Gunter Gebauer, Sven Rücker: "Vom Sog der Massen"
Verlag DVA, München 2019
352 Seiten, 22 Euro
Massenweise Individualisten
Hat die Macht der Masse im Zeitalter des Individualismus ausgedient? Die Philosophen Gunter Gebauer und Sven Rücker zeigen in ihrem Buch an Beispielen aus Sport, Kultur und Politik, wer heute den Ton angibt: eine Masse von Individualisten.
Massenbewegung, Massenmedium, Massenrhetorik: Die Begriffe scheinen vom Staub längst vergangener Epochen bedeckt – und wirklich beruhen die klassischen Massentheorien der Soziologie auf den Beobachtungen etwa der Französischen Revolution, der Arbeiterbewegung oder denen einer Zeit, in der ein neu entdeckter Massenkonsum zum zentralen Motiv ganzer Kulturen aufstieg. Heute dagegen konstatieren der Philosoph, Literatur- und Sportwissenschaftler Gunter Gebauer und sein Kollege Sven Rücker: "Wir leben in einer Gesellschaft der Individuen." Sind Massengeschmack, Massentourismus oder Massenhysterie also nur noch Reminiszenzen an ein eigentlich überholtes Menschenbild?
Ein Erklärungsmodell wird rehabilitiert
Oh nein, sagen die Forscher und laden ihr Publikum ein zu einer semantischen Entdeckungsreise. Sie lösen den Begriff der Masse aus dem Korsett der alten Ideologien, betten ihn in neue Zusammenhänge – und rehabilitieren ihn damit als Erklärungsmodell für sehr aktuelle Phänomene gesellschaftlichen Wandels:
"Einige der bedeutenden Massenproteste des letzten Jahrzehnts ... wurden von Ultrabewegungen aus dem Fußball mitgetragen, wenn nicht sogar angeführt. Die Ultras von Beşiktaş Istanbul, die Çarşi, leiteten den Widerstand im Gezi-Park, dem sich anfangs ein paar Tausend Menschen angeschlossen hatten und dem am Ende über 100.000 Teilnehmer folgten. ... Am ersten Tag der Revolte (in Kairo) kämpften die Ultras (des Fußballvereins) Al-Ahly die Brücken über den Nil frei, durchbrachen Polizeiketten, sodass die Demonstranten zum zentralen Tahrir-Platz ziehen konnten, wo traditionell auch die großen Fußballsiege gefeiert wurden."
Wer sich wie Gunter Gebauer darauf versteht, als Sportsoziologe die komplexen Wechselwirkungen zu analysieren zwischen individueller Leistung und massenhafter Gefolgschaft – der muss einen Sinn haben für das Narrativ des alltäglichen Miteinanders, für seine Tragik, bisweilen auch seine Ironie.
Die Macht der anonymen Massen
Gut für die Leser, denn die Autoren können erzählen. Und wenn schon der Philosoph Peter Sloterdijk von einer Diversifikation des Begriffs gesprochen hatte, von "bunten" oder gar "molekularen Massen", also von kleinen und kleinsten Gruppen, die in ihrem Wesen und ihren Reaktionen dem klassischen Begriff der Masse als geschlossene Einheit, als Kollektivsubjekt, verblüffend nahe kommen – Gebauer und Rücker liefern die Belege aus der politischen Gegenwart. Von den unsichtbaren Massen im Internet und den Mobilisierungsritualen des Populismus. Von Werbung, Film und Popkultur, dem Paradox eines Massentourismus, der zerstört, was er begehrt, bis zur massenhaften Verzückung im Angesicht eines Heiligen Vaters, der doch ein ganz realer Mensch ist.
"Als der Papst im Papamobil an den Gläubigen vorüberfuhr, drückten Ordensschwestern im Publikum auf die Auslöser ihrer Handys, und anstelle irgendeiner bekannten religiösen Geste wendeten sie sich begeistert dem Bild auf dem Display zu – noch während der Papst sich leibhaftig vor ihnen bewegte. Die libidinöse Beziehung, die nach Freud in der Masse zwischen Anhängern und Führern besteht, drückte sich hier in der Relation von Fotografieren und Fotografiertwerden aus."
Nur wer die Massen versteht, kann sich vor ihnen schützen
Sigmund Freud und Roland Barthes sind die Zeugen der Autoren, Le Bon, Hitchcock und Ortega y Gasset, David Riesman, Fritz Lang und Andy Warhol: Die Vielzahl ist nötig, weil die neuen Massen vielfältig sind, bisweilen flüchtig wie ein Flashmob, sichtbar und bedrohlich – oder auch verborgen in virtuellen Räumen. Weil jeder davon ergriffen werden und im Prinzip auch jeder sie in Bewegung setzen kann.
"Das Sichunterscheiden macht heute das Gesellschaftliche aus. Es hält die Gesellschaft zusammen, insofern die Einzelnen die anderen brauchen, um sich zu unterscheiden. Was die einzelnen miteinander verbindet und zu einer neuen Masse macht, ist die gegenseitige Anerkennung ihres Strebens nach Einzigartigkeit."
Eine Gesellschaft der Individuen und die Dynamik der Massen? Für Gunter Gebauer und Sven Rücker besteht da kein Widerspruch. Im Gegenteil: Ihre umfangreiche Sammlung an Phänomenen aus dem Spannungsfeld zwischen Mobilisierung und kritischer Distanz ist so etwas wie die Ehrenrettung eines Begriffs, der zur Beschreibung und Erklärung von Wirklichkeit noch lange nicht ausgedient hat – auch wenn die neuen Massen molekular sein, ihre Gemeinschaft von oft nur kurzer Dauer und ihre Orte im Halbdunkel eines Chatrooms der Social Media liegen mögen. Denn nur, wer diese Massen und ihre Dynamik analysiert hat, wer sie kennt, der kann sie steuern, sich frei in ihnen bewegen – oder auch sich vor ihnen schützen.