Roman „Wir sehen uns im August“
Erhielt 1982 den Literaturnobelpreis: der kolumbianische Schriftsteller und Journalist Gabriel García Márquez. © picture alliance / AP / Hamilton
Der wirklich letzte Márquez
05:39 Minuten
Zehn Jahre nach dem Tod des Literaturnobelpreisträgers Gabriel García Márquez erscheint dessen letzter Roman, unvollendet. Seine Söhne hatten beschlossen, das Buch zu veröffentlichen. War das die richtige Entscheidung?
Unvollendet ist das richtige Wort. Nicht unfertig oder unvollständig ist der nachgelassene Roman des karibischen Großmeisters. „Wir sehen uns im August“ existierte in mindestens fünf Versionen. Doch es hat nie das Niveau und die Geschlossenheit erreicht, die García Márquez vorschwebten. Deshalb verwarf er es endgültig. Denn er wusste, er würde es nicht mehr besser machen können. Er hatte mit seiner Krankheit um dieses letzte Buch gekämpft – und verloren.
Seine Söhne entschlossen sich, den unvollendeten Roman dennoch zu publizieren – mit dem teuflischen Argument, die Krankheit, die ihn am Schreiben hinderte, habe auch sein Urteilsvermögen getrübt.
Großartiger Handlungsentwurf
Die Lektüre des nun von Cristóbal Pera, Márquez bewährtem Lektor, bearbeiteten und herausgegebenen Prosawerks zeugt allerdings davon, dass "Gabo" trotz Demenz eine sehr nachvollziehbare Entscheidung getroffen hatte.
Großartig ist die Idee der Geschichte: Eine Frau von 46 Jahren, Mutter von zwei erwachsenen Kindern, glücklich verheiratet seit 27 Jahren, fährt seit Jahren am 16. August auf eine Insel nahe der Stadt, in der sie lebt, um Blumen auf das Grab ihrer Mutter zu legen.
Sie heißt Ana Magdalena Bach, denn sie stammt aus einer Musikerfamilie, wobei der Name in der Geschichte eigentlich keine Rolle spielt. Vielleicht war es anders geplant, wer weiß.
Am Abend macht sie ganz zufällig eine Männerbekanntschaft. Man unterhält sich gut, und schließlich schleppt sie ihn ab. Warum sie das tut, gibt die Erzählung nicht preis. Sie gibt vieles nicht preis. Es folgen verschiedene Liebhaber, jedes Jahr ein anderer in der Nacht vom 16. zum 17. August auf der Insel. Es sind interessante Figuren dabei, vom Heiratsschwindler bis zum Bischof.
Hinreißende Metaphern
Die Metaphern, die García Márquez für den Zustand des Meeres, das – selbstverständlich extreme – Wetter und seine Figuren findet, sind manchmal so hinreißend in ihrer Lakonie und ihrer Frische, wie man es von ihm gewohnt ist. Und die unnachahmliche Art, wie er in einem einzigen knappen Satz die Schrecken des Tourismus visualisiert, ist bestechend: „Ana Magdalena Bach hatte Jahr für Jahr die Klippen aus Glas wachsen und wuchern sehen, während das Dorf verarmte.“
Auch aus Anas Familienleben, äußerlich unbeeinträchtigt von ihren Eskapaden, schlägt García Márquez Funken – mit oft witzigen Konstellationen und perfekt geformten Sätzen. Aber: Man liest und hat sein Vergnügen, und es geht nicht weiter. Die Bohème-Tochter will Nonne werden, ein schöner Einfall, und es folgt – nichts weiter als die Meldung, alles sei problemlos verlaufen.
Voller Ideen, aber kein Roman
Die Lücken, die sich zwischen solchen mal mehr, mal weniger ausgearbeiteten Einfällen auftun, sind allzu spürbar: Es ist, als blicke man auf eine Karte mit weißen Flecken, auf der sich die komplexe Geografie eines möglichen, vielleicht geplanten Romans nur erahnen lässt.
Es ist eine Freude, noch einmal etwas von García Márquez zu lesen. Aber diese Lektüre macht seine Leserin zur Zeugin einer zunehmenden und endgültigen Unfähigkeit – und das ist schmerzlich.
Gabriel García Márquez: "Wir sehen uns im August"
Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2024
144 Seiten, 23 Euro