Gabriele Winker: "Solidarische Care-Ökonomie - Revolutionäre Realpolitik für Care und Klima"
Transcript, Bielefeld 2021
216 Seiten, 15 Euro
"Mein Ziel ist eine solidarische Gesellschaft"
14:35 Minuten
Sorgearbeit und Klima - bei beiden herrscht Krise: Gabriele Winker denkt diese Bereich zusammen. Für sie liegen die Ursachen der Krisen in der Logik der kapitalistischen Produktionsweise. Darum sollten manche Bereiche vergesellschaftet werden.
Christian Rabhansl: Vor einem Jahr haben wir plötzlich auf den Balkonen gestanden, die Fenster aufgemacht und geklatscht. Wir haben applaudiert für die Menschen, die in den Krankenhäusern Leben retten, die andere pflegen und die sich kümmern – und die dafür oft ziemlich schlecht bezahlt werden. Das hat sich irgendwie gut angefühlt, zumindest für die, die geklatscht haben. Diejenigen in diesen Care-Berufen hätten wahrscheinlich lieber mehr Geld gehabt.
Gabriele Winker ist Sozialwissenschaftlerin und war Professorin für Arbeitswissenschaften in Hamburg. Sie hat die Pandemie genutzt, um ein Buch über den Zustand der Care-Arbeit zu schreiben. Das ist fast ein Manifest geworden. "Solidarische Care-Ökonomie" heißt es. Winker fordert darin eine revolutionäre Realpolitik.
Unbezahlte Care-Arbeit
Wie war das vor einem Jahr, haben Sie gedacht, jetzt tut sich was für diese Menschen?
Gabriele Winker: Ja, ich habe schon gedacht, dass Care mehr ins Zentrum unserer Gesellschaft rückt, und es war auch so. Ich wurde sehr viel angefragt, daran hat sich das gezeigt. Damals wie heute musste ich kurz definieren, was überhaupt Care-Arbeit – oder im Deutschen sagen wir dazu synonym auch Sorgearbeit – bedeutet; dass es ein lebensnotwendiges Element jeder Gesellschaft ist; und dass das auch schon vor Corona so war. Es ist ja so, dass ohne die vielen Menschen, die tagtäglich Kinder erziehen, Angehörige unterstützen oder pflegen und Menschen in Not helfen, unsere und jede Gesellschaft sofort zusammenbrechen würde.
Rabhansl: Da wird schon deutlich: Sie meinen nicht nur die, die in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen arbeiten, sondern auch im privaten Bereich. Können Sie das ganz knapp definieren, was umfasst dieser Begriff Care-Arbeit?
Winker: Unter Sorgearbeit wird sowohl die alltäglich unentlohnt in Familien stattfindende Sorgearbeit verstanden und die im Ehrenamt, also Nachbarschaftshilfe, als auch die Arbeit in den Care-Berufen, etwa die der Pflegekräfte oder auch die der Erzieherinnen.
Das Besondere ist, dass diese Arbeit primär von Frauen geleistet wird. Bei den Care-Beschäftigten sind es etwa 80 Prozent Frauen; auch bei der häuslichen Arbeit werden circa 60 Prozent der anfallenden Arbeitsstunden von Frauen getätigt. Dieser Umfang der Care-Arbeit wird nach wie vor total unterschätzt. Es lässt sich zeigen, dass wenn man all diese Sorgearbeit zusammenrechnet, dann sind zwei Drittel aller Arbeitsstunden in der Bundesrepublik Deutschland Care-Arbeit.
Lage für Heim-Care-Arbeiter verschlechtert
Rabhansl: Sie haben gesagt, vor einem Jahr, als da geklatscht wurde, haben Sie gedacht, ach doch, jetzt könnte sich was tun. Hat sich jetzt, ein Jahr später, etwas getan für diese Menschen?
Winker: Was sich verändert hat, ist, dass diese Pflegekräfte und Ärztinnen – und damit auch andere Care-Berufe – mehr Aufmerksamkeit erhalten haben. Viele Menschen haben gespürt, dass wir wirklich von diesen Berufsgruppen abhängig sind. Für die unentlohnt Arbeitenden hat sich nicht groß etwas verändert. Nein, das ist falsch ausgedrückt, es hat sich teils verschlechtert.
Rabhansl: Wieso?
Winker: Viele Beschäftigte, insbesondere Frauen, müssen individuell eine Ganztagesbetreuung für ihre Kinder realisieren und häufig auch noch im Homeoffice berufstätig sein. Sie sollen also im Moment gleichzeitig Lehrerin, Hauswirtschaftlerin und Trösterin sein. Entsprechend fühlen sich primär Mütter, insbesondere alleinerziehende, noch mehr allein gelassen als in normalen Zeiten.
Unangemessene Arbeitsbedingungen
Rabhansl: Das ist die unentlohnte Arbeit, bei der entlohnten hat sich auch nicht so wahnsinnig viel getan. Das Spannende an Ihren Analysen ist, dass Sie schreiben, das sind strukturelle Probleme. Die, die davon betroffen sind und sich überfordert fühlen, haben aber den Eindruck, das sei ihr ganz persönliches individuelles Problem. Können Sie mir das erklären?
Winker: Die Care-Beschäftigten denken nicht, dass sei ihr individuelles Problem. Die sind einfach der Meinung, dass sie deutlich zu schlecht bezahlt werden. Die Arbeitsbedingungen sind einfach völlig unangemessen, weil überall Personalnotstand herrscht – teilweise, weil gar keine Arbeitskräfte mehr gefunden werden, teilweise aber auch, weil sie einfach nicht eingestellt werden, weil das natürlich Kosten verursacht und unsere Gesellschaft sich das nicht leisten mag.
Rabhansl: Trotzdem schreiben Sie ein ganzes Kapitel über diese Selbstoptimierung als Daueraufgabe. Das wird ja doch als eigenes Problem empfunden.
Winker: Das wird als eigenes Problem empfunden, weil da die unentlohnte Care-Arbeit ins Spiel kommt. Diese familiäre Sorgearbeit wird in der Regel gar nicht als Arbeit bezeichnet. Die Frauen, wie gesagt, 80 Prozent in den Pflegeberufen sind Frauen, haben schon einen sehr anstrengenden Job – mit Überstunden, die können auch keine Grenzen einhalten oder Arbeitszeiten irgendwie wirklich pünktlich aufhören, weil die haben es immer mit Menschen zu tun, die von ihnen abhängig sind – kranke und alte Menschen oder auch Kinder.
Jetzt kommen sie in die sogenannte zweite Schicht hinein, das wird häufig von unserer Gesellschaft überhaupt nicht mehr gesehen. Im Unterschied zu früher, also 60er-, 70er-, auch noch bis in die 1980er-Jahre hinein, war die Sorgearbeit den Hausfrauen zugeordnet. Finanziell waren die Frauen meistens abhängig von dem sogenannten Familienernährer. Das hat sich total gewandelt.
Care-Arbeit und Neoliberalismus
Rabhansl: Das deutlich mehr Frauen heute arbeiten, gilt doch als emanzipatorischer Fortschritt.
Winker: Ja, das ist auch gut, aber man muss verstehen, dass sich das System grundlegend geändert hat. Im Neoliberalismus wird erwartet, dass jede Person, egal welches Geschlecht sie hat, sich um ihre eigene Existenz kümmert. Es ist auch völlig unabhängig davon, wie viel Kinder sie zu betreuen hat oder wie viel pflegende Angehörige sie zu unterstützen hat, jede ist ein Leben lang für ihre eigene Absicherung verantwortlich. Die Frauenerwerbstätigkeit steigt, auch weil Frauen das wünschen. Aber wo sind denn jetzt die Zeitfenster für die unentlohnte Sorgearbeit? Die sind einfach verschwunden.
Rabhansl: Sprechen wir darüber, was Sie vorschlagen: Revolutionäre Realpolitik für Care und Klima, das geht über das, was wir bislang besprochen haben, weit hinaus. Sie denken beides zusammen. Warum gehören die Care-Arbeit und die Klimakrise in Ihren Augen zusammen?
Winker: Zunächst mal sehen wir zwei große Krisen: Sorgearbeitende sind überlastet, wir haben über die Care-Beschäftigen gesprochen, wir haben aber auch – es sind oft die gleichen Menschen – über die familiär Sorgearbeitenden gesprochen. Und es bahnt sich gerade eine Klimakatastrophe an.
Beides kommt aus der inneren Logik der kapitalistischen Produktionsweise, denn Unternehmensentscheidungen sind nun mal so geprägt, einen möglichst hohen Profit zu erzielen. Dies führt einerseits – da bin ich bei Care – zu der Zielsetzung, die Kosten der Arbeitskraft, also die Lohnkosten, aber auch die staatlichen Unterstützungsmaßnahmen möglichst gering zu halten.
Das sehen wir jetzt auch wieder, deswegen gibt es auch keine Lohnerhöhungen für Care-Beschäftigte nach und in der Corona-Zeit. Gleichzeitig verfolgt genau diese Logik auch Wirtschaftswachstum. Um in der Konkurrenz mithalten zu können, ist es für unser Wirtschaftssystem doch notwendig, dass es ein Wachstum gibt. Dieses Wachstum ist dann wieder der wesentliche Grund für die nach wie vor deutlich zu hohen Treibhausgasemissionen.
Mehr Einfluss für Nutzerinnen und Beschäftigte
Rabhansl: Sie argumentieren in Ihrem Buch, um diese Krise zu lösen, müsste das profitorientierte Wirtschaften erst eingeschränkt und dann letztlich komplett überwunden werden, weil im kapitalistischen System diese Probleme nicht zu lösen seien. Geht es nicht eine Nummer kleiner? Wenn wir uns den Care-Bereich angucken, Sie wären nicht die Erste, die fordert, dass zum Beispiel Krankenhäuser nicht profitorientiert sein dürfen, um diese Missstände zu vermeiden. Warum denn gleich das gesamte Wirtschaften nicht mehr profitorientiert zulassen?
Winker: Ich bin jetzt nicht diejenige, die sagt, von heute machen wir einen Sprung in eine andere Gesellschaft. Ich habe eine ganze Menge von Zwischenzielen, die auch in so eine solidarische Care-Ökonomie führen und die durchaus noch im Kapitalismus möglich sind, wo einzelne Bereiche – diejenigen, die ganz wichtig sind, wo menschliche Bedürfnisse im Zentrum stehen – vergesellschaftet werden müssen. Seit wir das seit sieben Jahren mit dem Netzwerk Care Revolution immer wieder propagieren, sehen es inzwischen sehr viele Menschen ein, dass in diesem Bereich Rendite und Profit wirklich nichts zu suchen haben.
Mein Anliegen ist es, das zu übertragen auf die Klimafrage: Es macht keinen Sinn, dass mit Energie oder mit Individualverkehr Profite gemacht werden. Da werden wir aus der Klimakatastrophe nie rauskommen. Wären solche Konzerne vergesellschaftet, ähnlich wie ein Krankenhaus, dann könnten nicht nur die Beschäftigten, sondern auch wir Nutzerinnen deutlich mehr Einfluss gewinnen und mitsprechen.
Rabhansl: Das sind Modelle, die es in der Vergangenheit durchaus gab und die es auch teilweise heute noch gibt, ein gemeinschaftlich organisiertes Gesundheitssystem. Auch Stadtwerke wären ein Beispiel, dass Energieproduktion nicht profitorientiert sein müsste. Aber Sie fordern es wirklich ganz grundsätzlich. Da frage ich mich schon, was denn die Alternative ist? Die planwirtschaftlichen Systeme, die wir erlebt haben, egal ob DDR, Sowjetunion oder China, waren nun wahrlich keine Umweltschutznationen.
Koordinationsproblem im Care-Bereich
Winker: Mein Ziel ist eine solidarische Gesellschaft. Das ist ziemlich weit entfernt von dem, was wir unter sozialistischer Gesellschaft verstanden haben und in der DDR natürlich direkt gesehen haben. Meine Überlegung kommt aus der Care-Arbeit. Die Care-Arbeit ist notwendig für eine Gesellschaft, ein Teil ist entlohnt und ein anderer Teil ist nicht entlohnt. Was ist der Sinn dahinter? Ich habe vorhin mit Absicht gesagt, zwei Drittel der Arbeit machen wir doch schon unentlohnt.
Meine Überlegung ist, dass ich in einer solidarischen Gesellschaft davon ausgehe, dass alle bedürfnisorientiert arbeiten, dass sie das, was sie richtig finden, in die Gesellschaft reintragen, und das, was sie an Bedarfen haben, sich dann entsprechend nehmen können. Einerseits wird von Motivation gesprochen, das ist für mich kein Problem, weil ja zwei Drittel der Arbeit motiviert und unentlohnt ausgeführt wird, ie familiäre und die ehrenamtliche und freiwillige Arbeit. Aber das große Problem ist natürlich die Koordination. Da gibt es schon Ideen, die nicht nur von mir kommen – mit Abstimmungen vor Ort an runden Tischen, wo wir zusammensitzen, Abstimmungen, überregionale, über Räte. Das ist eben bei den Stadtwerken überhaupt noch nicht so.
Rabhansl: Ich habe verstanden, Sie wollen keinesfalls zu einem Kommunismus hin, aber Sie wollen langfristig das profitorientierte Wirtschaften doch abbauen. Sie haben gesagt, es gebe viele kleine Schritte. Können Sie vielleicht einen griffigen ersten Schritt herauspicken, den wir jetzt einschlagen müssten, wenn wir in die Richtung gehen wollen?
Was soll produziert werden?
Winker: Das Erste ist eine drastische Verkürzung der allgemeinen Erwerbsarbeitszeit. Das ist erforderlich, sodass nicht alle Sorgearbeitenden im Stress landen, erschöpft sind und psychisch erkranken, wie es derzeit der Fall ist. Nur so ist es auch möglich, dass überhaupt für alle Beschäftigten genügend Zeit für das Kindererziehen, für Unterstützen anderer, fürs Menschen Helfen da ist. Das ist für mich schon ein sehr wichtiger Schritt.
Ich stelle mir eine Erwerbsarbeitszeitverkürzung vor, wo vor allem die niedrigen Beschäftigtengruppen einen Lohnersatz erhalten. Die eher höher Bezahlten wie in meinem Beruf brauchen den gar nicht, sodass wir mit der Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit auch das Volumen der Erwerbsarbeit insgesamt etwas einschränken, Schritt für Schritt für Schritt immer mehr. Gefordert ist auch – das ist ökologisch total wichtig –, dass wir uns wirklich überlegen, was bitte schön wollen wir produzieren. Wir brauchen natürlich Wohnungen, wir brauchen Energie, wir brauchen ein öffentliches Nah- und Fernsystem. Aber indem ich diese Verkürzungen Schritt für Schritt gehe, gibt es schon Ansätze für ein gutes Leben in einer ökologisch noch tragbaren Umwelt. Das sind dann alles Fragen, wo die Bevölkerung entscheiden kann, was sind wirklich meine Bedarfe.
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