Fußball

WM wird "spannend wie selten zuvor"

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Die WM soll die "Copa das Copas", die Weltmeisterschaft der Weltmeisterschaften werden © picture alliance / dpa / Diego Azubel
Kay Schiller im Gespräch mit Joachim Scholl |
Sportlich und sportpolitisch steht uns eine interessante WM bevor, glaubt der Historiker Kay Schiller. Er hat eine Kulturgeschichte des Fußballs geschrieben, in der er sich auch mit einem Demokratieprozess der FIFA beschäftigt.
Joachim Scholl: Der Historiker Kay Schiller ist Jahrgang 1962, lebt und lehrt seit 1997 in England – kein schlechtes Umfeld für eines seiner Forschungsfelder: die Kulturgeschichte des Sports. Jetzt ist dieses Buch von Kay Schiller erschienen: "WM 74: Als der Fußball modern wurde", pünktlich zum aktuellen Kick-off in Brasilien sozusagen. Guten Tag, Herr Schiller, willkommen im Deutschlandradio Kultur!
Kay Schiller: Guten Tag, Herr Scholl!
Scholl: Wie ist denn Ihre persönliche Fußballfieberkurve einen Tag vor Beginn. Freuen Sie sich auch auf diese Weltmeisterschaft?
Schiller: Ja, unheimlich, also ich kann es kaum erwarten. Wobei man natürlich überhaupt nicht weiß, wie das Ganze laufen wird, wie stark die Proteste sein werden, wie sich die Verwerfungen bei der FIFA, wie sich das auswirken wird. Das ist spannend wie selten zuvor, und zwar sowohl sportpolitisch als auch, was das Sportliche selbst angeht.
Scholl: 94, 74, 90, 2006 – das war der Refrain vom Fußballgassenhauer der Sportfreunde Stiller zur letzten WM in Deutschland mit den legendären Gewinnzahlen. 1974 also auch, der Triumph der deutschen Nationalmannschaft in Deutschland. Herr Schiller, Sie haben dieses Turnier fußballhistorisch, sportpolitisch untersucht. Was macht gerade diese WM fußballhistorisch so interessant?
Schiller: Zum einen der Bezugspunkt zu den Olympischen Spielen 1972. In der Erinnerung vieler ist das ja sozusagen ein Event, aber 72 und 74 unterscheiden sich doch sehr, sehr maßgeblich. Und da hat mich eben vor allen Dingen interessiert, inwieweit beispielsweise der Terroranschlag Auswirkungen hatte auf die ganzen Sicherheitsvorkehrungen. Es hat mich interessiert, wie viel Geld eigentlich für die WM zur Verfügung stand, und dabei habe ich herausgefunden, dass das sehr wenig war im Vergleich zu 72, einfach deshalb, weil der Fußball damals noch nicht diesen herausragenden Ruf hatte, doch noch eher etwas randständig war, nicht ganz ernst genommen wurde, vor allen Dingen nicht von der Politik. Und eben auch dieses Image eines meinetwegen primitiven Proletensports noch anhaften hatte, während er inzwischen natürlich in die Mitte der Gesellschaft gerückt ist und Milieu übergreifend und auch geschlechterübergreifend und vollkommen akzeptiert –beziehungsweise eigentlich alle anderen Sportarten an den Rand gedrückt hat. Mich interessiert, wie man sozusagen von 74 auch dann praktisch zu 2006 kommt.
Scholl: Sie beschreiben dieses Turnier so als Kipp-, Wendepunkt, auch als Schwellenzeit für den Fußball. Welche Veränderungen begannen sich damals abzuzeichnen?
Spieler werden von Sportler zu Stars
Schiller: Zum einen, wenn man dieses Turnier anschaut, sieht man, es ist zum ersten Mal so, dass diese Nicht-Ticketeinnahmen, das heißt also die Einnahmen, die bei dem Turnier erzielt werden, die nicht über den Kartenvorverkauf oder Kartenverkauf, sondern eben über das Fernsehen beziehungsweise über Werbung, Merchandising – sie erinnern sich alle an die WM-Schallplatte, das war übrigens das erste Mal, dass die Nationalmannschaft eine eingespielt hat, Sie erinnern sich an Tipp und Tapp –, dass diese Einnahmen eben zunehmend bedeutend werden. Und dass die Fernsehrechte, dass angefangen wird, die recht teuer zu verkaufen. Das kann man auf der Ebene dieses Turniers sehr, sehr schön zeigen.
Dann ist es so, dass natürlich in der Zeit, 60er-Jahre, 70er-Jahre, eben auch die Spieler aufsteigen zu Großverdienern, und eben auch über die Werbung ganz, ganz stark präsent sind in der Öffentlichkeit, und dann auch über die – also sozusagen von Sportlern zu Stars werden. Das heißt also, der Fußball selber wird dann eben auch Teil der Unterhaltungsindustrie. Das ist eine ganz starke Veränderung, die in den 60er- und 70er-Jahren stattfindet. Und auch auf der Ebene des Weltverbandes, beispielsweise bei der FIFA, kann man eben auch zeigen, dass es da einen Generationenwechsel und einen Personalwechsel gibt. Der FIFA-Präsident, der 74, gerade bei dem WM-Kongress, der stattfindet im Vorfeld der WM, wie wir ihn auch jetzt wieder in Sao Paulo haben, ist Joao Havelange, ein Brasilianer, ein smarter Geschäftsmann, der einen doch eher etwas gentlemanhaften oder altväterlichen Engländer, Sir Stanley Rous, ersetzt und die FIFA danach sozusagen in diese globale Fußballfirma macht, die sie heute ist.
Scholl: Und der später dann sozusagen aber auch gefeuert wird oder nicht mehr, sogar kein Ehrenmitglied mehr ist – aber da kommen wir gleich drauf. Herr Schiller, einen Punkt möchte ich noch mit 74 verbinden, weil das finde ich hochinteressant. Nämlich dieser Punkt, der gerade dann 2006 diese besondere Stimmung erzeugt hat vom Sommermärchen, so dieser fröhliche, nicht chauvinistische Patriotismus, ein weltoffenes Deutschland, und Sie, Herr Schiller, bezeichnen diesen Prozess als Entnationalisierung. Dieser Prozess hätte auch 1974 begonnen. Wie denn?
Sieg der Bayern wird größer gefeiert als der WM-Titel
Schiller: Nee, also, ich sage, dass es eine Renationalisierung gibt, die passiert so ungefähr um die Mitte der 80er-Jahre, als man dann eben auch anfängt … auf den Trikots kann man das sehen, sieht man dann auf einmal eben Schwarz-Rot-Gold. Die Spieler singen die Nationalhymne. Aber im Vorfeld, nach 54, nachdem man sozusagen diesen Überschwang hatte an Gefühl beim Sieg in Bern, beim sogenannten Wunder von Bern – danach entnationalisierte sich der Fußball. Das heißt, man interessierte sich nicht besonders groß für die nationale Dimension. Und das zeigte sich dann eben auch beim Feiern. Die Deutschen waren äußerst zurückhaltend beim Feiern.
Und 74 war es schon sehr frappant zu sehen, nicht mal nach dem WM-Finale wurde richtig groß gefeiert. In München, ich hab in dem Buch auch versucht, das zahlenmäßig auszudrücken: Es waren mehr Leute da, als der FC-Bayern 74 das erste Mal den Europapokal der Landesmeister gewonnen hat gegen Atletico Madrid, und zurückkam nach München, als nach dem Finale, waren da mehr Leute auf der Straße als nach dem Finale, als man die Holländer geschlagen hatte. Und so richtig feiern konnten die Deutschen das damals nicht. Und das hat einfach auch, glaube ich, was mit der Abwertung des Nationalen in der politischen Kultur seinerzeit zu tun. Und erst eben Mitte der 80er-Jahre ändert sich das, und dann eben auch im Völkerfrühling 1989/90 wird die Nation wieder aufgewertet, und das kommt dann eben in anderer Form 2006 in dieser Feierlaune, in diesem Sommermärchen, in diesem friedlichen Patriotismus wieder, tritt es wieder zutage. Aber 74 war davon nicht viel zu sehen.
Scholl: Als der Fußball modern wurde. Über die WM 1974 bis heute hat der Historiker Kay Schiller geforscht. Er ist bei uns zu Gast hier bei uns im Deutschlandradio Kultur. Morgen beginnt sie nun, die WM 2014, Herr Schiller. Die Vorfreude ist da, auch Sie haben davon gesprochen. Man hat aber auch den Eindruck, als ob die Kritik am Weltfußballverband, der FIFA also, so scharf ist wie selten zuvor. Die sozialen Spannungen in Brasilien haben diese Kritik befeuert natürlich. Es ging um die Stadien, die Arbeitsbedingungen, die Rieseninvestitionen. Gleichzeitig wird die Kritik an der WM 2022, an der Vergabe an Qatar immer lauter. Sie haben jetzt auch schon den Namen des damaligen FIFA-Präsidenten Havelange genannt, der auch später als einer der korruptesten FIFA-Funktionäre ja fast dann ausgeschlossen wurde aus dem Verband. Könnte diese WM 2014 unter diesen Vorzeichen auch wieder so was wie ein Wendepunkt werden? Was meinen Sie?
Es bedarf einer Reform der FIFA
Schiller: Ja, das ist schwer – als Historiker sagt man natürlich eigentlich nicht die Zukunft voraus, insofern fühle ich mich nicht so ganz zuständig. Allerdings ist es schon so, wie ich auch vorher schon im Eingang sagte, dass das die spannendste WM ist, und zwar nicht nur unter fußballerischen Gesichtspunkten – schafft es einmal eine europäische Mannschaft, dort Weltmeister zu werden in Südamerika, was ja noch nie zuvor geschehen ist? – sondern eben auch sportpolitisch. Und die große Frage ist eben, ob wir als Zuschauer weiter diese kommunifizierte Form des Fußballs auch wirklich wollen oder ob wir sozusagen Reformen wollen, ob diese Reformen letztlich durchgesetzt werden. Ob sozusagen die FIFA sich wirklich demokratisiert. Die behauptet ja von sich, demokratisch zu sein. Es gibt eben diese 209 Mitgliedsländer, die beispielsweise darüber abstimmen, wer Präsident wird, und bei denen Blatter sehr heftig dafür wirbt inzwischen, dass er wiedergewählt wird, und gegen den Platini nun antritt, der auch mit ähnlichen Versprechen operiert.
Es bedarf halt gewissermaßen einer Reform der FIFA. Und die Frage ist, ist das eigentlich möglich. Und da gibt es schon jetzt Strukturen, die eingesetzt wurden. Es gibt diese Ethikkommission, es gibt den Garcia, es gibt den Eckerle, den Richter. Aber wie gesagt, wir müssen einfach mal abwarten, wie sich das weiterentwickelt. Ich hätte schon Vorschläge, wie man die FIFA reformieren könnte. Das haben andere auch, man müsste das viel offener, viel demokratischer machen, es müssten diese Amtszeitbegrenzungen wirklich durchgesetzt werden. Und wenn das wirklich der Fall wäre, also wenn man sozusagen eine WM hätte, die eine WM in der Krise ist, dann wäre es schon möglich, dass sich da Strukturen verändern. Aber sagen wir mal, ich bin nicht so wahnsinnig optimistisch.
Scholl: Ich meine, es hat natürlich jetzt auch gerade mit dem Hinblick auf die WM 2022, wo die Kritik ja ubiquitär ist, also von allen Seiten, ja sogar auch vom DFB selbst kommt. Ich meine, stellen wir uns doch mal vor, wenn England und Deutschland sich zusammenschlössen und sagen, okay, wir gehen da nicht hin. Meinen Sie, so was würde was bewirken?
Alternative Strukturen möglich
Schiller: Ja, ich traue nur den Verbänden nicht zu, dass sie das wirklich machen. Aber es ist natürlich schon so, dass so eine Struktur wie der Weltfußballverband nur davon lebt, dass sozusagen die anderen Verbände daran teilnehmen, dass jeder Verband davon lebt, dass wir sozusagen seine Regeln akzeptieren. Es steht jedem frei, einen alternativen Fußballverband, alternative Fußballvereine zu gründen, wie das ja auch in England geschehen ist. Also beispielsweise FC United of Manchester sozusagen als Gegengründung gegen Man United, als die Glazer-Familie den Verein übernommen hat, gekauft hat. Man könnte schon es schaffen, alternative Strukturen zu schaffen. Allerdings ist eben diese ganze Maschinerie der Bilder, der Medien, die Ökonomisierung dieses Produkts, das sich von selber verkauft – das ist ja das Verrückte bei Fußball. Die FIFA muss nicht für Fußball werben –
Scholl: Ab morgen, Herr Schiller, werden wir alle wieder vorm Fernseher sitzen, und die Kritik ist erst mal stillgestellt. Eine Frage noch: Wie werden Sie denn – ich weiß, dass Sie ein Arsenal-Fan sind – wie werden Sie denn als Wahl-Brite jetzt eigentlich die nächsten Wochen vor dem Fernseher sitzen in London, wo Sie wohnen?
Schiller: Ich werde natürlich die Deutschlandspiele gucken und ganz begeistert sein, und mein Sohn auch. Und wir freuen uns sehr drauf, und wir hoffen natürlich, dass Deutschland Weltmeister wird. Und unsere englischen Nachbarn akzeptieren das auch, weil sie wissen, dass sie ein Team schicken, das Glück hat, wenn es die Vorrunde übersteht.
Scholl: Und hoffentlich nicht ins Elfmeterschießen gegen Deutschland kommt.
Schiller: Ich glaube nicht, dass es so weit kommt. Aber wer weiß. Und wenn, dann möge der Bessere gewinnen.
Scholl: Sehr salomonisch. Herr Schiller, ich danke Ihnen, und viel Vergnügen für die nächsten Wochen beim Fußball. Besten Dank für dieses Gespräch, alles Gute für Sie und Ihr Buch. Es heißt "WM 74: Als der Fußball modern wurde", und ist jetzt im Rotbuch-Verlag erschienen. Vielen Dank!
Schiller: Vielen Dank, Herr Scholl!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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