Das Trauma von Rio
Bei der Fußball-WM im eigenen Land schwingt für viele Brasilianer noch die Erinnerung an eine "nationale Tragödie" mit: Das verlorene Finale bei der Heim-WM 1950. Und sie sind sicher: Nur wenn Brasilien jetzt Weltmeister wird, ist der "Fluch von Maracaná" besiegt.
Fußball und Politik: in Brasilien seit je her eine fast unzertrennliche Einheit. Während des Turniers 1950 ist Wahlkampf. Die Parteien verteilen Geschenke, die, so der Fußball-Historiker Hardy Grüne, eher ungewöhnlicher Natur sind.
"Feuerwerksraketen. Wir haben bei fast allen Spielen ein kleines Feuerwerk aus dem Publikum heraus, ganz spontan, für europäische Verhältnisse absolut undenkbar. Das hatte man noch nicht erlebt."
Gastgeber Brasilien ist der große WM-Favorit. Angefeuert von ihren Fans steigert sich die "Seleção" im Turnierverlauf. In der Finalrunde schießen sie gegen Schweden und Spanien insgesamt 13 Tore. Am 16. Juli 1950 kommt es zum alles entscheidenden Spiel gegen Uruguay. Mit dabei der Journalist Friedebert Becker.
"Ganz Rio erlebte das Spiel voller Aufregung am Radio mit. Am aufregendsten war das mitten in der Stadt, in der Avenida Rio Branco, das ist der Kurfürstendamm von Rio, da war ein Tohuwabohu wie beim Karneval von Rio."
Den Brasilianern reicht ein Unentschieden zum Titelgewinn.
Gefühlt schon vorab Weltmeister
Hardy Grüne: "Brasilien war Weltmeister vor dem Spiel. Die Zeitungen waren gedruckt, vor dem Stadion konnte man T-Shirts bekommen 'Weltmeister Brasilien', das Land stand Kopf, es ging eigentlich nur noch darum, das Ergebnis technisch zu untermauern, was gefühlsmäßig lange besiegelt war: Brasilien ist die beste Mannschaft der Welt."
Zu Beginn der zweiten Halbzeit geht Brasilien in Führung, bald danach gleicht Uruguay aus. Dann, in der 79. Minute, der Schock.
"Goooooool uruguayo!"
Der kleine Rechtsaußen Ghiggia erzielt das 2:1 für Uruguay.
Hardy Grüne: "Es gibt 'ne Aussage von ihm: 'Es gibt nur zwei Menschen, die es geschafft haben, das Maracaná zur Ruhe zu bringen: das war der Papst, und das war ich'."
Der Torwart als Prügelknabe
Elf Minuten später ist Uruguay Weltmeister. Die brasilianischen Fans finden schnell den Schuldigen: Torwart Barbosa hätte den Schuss von Ghiggia halten müssen, es war das Torwarteck.
"Ich glaube, es hing mit der Unfassbarkeit des Ereignisses zusammen, man benötigte irgendeine Erklärung, warum dieses passieren konnte, und da musste dann halt dieser arme Kerl dran glauben."
Der Fußball-Historiker Dietrich Schulze-Marmeling.
"Er hat das ja mal so ausgedrückt, dass er schlimmer bestraft worden wäre wie ein Mörder. Für einen Mörder wäre irgendwann die Haftstrafe zu Ende, aber er hätte lebenslänglich bekommen für dieses Tor."
Nie mehr in Weiß
Um den Fluch von Maracaná zu vertreiben, wechselt Brasilien danach die Farbe des Trikots. Brasilien spielte bis dahin in weiß, Brasilien hat seither nie wieder in weiß gespielt.
Doch obwohl die Selecao in ihren kanariengelben Trikots fünf Mal Weltmeister wird, ist die Niederlage von 1950 bis heute eine nationale Tragödie. Eine Schmach, die nur durch den Titelgewinn in diesem Jahr getilgt werden kann.