Fußball-WM in Katar

Wir sind Haltungsweltmeister

Drei Hände zeigen mit dem Zeigefinger auf etwas unsichtbares in ihrer Mitte
"Könnte es sein, dass wir mit unserem empörten Abschalten gar nichts Gutes tun, sondern uns nur gut fühlen wollen?", fragt Katrin Weber-Klüver. © Getty Images / iStockphoto / nadia_bormotova
Ein Kommentar von Katrin Weber-Klüver · 18.11.2022
Die WM geht also los und in keinem anderen Land wurde so intensiv die Frage besprochen, ob es moralisch vertretbar ist, sich die Spiele anzusehen, meint Katrin Weber-Klüver. Doch der bequeme TV-Boykott vom Sofa aus helfe den Menschen in Katar nicht.
Wir sind uns also einig. Das geht nicht, diese Fußball-WM zu gucken. Weil die in Katar stattfindet. In einem Land, dessen Rechtsprechung sich an der Scharia orientiert. In Stadien, die von Arbeitsmigranten gebaut wurden, unter miserablen bis tödlichen Bedingungen.
Nein, wir gucken die nicht. Das gebietet die Moral. Na gut, wir sind auch nur Menschen, wir wollen ehrlich sein, wo’s jetzt losgeht: Vielleicht gucken wir ein klitzekleines bisschen. Wenn die Deutschen spielen. Oder wenn es sich so ergibt, in der Kneipe, bei Freunden.
Stopp. Noch mal zurück.
In kaum einem anderen Land ist in den vergangenen Wochen die Haltungsfrage so intensiv gestellt und gerne auch gleich eindeutig beantwortet worden wie in Deutschland.

WM im Sommer – in Südamerika

Menschen in Argentinien, bekanntlich sehr fußball-affin, tendieren eher dazu, sich zu freuen, dass die Weltmeisterschaft endlich mal stattfindet, wenn bei ihnen Sommer ist. Und nicht bei den dauerprivilegierten Europäern. Doch auch viele Fans in anderen europäischen Ländern konzentrieren sich auf Vorfreude. Außer den Norwegern vielleicht, die sehr boykott-affin sind – aber deren Team spielt auch gar nicht mit.
Okay, in Frankreich, dem Land des Titelverteidigers, wird es wie bei uns in einigen Städten aus Protest gegen das Gastgeberland kein Public Viewing geben. Aber mit dem entschiedenen Mit-mir-nicht! des tugendhaften Fernsehfußballfans sind wir ziemlich weit vorn. Um nicht zu sagen, dass wir die Besten sind. Das Turnier hat noch gar nicht begonnen, aber wir sind schon mal – Haltungsweltmeister.

Boykottiert irgendjemand die Sponsoren?

Heroisch verzichten wir auf die kollektiven Lagerfeuererlebnisse, die heutzutage nur noch der Fußball bei großen Turnieren liefert.
Der Fifa aber tut das nicht weh. Deren Bosse, so wie wir sie kennen, würden frühestens bei einer globalen Einschaltquote von null Prozent überhaupt in Erwägung ziehen, dass Katar ein Fehler war. Die Fifa-Sponsoren müssen auch nicht in Panik geraten. Deren Produkte von Brause über Sportschuhe bis zu Kreditkarten sind nicht mal von erwähnenswerten Boykott-Aufrufen betroffen.
Auch dem Staat Katar ist unser Weggucken egal. Wir machen damit nichts in Katar besser. Nicht für Arbeitsmigranten. Nicht für Frauen. Nicht für die LGBTQ-Gemeinde. Nicht für die Idee der Demokratie an sich. 
Könnte es also sein, ganz vielleicht, dass wir mit unserem empörten Abschalten gar nichts Gutes tun, sondern uns nur gut fühlen wollen?

Haltung muss man sich leisten können

Haltung ist etwas Wertvolles. Aber nicht, wenn man sie als Accessoire für den Blick in den Spiegel anlegt. „Ah, ich hab‘ heute wieder so viel Haltung!“
Auf einem Berliner Sofa nicht fernzusehen, wenn in einem Wüstenstadion gekickt wird, ist bloß gemütlich. Eine nützliche Handlung ist es nicht. Etwas zu tun, was Menschen in einem unmenschlichen Land wirklich helfen könnte, wäre allerdings anstrengend. Es würde uns etwas kosten. Mindestens Geld und Bequemlichkeit. Dann doch lieber Haltung. 
Vielleicht werden wir uns mit unserer Boykott-Begeisterung tatsächlich wichtig genug finden, um den Fernsehen nicht mal einzuschalten, falls Deutschland am 18. Dezember Weltmeister werden könnte. Wahrscheinlicher allerdings, dass wir unser Gewissen in diesem unwahrscheinlichen Fall austricksen würden. Mit der wunderbar unwiderlegbaren Feststellung, dass es keinem noch so entrechteten Menschen hilft, wenn nur wir das Finale nicht sehen. 
Und schon wären wir unseren inoffiziellen Moral-Titel wieder los. Es sei denn, wir erzählten niemandem, dass wir doch noch hingeguckt haben.
Wir Haltungsweltmeister.
Wir Heuchler.

Katrin Weber-Klüver, geboren 1966 in Schleswig-Holstein, lebt in Berlin und arbeitet freiberuflich als Autorin, Journalistin und Dramaturgin. Im Jahr 2000 brachte sie den Begriff Rumpelfüßler in die Fußballwelt.

Die Journalistin Katrin Weber-Klüver. Eine ältere Frau mit halblangen Haaren steht auf Spazierweg.
© privat
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