Futuristische Avantgarde im Zickzack
Es ist ein Fachbuch für Kunstliebhaber: Ingold zeichnet auf knapp 700 Seiten die Geschichte der futuristischen Avantgarde in Russland nach. Detailliert erörtert er die Strömungen in Malerei, Literatur, Musik und darstellenden Künsten, leider auf eine sehr umständliche Art.
Schlüsseljahr – Wunderjahr – "Annus mirabilis": Kurz bevor in Europa der Erste Weltkrieg zu wüten begann, erblühte noch einmal die Kunst. Mit einer Energie, Ideenvielfalt und Dynamik, wie sie die Welt seit der Renaissance nicht mehr gesehen hatte. So lautet jedenfalls die Ausgangsthese des Schweizer Osteuropaspezialisten und Publizisten Felix Philipp Ingold.
"Dieses Phänomen (…) verbindet auf einzigartige Weise Tradition und Innovation, Kontinuität und Explosivität, Niedergang und Aufbruch, Apokalyptik und Zukunftsfreude, und es umfasst außer der künstlerischen Kultur (zu der nun erstmals auch der Film, der moderne Ausdruckstanz, die 'naive' oder 'primitive' Kunst gezählt werden) manche Bereiche der Philosophie, der Psychologie, der Physik, der Mathematik und nicht zuletzt der Alltagstechnologie, die um 1913 mit so bedeutsamen Errungenschaften wie dem Reißverschluss, dem Füllfederhalter, dem Fließband oder dem motorisierten Flugapparat ins Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit trat."
Der Theaterbetrieb steifte die Aura hoher Kunst und mystischer Weihe ab. Schauspieler und Regisseure probierten neue Formen und Orte aus: ambulantes Straßentheater, Schaubuden- und Jahrmarktstheater, Bauerntheater, Zirkus und Varieté - sekundiert von zeitgenössischen Kritikern wie dem namhaften Kulturpublizisten Ajchenwald, der den Untergang des traditionellen Theaters diagnostizierte.
"Für den zeitgenössischen Leser, den Auserwählten der höheren Kultur, wird die Bühne – das 'Spektakel' – immer entbehrlicher. Ja, es fasziniert ihn auch nicht mehr die Illusion, und die Bemühungen des Theaters, seine ausgeklügelten Tricks, zerschlagen sich fatalerweise am verfeinerten Bewusstsein des heutigen Zuschauers."
Das demokratische Theater der Zukunft hieß nun Kino. "Sinematograf". Euphorisch notierte der Schriftsteller Aleksandr Serafimowitsch.
"Werfen Sie einen Blick in den Zuschauersaal. Die Zusammensetzung des Publikums wird Sie erstaunen: hier sind sie alle – Studenten und Gendarmen, Schriftsteller und Prostituierte, Offiziere und Kursistinnen, jedwede Art von Intelligenzlern, mit Brille und Bart, aber auch Arbeiter, Vorarbeiter, Händler, Damen von Welt, Modistinnen, Beamte – mit einem Wort: alle."
Kinos öffneten am frühen Nachmittag bis Mitternacht. Ihr Programm wechselte zweimal wöchentlich. Und obwohl die Filmhäuser überwiegend Kitschproduktionen zeigten, setzten sich manche Avantgardisten enthusiastisch mit dem neuen Medium auseinander.
Der Maler Michail Larionow verfasste gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin, der Malerin Natalija Gontscharowa, das Drehbuch "Drama im Futuristenkabarett Nr. 13". Sie entwarfen die Kulissen und spielten die Hauptrollen. Schon im Januar 1914 fand in Moskau die Premiere statt.
Andere Künstler suchten ebenfalls nach neuen Betätigungsfeldern. Kasimir Malewitsch beispielsweise entwarf das Bühnenbild und die Kostüme zur Oper "Sieg über die Sonne". Auf den Vorhang malte er sein erstes schwarzes Quadrat. Dies war die Geburtsstunde des von ihm entdeckten "Suprematismus", der die konstruktive Kunst in Ost und West während der nächsten Jahrzehnte prägen sollte.
"'Zukunft' – das Wort wie die Sache – wurde um 1913 in Kreisen der russischen Intelligenz zu einem ständig wiederkehrenden Topos, der nicht selten mit dem militanten Nachdruck eines Kampfrufs eingesetzt wurde."
Sicher kann man darüber streiten, ob die russische Kulturszene das Jahr 1913 tatsächlich "mehrheitlich" als neue Epoche begrüßte, wie Felix Philipp Ingold überschwänglich in seiner Einleitung schreibt. Stellt er doch an anderer Stelle ebenso fest, dass die Kunstszene Russlands weiterhin von jenen Kräften dominiert wurde, die man gemeinhin dem Realismus beziehungsweise dem Neorealismus zuordnete.
"So wenig wie die künstlerische Avantgarde sich ausschließlich aus politisch 'linken', 'progressiven' oder eben 'revolutionären' Kräften rekrutierte, so wenig ließe sich sagen, die Kunst des Realismus sei damals nur noch in 'rechtskonservativen', 'akademischen', 'großbürgerlichen' und 'höfischen' Kreisen akzeptiert gewesen und gefördert worden."
"Der große Bruch" zeichnet auf knapp 700 Seiten die Geschichte der futuristischen Avantgarde um 1913 nach. Nicht als logische, gradlinige Entwicklung. Sondern als komplizierte Zickzackbewegung.
Das mitunter etwas sperrig, ja umständlich geschriebene Lesebuch erörtert detailliert die unterschiedlichen Kunstströmungen in Malerei, Literatur, Musik und darstellenden Künsten. Ein ebenso umfangreicher Anhang versammelt Chroniken, Programmschriften und Zeitzeugnisse, wie Tagebuchnotizen, Briefe und autobiografische Essays. Es ist großzügig bebildert.
Insgesamt wirkt es eher wie ein Nachschlagewerk oder ein Fachbuch für spezialisierte Kunst- und Geschichtsliebhaber.
"Dieses Phänomen (…) verbindet auf einzigartige Weise Tradition und Innovation, Kontinuität und Explosivität, Niedergang und Aufbruch, Apokalyptik und Zukunftsfreude, und es umfasst außer der künstlerischen Kultur (zu der nun erstmals auch der Film, der moderne Ausdruckstanz, die 'naive' oder 'primitive' Kunst gezählt werden) manche Bereiche der Philosophie, der Psychologie, der Physik, der Mathematik und nicht zuletzt der Alltagstechnologie, die um 1913 mit so bedeutsamen Errungenschaften wie dem Reißverschluss, dem Füllfederhalter, dem Fließband oder dem motorisierten Flugapparat ins Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit trat."
Der Theaterbetrieb steifte die Aura hoher Kunst und mystischer Weihe ab. Schauspieler und Regisseure probierten neue Formen und Orte aus: ambulantes Straßentheater, Schaubuden- und Jahrmarktstheater, Bauerntheater, Zirkus und Varieté - sekundiert von zeitgenössischen Kritikern wie dem namhaften Kulturpublizisten Ajchenwald, der den Untergang des traditionellen Theaters diagnostizierte.
"Für den zeitgenössischen Leser, den Auserwählten der höheren Kultur, wird die Bühne – das 'Spektakel' – immer entbehrlicher. Ja, es fasziniert ihn auch nicht mehr die Illusion, und die Bemühungen des Theaters, seine ausgeklügelten Tricks, zerschlagen sich fatalerweise am verfeinerten Bewusstsein des heutigen Zuschauers."
Das demokratische Theater der Zukunft hieß nun Kino. "Sinematograf". Euphorisch notierte der Schriftsteller Aleksandr Serafimowitsch.
"Werfen Sie einen Blick in den Zuschauersaal. Die Zusammensetzung des Publikums wird Sie erstaunen: hier sind sie alle – Studenten und Gendarmen, Schriftsteller und Prostituierte, Offiziere und Kursistinnen, jedwede Art von Intelligenzlern, mit Brille und Bart, aber auch Arbeiter, Vorarbeiter, Händler, Damen von Welt, Modistinnen, Beamte – mit einem Wort: alle."
Kinos öffneten am frühen Nachmittag bis Mitternacht. Ihr Programm wechselte zweimal wöchentlich. Und obwohl die Filmhäuser überwiegend Kitschproduktionen zeigten, setzten sich manche Avantgardisten enthusiastisch mit dem neuen Medium auseinander.
Der Maler Michail Larionow verfasste gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin, der Malerin Natalija Gontscharowa, das Drehbuch "Drama im Futuristenkabarett Nr. 13". Sie entwarfen die Kulissen und spielten die Hauptrollen. Schon im Januar 1914 fand in Moskau die Premiere statt.
Andere Künstler suchten ebenfalls nach neuen Betätigungsfeldern. Kasimir Malewitsch beispielsweise entwarf das Bühnenbild und die Kostüme zur Oper "Sieg über die Sonne". Auf den Vorhang malte er sein erstes schwarzes Quadrat. Dies war die Geburtsstunde des von ihm entdeckten "Suprematismus", der die konstruktive Kunst in Ost und West während der nächsten Jahrzehnte prägen sollte.
"'Zukunft' – das Wort wie die Sache – wurde um 1913 in Kreisen der russischen Intelligenz zu einem ständig wiederkehrenden Topos, der nicht selten mit dem militanten Nachdruck eines Kampfrufs eingesetzt wurde."
Sicher kann man darüber streiten, ob die russische Kulturszene das Jahr 1913 tatsächlich "mehrheitlich" als neue Epoche begrüßte, wie Felix Philipp Ingold überschwänglich in seiner Einleitung schreibt. Stellt er doch an anderer Stelle ebenso fest, dass die Kunstszene Russlands weiterhin von jenen Kräften dominiert wurde, die man gemeinhin dem Realismus beziehungsweise dem Neorealismus zuordnete.
"So wenig wie die künstlerische Avantgarde sich ausschließlich aus politisch 'linken', 'progressiven' oder eben 'revolutionären' Kräften rekrutierte, so wenig ließe sich sagen, die Kunst des Realismus sei damals nur noch in 'rechtskonservativen', 'akademischen', 'großbürgerlichen' und 'höfischen' Kreisen akzeptiert gewesen und gefördert worden."
"Der große Bruch" zeichnet auf knapp 700 Seiten die Geschichte der futuristischen Avantgarde um 1913 nach. Nicht als logische, gradlinige Entwicklung. Sondern als komplizierte Zickzackbewegung.
Das mitunter etwas sperrig, ja umständlich geschriebene Lesebuch erörtert detailliert die unterschiedlichen Kunstströmungen in Malerei, Literatur, Musik und darstellenden Künsten. Ein ebenso umfangreicher Anhang versammelt Chroniken, Programmschriften und Zeitzeugnisse, wie Tagebuchnotizen, Briefe und autobiografische Essays. Es ist großzügig bebildert.
Insgesamt wirkt es eher wie ein Nachschlagewerk oder ein Fachbuch für spezialisierte Kunst- und Geschichtsliebhaber.
Felix Philipp Ingold: Der große Bruch
Russland im Epochenjahr 1913. Kultur, Gesellschaft, Politik
Matthes und Seitz Verlag, Berlin 2013
645 Seiten, 49,90 Euro
Russland im Epochenjahr 1913. Kultur, Gesellschaft, Politik
Matthes und Seitz Verlag, Berlin 2013
645 Seiten, 49,90 Euro