Mesut Özil "wird zum Sündenbock"
Selbstgefälligkeit und Saturiertheit attestieren die Autoren und Fußball-Liebhaber Helmut Böttiger und Rainer Moritz der früh ausgeschiedenen deutschen Mannschaft bei der FIFA WM. Wie bei DAX-Konzernen übernehme auch beim DFB die Chefetage keine Verantwortung.
Joachim Scholl: Auch wir Bücherwürmer haben dem sportlichen Großereignis der letzten Wochen ordentlich Tribut gezollt, und das wollen wir, zwei Tage vor dem Finale, noch einmal tun in Form einer intensiven Rezension des Ereignisses von zwei Kritikern, die auf beiden Feldern ausgewiesen sind, in der Literatur und auf dem Rasen.
In Hamburg begrüße ich Rainer Moritz. Unter seinen vielen Büchern blinkt uns heute besonders die bahnbrechende Schrift "Abseits: Das letzte Geheimnis des Fußballs" entgegen sowie "Fußballgeschichten: Von Sokrates bis Jürgen Klinsmann". Aktiv war er auch in der D-Jugend des VfR Heilbronn. Guten Tag, willkommen!
Rainer Moritz: Einen schönen guten Tag!
Scholl: Und an meiner Seite hier in Berlin sitzt Helmut Böttiger, preisgekrönter Kritiker, Homme de Lettres, aber auch toll am Ball, epochal bis heute sein Buch "Ein Mann, kein Schuss, kein Tor" oder seine Günter-Netzer-Biografie, in der er den Angriffsfuror von Borussia Mönchengladbach in den 1970er-Jahren mit dem sozialdemokratischen Aufbruch eines Willy Brandt souverän zusammenspannte. Hallo, Herr Böttiger!
Böttiger: Guten Tag!
Die Fußballhelden Mbappé und Griezmann
Scholl: Sie beide, Herr Moritz und Herr Böttiger, haben vor gut 20 Jahren schon mal für "die tageszeitung" über Fußball debattiert. Es war ein interessantes Gespräch – im Netz findet man es immer noch –, in dem Sie sich wechselseitig komplette Ahnungslosigkeit attestierten. Sie sind also ein prima Team. Helmut Böttiger kriegt den ersten Freistoß: Gab es in dieser Weltmeisterschaft, Herr Böttiger, für Sie große literarische, dramatisch-tragische Momente?
Böttiger: Wenn ich ehrlich bin, fällt mir als erstes ein Moment ein, der etwas mit Interviewtechnik zu tun hat und Mediensituationen: Als nämlich die Franzosen gegen Argentinien 4:3 gewonnen haben, der Spieler des Spiels Mbappé interviewt wurde, vor der Fernsehkamera Auskunft gab; und dann rannte der elsässisch-stämmige Griezmann in das Bild, während Mbappé, mit einem afrikanischen Hintergrund, gerade sprach, umarmte ihn und sagte, "Vive la France, Vive la République", und dieses "Vive la République", das fehlt uns in Deutschland. Das ging mir merkwürdig nach, diese Situation, weil die in Deutschland so nicht vorstellbar wäre.
Scholl: Das hat Griezmann, glaube ich, wiederholt gemacht. Herr Moritz, haben Sie einen ähnlichen Moment?
Moritz: Keinen ganz konkreten, es ist eher das dramatische Element der Fallhöhe, das man, glaube ich, bei einer WM auf wunderbare Weise bestaunen kann. Da gibt es die Kleinen – der berühmte David-gegen-Goliath-Mythos –, der dann immer gefeiert wird, das war Island bei der letzten Europameisterschaft. Jetzt haben wir uns mit Kroatien gefreut, mit Uruguay gefreut, die haben auch so wenig Einwohner. Das ist wunderbar, da hat man noch mehr Begeisterung. Wie können die bei wenig Einwohnern so viele gute Spieler hervorbringen?!
Aber Fallhöhe: Man kommt leider nicht umhin, natürlich an das Favoritensterben bei dieser Weltmeisterschaft zu denken, das heißt, wie im klassischen Drama: der Held, der dann von ganz oben ganz tief fällt. Das ist für den Zuschauer natürlich noch viel, viel besser, als wenn eine mittelmäßige Mannschaft mittelmäßig spielt und dann mittelmäßig ausscheidet, und leider muss man, wenn man an Fallhöhe denkt, natürlich auch an die deutsche Nationalmannschaft denken, die dies in wunderbarer Weise durchexerziert hat.
Götterdämmerung im Fußball
Scholl: Na gut, dann bleiben wir gleich mal bei dieser Götterdämmerung. "Das Drama des deutschen Fußballs", so hat der Untertitel Ihres Buches von 1993 gelautet. Ich habe extra noch mal nachgeschaut, Herr Böttiger. Wir haben jetzt, glaube ich, eine noch verschärftere Situation, denn schlimmer war es nimmer. Raus ohne Applaus in der Vorrunde. Als amtierender Weltmeister hat Deutschland insgesamt zwei Tore geschossen, genauso viel wie Panama. Wie haben Sie das erlebt?
Böttiger: Ja, es ist merkwürdig. Es gibt da immer diese Spiele, dass man die deutsche Nationalmannschaft vergleicht mit der gesellschaftlichen politischen Situation, und das drängt sich im Moment auf. Natürlich, die Parallelen zwischen Jogi Löw und Angela Merkel sind nicht zu übersehen.
Aber das eigentlich Interessante ist eine Form von Wohlstandsverwahrlosung und Saturiertheit, die vor allem in den oberen Etagen einzieht. Das ist bei den DAX-Konzernen genauso, wenn ich nur sage Deutsche Bank, Siemens, VW, das erinnert mich sehr stark an den Manager Bierhoff, dass die oberste Chefetage, die eigentlich verantwortlich ist, die Schuld abwälzt, überhaupt keine Fehler bei sich selber sucht, sondern Bierhoff macht jetzt den Mesut Özil zum Sündenbock, was eine ganz schwierige politische Situation ist, und er auch selber ist für die ganzen Vorstandsmitglieder in den DAX-Konzernen fein raus. Das ist eine Saturiertheit, eine Selbstgefälligkeit.
Und wenn wir in einer Literatursendung sind, können wir sagen, auch die Literaturszene ist ja sehr gepäppelt mit lauter Stipendienpreisen, es ist mehr so eine Art Dienstleistungsbetrieb geworden, und diese Dienstleistungsmentalität, ohne einen inneren Furor und ohne Exzentrik, das war bei dieser deutschen Nationalmannschaft natürlich im Vordergrund.
"Großes Selbstverschulden" der Führungsetage
Scholl: Das ist aber eine umfassende Decadence, die Herr Böttiger hier aufblättert, Herr Moritz. Stimmen Sie da zu?
Moritz: Ich muss auch mal erst mal Atem schöpfen. Natürlich bin ich immer geneigt, dem Kollegen Böttiger sofort zu widersprechen. Ich kann das hier nicht in aller Deutlichkeit, aber das Gepämperte sozusagen, das ist, glaube ich, natürlich ein Hauptproblem der deutschen Mannschaft gewesen.
Man muss vielleicht einmal sich erinnern, wie es ein paar Monate vorher noch war. Alles hat davon gesprochen, dass eigentlich die deutsche Mannschaft über einen guten Kader verfügt. Es sind viele junge Spieler, wie gerade im Mittelfeld, in der deutschen Mannschaft präsent. Man hat gedacht, das ist eine sehr gute Mischung, die da zustande kommt.
Und wie innerhalb von kürzester Zeit durch – da stimme ich Helmut Böttiger zu – großes Selbstverschulden der Führungsetage es dazu kommt, dass diese hoffnungsvollen Aussichten im Nichts verlaufen, in sinnlosen Diskussionen sich auch im Vorfeld ergangen sind – denken Sie an die Manuel-Neuer-Diskussion: Man hat das Gefühl gehabt, es gäbe nichts Wichtigeres im deutschen Fußball im Vorfeld, ob Manuel Neuers Fuß nun hält, als hätten wir sonst keine guten Torhüter.
Man hat also Nebenschauplätze eröffnet, und das ist immer so, wenn man nichts Großes zu leisten hat. Das gilt für die Literatur, für jede Kunst, dann wird plötzlich der Nebenschauplatz großgemacht, und umso schlimmer, wenn man dann merkt, man hat selbst auf diesem Nebenschauplatz keine Chancen. Man wird sozusagen … vor lauter Selbstinszenierung ist man gar nicht mehr in der Lage, Fußball zu spielen, und das Ergebnis sieht entsprechend aus.
"Diese Abkopplung von dem, worum es eigentlich geht"
Scholl: Ich meine, Deutschland hatte immerhin seine Weltsekunde, nenne ich Sie mal: das Siegtor von Toni Kroos in der allerletzten Sekunde der Nachspielzeit.
Moritz: Das hat es nur schlimmer gemacht, Herr Scholl, das hat es nur schlimmer gemacht!
Scholl: Hinterher hat der Bundestrainer dann vor dem Spiel gegen Südkorea, als es dann um die Arithmetik des Weiterkommens ging, einen fatalen Reim hingesprochen: Wir brauchen kein Los, wir haben Kroos. Da hätte man schon stutzig werden müssen.
Böttiger: Ja, diese Lyrik weist auch natürlich auf den Zustand der deutschen Literatur hin. Es ist schon so, dass das Potenzial eigentlich dagewesen wäre und dass man sehr gute Techniken lernt, auch im Literaturbetrieb, die Schriftsteller werden ja alle sehr perfektioniert in Auftritten, auf Mikrofontauglichkeit, mit schönen geföhnten Frisuren, die können jetzt frei sprechen auf jedem Podium, während es schon Zeiten gab, in denen die Schriftsteller eigentlich gar kein Wort hervorbrachten, weil das nicht deren Medium ist.
Und dieses Bild von Joachim Löw am Laternenpfahl von Sotschi, das hat auch so diesen Modelcharakter, diesen Popstarcharakter, vollkommen abseits dessen, was konkret gespielt wird. Und diese Abkoppelung von dem, worum es eigentlich geht, das ist, glaube ich, das Interessante dabei, dass die Spieler, die ja eigentlich zu sehr viel in der Lage sind, in dem konkreten Moment völlig apathisch und überfordert wirkten und ihre Möglichkeiten nicht abrufen konnten, und das liegt an einer inneren Struktur, die genauer untersucht werden müsste, und da hat die Führungsetage und die Rahmenrichtlinien, die da gegeben wurden, die hatten da komplett versagt. Das ist ein Zeichen von Selbstgefälligkeit und Saturiertheit.
Moritz: Der Kollege Böttiger hatte ja schon immer eine Schwäche auch für erdverbundene Literatur, und da würde ich ihm aber trotzdem recht geben. Das ist genau das, was fehlt, deswegen hat man fast sehnsuchtsvoll auf das Spiel etwa der kroatischen Mannschaft geschaut. Die haben dreckig gespielt, die haben schmutzig gespielt im Halbfinale gegen England, hätte mit einem anderen Schiedsrichter Ante Rebic die ersten 45 Minuten gar nicht mehr überlebt.
Aber das war eben diese Art von Einsatz, dieses Sich-Hinein-Beißen in ein Spiel. Dazu war die deutsche Mannschaft nicht fähig. Das scheint dann doch, ein längerer Prozess gewesen zu sein und nicht erst in den letzten Monaten vor dieser WM eingetreten zu sein. Man hat jetzt diese furchtbare beklemmende Angst, in alte Jupp-Derwall- und Rudi-Völler-Zeiten zurückzufallen, als damals in den 90er-Jahren dieser Unmut entstanden ist, wie schrecklich spielt Deutschland immer Fußball, man freut sich nicht mal, wenn sie gewinnen, und jetzt diese Angst, dass es genauso weitergehen kann – wie mit Angela Merkel, so auch mit Joachim Löw.
Eine erschreckende Entwicklung der Fußballästhetik
Scholl: Gut, diese Diskussion müssen aber dann andere Nationen auch führen, also Stichwort Favoritensterben: Argentinien raus, Portugal raus, Spanien raus, eigentlich alle raus, raus, raus. Jetzt doch mal noch die Perspektive gewechselt mit Ihnen beiden, noch mal so ein bisschen ins Heldenfach schauen. Dafür sind ja WMs ja auch immer toll, dass so einzelne Spieler plötzlich da sind, herausragen. Gab es da wenigstens in dieser Hinsicht für Sie mal eine Entdeckung, Herr Böttiger?
Böttiger: Es fällt auf, dass so Spieler wie Mbappé bei den Franzosen, ganz jung, ein neuer Typus von Fußballkünstler ist, der sich aber in die Mannschaft eingliedert, genauso Eden Hazard bei Belgien. Das waren für mich die beiden großen Spieler bei der Weltmeisterschaft, die aber einen anderen Typus darstellen als Neymar oder Cristiano Ronaldo, denen dieser Popstargestus zu Kopf gestiegen ist und die eigentlich unerträglich sind.
Also obwohl das großartige Fußballspieler sind, gelingt es einem nicht mehr, sie zu bewundern, weil sie einen eigentlich nur noch nerven in ihrer jugendlichen narzisstischen Popstarüberheblichkeit, während Eden Hazard oder Mbappé: Das sind Spieler, die in ein System gehören, wo sie sich auch unterordnen in die Mannschaft.
Das ist vielleicht eine Entwicklung trotz der insgesamt eher erschreckenden Entwicklung der Fußballästhetik bei dieser Weltmeisterschaft: Es gibt die Punkte, wo man es sieht, bei Frankreich ist das zu sehen, bei Belgien war es zu sehen, dass Spieler eigene Initiativen entwickeln können, aber nicht zu diesem überbordenden Narzissmus neigen.
Moritz: Die großen Helden, die unsympathischen Helden wie Ronaldo, vielleicht auch Messi, haben natürlich in den falschen Mannschaften gespielt. Das muss man ganz klar sagen. Dass Portugal Weltmeister werden kann, das war von vornherein ausgeschlossen, und das führt zu dieser Tragik, dass, wenn man nicht im richtigen Team ist, wie Ibrahimovic das bei Schweden immer war, dann kann man eben auch nicht Weltmeister werden.
Nein, es ist sicherlich keine WM gewesen der großen ästhetischen Momente, wenn schon die Standardsituation plötzlich wieder an großem Gewicht gewinnt, wenn also nicht spielerisch Spiele entschieden werden, sondern durch Ecken oder Freischüsse entschieden werden, dann muss man auf die Einzeltäter hoffen.
Der englische Torwart Pickford war ein solcher Einzeltäter für mich. Englische Torhüter, ein Kapitel, was wir seit 20 Jahren mit größtem Schrecken verfolgen, und dann kommt einer, der auch so aussieht, als würde er diese schreckliche Tradition der englischen Torhüter sofort fortsetzen, und der wird plötzlich zum Helden dieser englischen Mannschaft. Das sind die Momente, wo man im Sessel zu Hause sitzt und zufrieden lächelt. Sehr viele solcher Momente gab es für mich allerdings nicht.
"Wir sind nicht nationalistisch, wir sind Kroaten"
Scholl: Zum Schluss: Frankreich und Kroatien haben sich durchgeboxt. Wer macht das Rennen? Kleiner Tipp, Herr Böttiger?
Böttiger: Na ja, wir saßen da in der Kneipe im Viertelfinale, und es ging natürlich drum, wer jetzt Weltmeister wird, und ich sagte dann, die Kroaten sind mir einfach zu nationalistisch, das mag ich nicht, und am Nebentisch sagte dann einer, wir sind nicht nationalistisch, wir sind Kroaten, und das fand ich dann doch relativ lustig. Dennoch bin ich natürlich für die Republik und für Frankreich. Das ist auch von der Spielanlage her eine ideale Verbindung von Ästhetik und mannschaftlicher Geschlossenheit.
Scholl: Und Sie, Herr Moritz?
Moritz: Meine Mutter behauptet, der alte Sportreporter Kürten habe vor ein paar Wochen gesagt, Kroatien werde Weltmeister. Ich habe gesagt, Mutter, das kann nicht stimmen, das kann Kürten nicht gesagt haben. Sie behauptet es steif und fest, deswegen schließe ich mich jetzt meiner Mutter an. Wenn schon eine verkorkste WM, dann bitte mit Kroatien als Weltmeister.
Scholl: Die Fußball-WM 2018, die Rezension von Helmut Böttiger und Rainer Moritz, ich danke Ihnen beiden sehr! Ein nettes Finale wünsche ich Ihnen trotz allem und uns allen! Ab Montag ist die Welt wieder schön normal.
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