleinnahmen abhängig. Das Königshaus in Riad steigt 2016 spät in den sportlichen Wettstreit ein. Mit kleineren Veranstaltungen: im Wrestling, Schach, in der Rennsportserie Formel E. Dann mit größeren: im Handball mit der Klub-WM, im Tennis und im Schwergewichtsboxen. 2018 findet in Riad der Fußball-Gipfel zwischen Brasilien und Argentinien statt.
"Sport ist ein wichtiges Instrument für Nationbranding. Saudi-Arabien will auch vom Markt profitieren und wichtige Fußball-Veranstaltungen austragen, zum Beispiel den italienischen und spanischen Supercup. Das soll Aufmerksamkeit für die Öffnung des Landes schaffen, für den Tourismus und Investitionen. Saudi-Arabien will das Image der konservativen, verschlossenen Gesellschaft loswerden."
Vor bald 280 Jahren hatte sich Saudi-Arabien dem Wahhabismus verschrieben, einer ultrakonservativen Auslegung des sunnitischen Islam. Dass nun einige Konzerte, Theater und Kinos geöffnet sind, war lange undenkbar. Angeblich sollen mehr als zwei Milliarden Dollar in Sport und Kultur fließen. Auch in den Fußball, doch die Übernahmen von europäischen Spitzenklubs sind mehrfach gescheitert, vor kurzem von Newcastle United.
Saudi-Arabien steht weiter wegen Repressionen in der Kritik
Die Reformen des saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman werden international beachtet. Frauen dürfen nun Auto fahren, Stadien besuchen oder zur Gesundheitsförderung ins Fitnessstudio. Es ist aber immer noch ein weiter Weg bis zur Gleichberechtigung, denn etliche Frauenrechtlerinnen sitzen weiter im Gefängnis.
Auch sonst steht Saudi-Arabien in der Kritik, zum Beispiel für regelmäßige Hinrichtungen. 2017 lässt Mohammed bin Salman dutzende Intellektuelle und Religionsgelehrte verhaften. Auch Exilanten sind in Gefahr, wie der Mord am Journalisten Jamal Khashoggi 2018 im Konsulat von Istanbul zeigt. Der Nahost-Experte Guido Steinberg von der Stiftung Wissenschaft und Politik schreibt in einem Essay:
"Soziale und wirtschaftliche Reformen stehen im Vordergrund, während politische Freiheiten stärker eingeschränkt werden, als dies früher der Fall war. Mit den Festnahmen stellen der Kronprinz und sein Vater unmissverständlich klar, dass es Akteuren der Zivilgesellschaft nicht gestattet ist, Erfolge für sich zu reklamieren."
Der Konflikt zwischen Saudi-Arabien und Katar hat viele Gründe. Katar unterstützt nach dem politischen Umsturz in Ägypten die Muslimbruderschaft, einen erklärten Feind Saudi-Arabiens. Katar will die saudische Militäroffensive in Jemen nicht unterstützen. Also geht Saudi-Arabien in die Offensive, fordert von Katar die Schließung wichtiger Organisationen, unter anderem des Senders Al Jazeera. Etliche Geschäfte in Saudi-Arabien überkleben die Sponsorenschriftzüge von Qatar Airways auf den Trikots des FC Barcelona.
"BeIN Sports" vs. "BeoutQ" – mehr als ein Streit um Fernsehsender
Wie weit die Feindseligkeit reicht, zeigt "BeIN Sports". Der katarische Sportsender war 2003 als Ableger von Al Jazeera gegründet worden und ist seit 2012 eigenständig. "BeIN Sports" erreicht allein in der arabischen Welt mehr als 400 Millionen Menschen. Diese Dominanz gefällt nicht jedem. Seit Beginn der Blockade 2017 darf "BeIN Sports" in Saudi-Arabien keine Abos mehr verkaufen. Kurz darauf geht ein neuer Sender an den Start. "BeoutQ". Mit den gleichen Inhalten wie "BeIN Sports", sagt der britische Journalist Jonathan Whitehead, eine der Führungskräfte von "BeIN Sports":
"Das ist eine neue Dimension der Piraterie. Wir investieren viel Arbeit in unsere Produktionen, in Analysen, Grafiken und Kommentare. Wenn dann jemand das Endprodukt stiehlt, trifft uns das sehr. Dieser industrielle Diebstahl wurde von ganz oben angeordnet."
"BeoutQ" verteilt das Fernsehmaterial aus Katar auf zehn eigene Kanäle. Recherchen deuten daraufhin, dass Organisation und Technik des Piratensenders aus Saudi-Arabien stammen. In den Regionen, wo "BeoutQ" zu empfangen ist, gehen die Abozahlen von "BeIN Sports" zurück. Schon nach sechs Monaten beläuft sich der Verlust für Katar auf eine Milliarde Dollar. "BeIN Sports" muss 300 Mitarbeiter entlassen. Jonathan Whitehead:
"Der Verkauf von TV-Rechten ist für viele Verbände und Vereine die wichtigste Einnahmequelle. Aber wenn unser Endprodukt gestohlen wird, verlieren die TV-Rechte ihren Wert. Wir müssen diese Rechte schützen."
2017 will Katar den Golf-Cup ausrichten. Doch das regionale Turnier wird nach Kuwait verlegt, auf Druck von Saudi-Arabien. Im November 2019 ist der Golf-Cup tatsächlich in Katar zu Gast, geplant mit fünf statt acht Teams, denn Saudi-Arabien, die Emirate und Bahrain planen einen Boykott. Zwei Wochen vor dem Turnier kündigen die Blockadestaaten überraschend ihre Teilnahme an. Die Nationalmannschaft Saudi-Arabiens reist mit der heimischen Fluglinie ohne Umweg nach Katar, obwohl der direkte Flugverkehr ausgesetzt ist. Busse mit saudischen Staatsbürgern überqueren erstmals nach zwei Jahren die Grenze zu Katar, berichtet der Politikwissenschaftler Mehran Kamrava von der Georgetown Universität in Doha.
"Bei den Saudis hat sich die Einsicht breit gemacht, dass Katar wegen der Blockade nicht in die Knie geht. Es hatte bereits einige Monate Gespräche auf diplomatischer Ebene zwischen Katar und Saudi-Arabien gegeben. Der Golf-Cup bot eine weitere Chance. Fußball schafft einen größeren Kontext, in dem Politiker sich leichter annähern können. Eine Art Fußball-Diplomatie."
Nach den ersten Monaten des Schocks stellt sich Katar auf die Blockade ein. Die Regierung leitet dutzende Milliarden aus Staatsfonds in heimische Banken um. Lebensmittelimporte kommen nun nicht mehr aus den Nachbarländern, sondern vermehrt aus der Türkei und dem Iran. Neue Häfen, Gewächshäuser und Entsalzungsanlagen für Meerwasser werden geplant. Mehran Kamrava:
"Die Katarer konzentrierten sich stärker auf die eigene Landwirtschaft und die eigene Industrie. Heute glauben die Menschen hier, dass Katar mächtiger ist als vor der Blockade."
Katarer sind erstaunt über ausländische Kritik
Von den zweieinhalb Millionen Einwohnern haben nur zehn Prozent einen katarischen Pass. In keinem anderen Land ist der Anteil an Einwanderern so hoch. In Bildung, Gesundheitsversorge und Jobvergabe genießen Staatsbürger Privilegien. Ihr Prokopfeinkommen liegt bei fast 100.000 Dollar und ist eines der höchsten weltweit. Die rasende Entwicklung von Doha verdanken sie allerdings hunderttausenden Arbeitsmigranten.
Vor allem Medien aus Deutschland und Großbritannien berichten über menschenunwürdige Lebensbedingungen, auch über Todesfälle auf Baustellen. Houtan Homayounpour leitet in Doha das Büro der ILO, der International Labour Organization, einer UN-Agentur für Arbeitsrechte.
"Kein Land sollte einem anderen Land seine kulturellen oder sozialen Werte aufzwingen. Doch es gibt universelle Menschen- und Arbeitsrechte, an die sich jedes Land hallten sollte. Die Situation ist sicherlich nicht perfekt, aber man sollte Errungenschaften auch anerkennen. Die Katarer sind erstaunt über die Wucht der Kritik, denn sie sind eigentlich der Meinung, dass sie Fortschritte machen."
Über Jahrzehnte benötigten Gastarbeiter einen Kafala, einen Bürgen, der ihre Pässe einbehalten und ihre Ausreise erschweren kann. Im vergangenen Jahr wird in Katar der erste Mindestlohn der Region eingeführt, er liegt bei 230 Euro. Offiziell können Arbeiter ihre Verträge nun leichter ändern. Aber wird die Umsetzung der Gesetze ausreichend kontrolliert? Nach Maßstäben Europas ist Katar rückständig. Nach Maßstäben der Golfregion: ein Zukunftsmodell. Houtan Homayounpour:
"Wir wollen den Unternehmern deutlich machen, dass auch sie von Arbeitsreformen profitieren. Wenn Migranten weniger Einschränkungen haben, wird das weitere Fachkräfte und Investoren ins Land locken. Wir müssen noch mehr dafür tun, dass sich die Arbeiter gebraucht und willkommen fühlen. Die Aufmerksamkeit liegt auf den WM-Baustellen, doch dort sind nur 31.000 Arbeitsmigranten tätig – von landesweit 2,3 Millionen."
Der Emir von Katar knüpft im Staatswesen ein Netz aus Familienmitgliedern und Freunden. Parteien sind verboten und Gewerkschaften unterliegen Auflagen. Eine Gewaltenteilung existiert nicht. Unabhängige Medien, die die Erbmonarchie hinterfragen, ebenfalls nicht. Homosexuelle müssen mit Verfolgung rechnen. In Doha sind Überwachungskameras allgegenwärtig. Proteste wie 2011 im Arabischen Frühling oder wie 2019 in Algerien oder im Libanon sind in Katar unwahrscheinlich. Aber auch unmöglich? Der Journalist Florian Bauer hat für die ARD mehrfach in Katar recherchiert:
"Selbst wenn der alte Emir und der jetzige Emir diese Strategie haben, das Land stark zu öffnen, dann muss man natürlich auch sagen, dass in diesem Land wiederum viele Kataris leben, die dieser Öffnung nicht offen, sondern ablehnend gegenüberstehen. Sie haben Angst um ihre Pfründe. Sie haben Angst, dass die alten Riten verwässert werden. Dass beispielsweise Alkohol getrunken werden darf während der Weltmeisterschaft."
Nicht alle Katarer tragen Reformen mit
Der Emir lässt 2018 die Alkoholpreise durch Steuern massiv erhöhen. An der Qatar Universität ersetzt er als Hauptsprache Englisch durch Arabisch. Zugeständnisse an konservative Kreise, wohl auch an die Herrscherhäuser in Saudi-Arabien und in den Emiraten, die so manche Reform als Provokation empfinden. Wie lange kann Riad die Blockade Katars noch aufrechthalten? Und hätte der Fußball – vor den Krisen des vergangenen Jahrzehnts – einen Aufbruch anstoßen können? Florian Bauer:
"Eine panarabische WM: Das ist aus meiner Sicht tatsächlich auch der Gedanke, der von Anfang an viel Sinn gemacht hätte. Mit Spielen in Saudi-Arabien, Bahrain, Dubai, Abu Dhabi, wo es überall schon ein Stadion mindestens gibt. Dann vielleicht sogar auch noch in Beirut, aber zumindest eine WM am Persischen Golf: Die hat aus meiner Sicht viel politischen Charme. Viele Möglichkeiten, Brücken zu überwinden."
In diesem Spätsommer kommt es zu einer unerwarteten Wendung im Nahen Osten. Israel nimmt diplomatische Beziehungen zu drei arabischen Staaten auf, zu den Vereinigten Arabischen Emiraten, Bahrain und Sudan. Sehr wahrscheinlich in Absprache mit Saudi-Arabien, glaubt James M. Dorsey, Autor des Buches "The Turbulent World Of Middle East Soccer."
"Es könnte bald Freundschaftsspiele zwischen diesen Ländern geben. Ohne die Aufnahme diplomatischer Beziehungen wäre das nicht möglich. Ich glaube, dass die Vereinigten Arabischen Emirate im Fußball eher ein politisches als ein wirtschaftliches Ziel verfolgen: Sie wollen mit der Soft Power in Israel offenbar antiarabische Einstellungen aufweichen, auch im komplizierten Verhältnis mit den Palästinensern."
Katar knüpft derweil sein eigenes Netzwerk. Mit Kontakten in den Westen, aber auch zu islamistischen Gruppen in Ägypten, im Libanon und im Iran. Offizielle Beziehungen zu Israel bestehen noch nicht. Aber:
"Katar hat ein Stadion in Sachnin gebaut, im Norden von Israel, wo mehrheitlich muslimische Israelis leben. Der FC Bnei Sachnin war 2004 der erste arabische Klub, der den israelischen Pokal gewann. Katar war also das erste arabische Land, das in Israel investiert hat."
Mit Hilfe des Fußballs setzt Katar also seit einigen Jahren beachtliche Zeichen in der Weltwirtschaft und Weltpolitik. Vereine aus demokratischen Staaten wie der FC Bayern München wollen davon profitieren. Die Weltmeisterschaft 2022 dürfte indes zeigen, ob dieses Modell eine Zukunft hat.