Gäste des Lebens
Der Tod war lange Zeit ein Tabuthema - wie auch der Eintritt ins Leben fand er meist nur in Krankenhäusern statt. Das Thema Sterben kehrt langsam wieder in die Gesellschaft zurück, nicht zuletzt durch Diskussionen um Patientenverfügungen und Sterbehilfe.
Jeden Morgen gegen 10 Uhr verlassen die Assistenzärztin Cornelia Rienäcker und die Krankenschwester Bettina Junge die Universitätsklinik Jena. Die Krankenschwester hat eine Palliativ-Zusatzausbildung: Neben der medizinischen Pflege gehört auch die psychologische und seelsorgerische Begleitung von Schwerstkranken dazu.
Die beiden Frauen kümmern sich täglich um vier bis fünf Menschen, die am Ende ihres Lebens stehen und nun zuhause ärztlich und pflegerisch versorgt werden müssen.
Der erste Patient, den sie besuchen, wurde vor fünf Tagen aus der Klinik entlassen: Der Darmtumor hatte Metastasen gebildet und die Chemotherapie bei dem 66-Jährigen nicht angeschlagen. Jetzt liegt er im Bett, mit eingefallenem Gesicht, blass, mager, kaum ansprechbar. Seine Frau ist plötzlich mit seinem nahenden Tod konfrontiert.
"Er war vorher überhaupt nicht krank, ich darf nicht drüber nachdenken. Es ist eigentlich unmenschlich, zu sehen, wie ein Mensch zerfällt. Aber was soll’s. Es ist der Lauf der Zeit, des Lebens überhaupt. Man muss sich damit auseinandersetzen, aber es ist so schwer zuzugucken. Man kann nichts machen. Irgendwo ist man so hilflos, dass ich überhaupt nicht damit klarkomme."
Keiner denkt gerne ans Sterben. Und doch kommt der Tod täglich, in Altersheimen, Krankenhäusern, auf der Straße, zuhause - mal still und leise, mal gewaltsam und laut. Auch wenn, nach langen Jahren des Stillschweigens, das Sterben als Thema in die Gesellschaft zurückgekehrt ist, so ist es für viele Menschen immer noch ein Tabu, über Krankheit und Tod zu sprechen. Denn damit ist vieles verbunden, was in unserer leistungsorientierten Gesellschaft keinen Raum haben darf: Schwäche, Abhängigkeit von anderen, Schmerzen. Mit dem Prozess des Sterbens und dem Tod sind die wenigsten vertraut. Den ersten Toten sehen die meisten erst in fortgeschrittenem Alter.
Vor zwei, drei Generationen war das noch anders, erinnert sich Erhard Weiher, Seelsorger aus Mainz und Buchautor. Was er über seine Großeltern erzählt, ist heute kaum noch vorstellbar: einerseits die klare Vorstellung eines Lebens nach dem Tod, andererseits eine zum Leben dazugehörende Vorbereitung auf den Tod.
"Mein Großvater ist, das war vor 50, 60 Jahren inzwischen, der ist mitten im Sterbekoma aufgewacht und hat gesagt: ‘Ach, ich hab geglaubt, ich wäre schon drüben. Jetzt bin ja doch noch mal hier.’ Und diese Ideenwelt war ganz tief im Menschen verankert. Meine Großmutter hat mich einmal abends ans Bett gerufen, ich möge ihr doch ein Taschentuch aus dem Schrank holen. Ich hab dabei ein ganz langes, weißes Stück Stoff herausgezogen. Und da hat sie gesagt: ‘Ach, leg’ s wieder zusammen, das ist mein Totenhemd.’ Das gibt es heute nicht mehr. Also, wir hatten diese Art von Kultur, in die der Mensch hinein genommen war, die musste man sich nicht aneignen, da ist man hineingewachsen, die haben wir heute nicht mehr, und von daher müssen wir das neu lernen."
Denn irgendwann müssen wir alle durch das Tor, das wir Tod nennen. Was sich dahinter verbirgt, übersteigt unser Vorstellungsvermögen. Was passiert, wenn ich diese Welt verlasse? Komme ich in den Himmel? In die Hölle? - das fragten sich die Menschen im Mittelalter voller Angst.
In unserer Gesellschaft hingegen fürchtet man sich mehr vor dem Prozess des Sterbens selbst. Schreckensvorstellung: Dement im Pflegeheim einsam und entmündigt vor sich hinzusiechen. Oder: in Kliniken künstlich an Apparaten an einem Leben zu hängen, das nicht mehr lebenswert erscheint. Manche lassen es erst gar nicht so weit kommen, sondern bestimmen ihr Ende selbst und lehnen lebensverlängernde Maßnahmen ab. Sterbehilfe und Patientenverfügung sind die Stichworte, sagt Andreas Heller. Er leitet den Lehrstuhl für Palliative Care und Organisationsethik an den Universitäten Klagenfurt, Graz und Wien. Die interdisziplinäre Einrichtung ist in Europa einmalig. Der Schwerpunkt der Arbeit: eine Kultur der Hospiz- und Palliativversorgung in das gesamte Gesundheitssystem zu integrieren. Und das ist gar nicht so einfach.
"Die moderne Gesellschaft, die den Menschen leistungsorientiert und selbstbestimmt sieht und in einer hohen Flexibilität, mutet uns eigentlich allen zu, dass wir nicht nur unser Leben gestalten, sondern auch das Sterben gestalten, bis hin in die Patientenverfügung, die uns vor die Zumutung stellt, Situationen vorwegzunehmen, die man sich nicht vorstellen kann. Und unterschätzt dort völlig die Notwendigkeit menschlichen Lebens in den Brüchen, in den Erschütterungen der eigenen Biografie auf Beziehungen zu anderen, die für mich Sorge tragen, die Sorgen für mich übernehmen. Wir diskutieren menschenwürdiges Sterben unter anderem sehr stark unter diesem Beziehungsaspekt. Natürlich ist notwendig eine gute medizinisch-pflegerische Versorgung einerseits, und auf der anderen Seite hat der Soziologe Norbert Elias sehr schön gesagt: Das Problem der Moderne ist die Einsamkeit des Sterbens und der Sterbenden."
In einer Welt, in der mehr und mehr Singles leben, nimmt die Einsamkeit zu. Wer wird sich um sie kümmern, wenn es keine Familie gibt? Wer kann sie auf dem letzten Weg begleiten? Wird die Zahl der Pflegeheime und Palliativstationen zunehmen? An der Universitätsklinik Jena wurde ein solche im vergangenen Jahr neu eröffnet. Ulrich Wedding leitet sie.
"Ich denke, wir müssen Angehörige weniger dann als familiär-biologisch definiert sehen, sondern Angehörige sind dann auch Freunde, sind ein Bekanntenkreis, sind ein soziales Umfeld. Ich denke, die Entwicklung geht dahin, dass die Einbindung in die Familie weniger relevant ist, aber der Freundeskreis immer mehr Bedeutung gewinnt, und das ist Aufgabe schon zu aktiven Zeiten, ein soziales Netzwerk zu haben, das möglicherweise in solchen Situationen auch tragen kann."
Eine große Herausforderung rollt auf die Gesellschaft zu. Da ist es erfreulich, dass inzwischen mehr Gelder für die Einrichtung von Palliativstationen bereitgestellt werden und dass in der Medizinerausbildung der Umgang mit dem Sterben thematisiert wird. Auch das Pflegepersonal ist sensibilisierter, wie der Mainzer Seelsorger Erhard Weiher beobachtet hat.
"Es stirbt heute keiner mehr im Badezimmer oder in der Abstellkammer der Klinik. Das gibt es nicht mehr. Das Personal weiß ganz genau, dass es hier um etwas ganz Großes, Würdiges geht. Und die Pflegekräfte sagen heute in einem Krankenhaus, wenn jemand verstorben ist zu den Angehörigen: Sie haben Zeit, nehmen Sie sich Zeit. Das war vor zehn Jahren nicht denkbar. Auch das müssen wir sehen, dass sich etwas gewandelt hat."
Bettina Jungen und Cornelia Rienäcker vom ambulanten Palliativteam sind auf dem Weg zum nächsten Patienten: ein ausgemergelter Mann im Trainingsanzug, gezeichnet von seiner Krankheit, freundlich und zugewandt.
"Ich habe CLL, chronisch-lymphatische Leukämie. Ich habe die schon zwölf Jahre lang, die Krankheit, die ist nicht heilbar, aber man kann es eben rausziehen. Richtige Schmerzen und so habe ich eigentlich während der Krankheit kaum kennengelernt. Die letzte Zeit bin ich öfter in der Klinik wie am Anfang der Krankheit, aber es geht eben noch."
Er freut sich, dass er nach so langer Krankheit noch laufen kann, hin und wieder Mofa fahren und sich tagsüber, wenn seine Frau arbeitet, selbst versorgen kann. Aber der Tod ist in seinem Leben allgegenwärtig. Ob er sich vorstellen kann, dass danach noch etwas kommt?
"Ich glaube eher nicht. Ja vielleicht zwei, drei Moleküle, dass die dann mal übrig bleiben von mir, dass die in einem anderen, in einem Maikäfer vielleicht rumfliegen, das kann schon möglich sein. Aber so kompakt nicht."
Der Prozess, das Sterben anzunehmen, beginnt mitten im Leben. Der mongolische Schamane und deutschsprachige Schriftsteller Galsan Tschinag schreibt dazu:
"Wenn wir schmerzarm und angstfrei sterben können und nicht peinvoll sterben müssen, kommen wir am Ende zu der Einstellung, sterben zu dürfen. Wir werden würdig sterben. Man muss glauben, man muss an die Güte der Natur, der Dinge, des Himmels glauben. Und immer hoffen. Man muss zum All, zum Universum gut sein. An das Gute glauben und zu allem, was es auch sei, Ja sagen. Nicht zagen. Ja sagen immer, wenn es auch der Tod ist. Also nicht vor dem Tod flüchten – das ist Unsinn, wir können nirgendwohin flüchten. Alle Ecken sind abgesperrt. Dem Tod entgegengehen, dann hat man weniger Schmerzen. Aber dann, wenn es sein muss, schnell entgegengehen."
Dem Tod schnell entgegenzugehen - das wird oft verhindert und führt dazu, dass für viele Menschen der Sterbeprozess voller Mühen ist: weniger Schmerzen einerseits, langes Siechtum andererseits. Ulrich Wedding, der die Palliativstation der Universitätsklinik Jena leitet, meint, der gute Tod sei ein Mythos.
"Oft gelingt es, Beschwerden zu nehmen und einen sanfteren Tod zu erzielen, aber immer wieder erleben wir auch hier trotz aller Möglichkeiten und Maßnahmen, die wir versuchen einzuleiten, dass das Sterben belastend, anstrengend, mit Beschwerden verbunden sein kann für die Patienten, für die Angehörigen und auch für die Betreuenden. Auch mit allen Maßnahmen der Palliativmedizin werden wir nicht erreichen, dass es immer einen sanften und guten Tod gibt."
Um einen guten, begleiteten Tod bemühen sich auch Mitarbeiter in Hospizen. Die Hospizidee stammt aus dem Mittelalter: Damals dienten Hospize Pilgern auf ihren Reisen als Herberge. Auch Kranke wurden dort gepflegt. Nach diesem Vorbild wollen die neuen Hospize nun Herbergen für sterbenskranke Menschen sein. Als ihre Begründerin gilt Lady Cicily Saunders. Weil sie aktive Sterbehilfe strikt ablehnte, gründete sie in den 1960er-Jahren in England ein Haus, in dem sie die letzten Tage eines Menschen möglichst angenehm gestalten wollte – im Sinne christlicher Nächstenliebe. Ihre Idee ging um die Welt. Der englischen Ärztin ist im Wesentlichen die Entwicklung der Palliativmedizin und der Hospize zu verdanken, sagt Andreas Heller, Leiter des Lehrstuhls für Palliative Care und Organisationsethik.
"Die Begründerin der modernen Hospizbewegung, Cicily Saunders, hat das ja auch einmal als Antwort auf die Frage: Muss man ein Christ sein, um in der Hospizarbeit tätig sein zu können? gesagt: Man muss so etwas haben wie eine philosophische, spirituelle Basis. Man muss jemanden haben, zu dem man gehen kann, wenn man verzweifelt ist. Und ich finde, diese beiden Bedingungen, ein spirituelles, religiöses Gedankengebäude, eine religiöse Orientierung zu haben einerseits und andererseits sie einzubinden in menschliche Beziehungen, ist nach wie vor eine hohe Qualität, auch eine hohe spirituelle Qualität in dieser Arbeit."
Vielleicht hat derjenige weniger Angst vorm Sterben, der als Schwerkranker um eine gute palliativmedizinische Versorgung weiß.
Die Patientin in Zimmer sieben auf der Palliativstation in Jena fühlt sich dort jedenfalls besser umsorgt als zuhause. Ihr Zimmer ist in hellen, warmen Farbtönen gestrichen. Eine Glastür geht hinaus auf eine hölzerne Terrasse, von dort schweift der Blick über einen sanft geschwungen grünen Hügel. Wie früher Babys im Bettchen an die frische Luft geschoben worden seien, so würden jetzt die Leidenden auf die Terrasse gerollt, erzählt die Sechzigjährige.
"Man sagt ja, die Hoffnung ist das Letzte, was stirbt, daran halte ich mich. Ich denke, das wird schon in Ordnung gehen. Manchmal ist man schon hoffnungslos, da ist man depressiv, da weiß man nicht mehr. Wenn man so starke Schmerzen hat und weiß nicht, was hinten und vorne ist, da möchte man mit niemandem reden, da möchte man einfach seine Ruhe haben. Und das hatte ich in letzter Zeit nicht mehr, seitdem ich hier bin überhaupt nicht und ich denke, das verliert sich bestimmt auch."
Die Patientin leidet an Eierstock- und Darmkrebs. Die frühere Krankenschwester verdrängt, wie schwer ihre Erkrankung bereits fortgeschritten ist. Nur wenige Tage nach dem Interview ist sie gestorben.
"Ich bin nicht gläubig, aber ich denke, wer Glauben hat, dem geht es besser. Meine Meinung, ne Erziehungsfrage. Ich weiß es nicht. Die haben bestimmt einen Halt, die wissen, was sie tun, ich habe es nicht."
Die Schwerstkranke, die zwei Zimmer weiter liegt, fühlt sich hingegen in ein großes Ganzes eingebettet.
"Ich denke, gerade wenn man Christ ist, ist man schon gläubig bis zur letzten Minute. Man klammert sich schon daran, dass man irgendwie etwas von sich wiederfindet, manche Erinnerungen, die sind doch auch was wert. Ist schon in Ordnung, man möchte ja nicht mutterseelenallein irgendwo da rumirren."
Sie ist Mitte fünfzig, die Haut ist eingefallen, die Knochen treten hervor. Vor einigen Tagen wurde sie auf die Palliativstation verlegt, ihr Mann kann dort mitwohnen, die Tochter kommt täglich zu Besuch. Sie erzählt, dass ihre Mutter sich hier geborgen fühle.
"Auf der Station, wo die Mama vorher war, die waren auch total engagiert, die Ärzte haben alles versucht, aber da kommen halt Ärzte rein, die knallen einem irgendwelche medizinischen Fachbegriffe vor, wo man so dasteht, so bummbummbumm. Und hier ist es halt viel ganzheitlicher, wo es um die Mama als Mensch geht, das hat viel zu tun mit Würde."
Für viele Menschen verbinden sich mit einem würdevollen Sterben folgende Vorstellungen: Sie möchten bei möglichst klarem Bewusstsein in die Familie integriert und zu Hause sein. Sie hoffen, dass sie das eigene Leben noch mal reflektieren und Beziehungen klären können. Sie wünschen keine künstlich lebensverlängernden Maßnahmen, aber ausreichende Schmerzbehandlung.
Religion, der Glaube an ein Leben nach dem Tod spielen dabei eine untergeordnete Rolle. Christliches Gedankengut ist hierzulande von einem Bündel an spirituellen Richtungen abgelöst worden. Dahinter steht die Sehnsucht nach einem Geheimnis hinter dem im Jetzt verhafteten Dasein.
Im Umfeld des Sterbens spielt der inzwischen überstrapazierte Begriff der Spiritualität eine große Rolle: Woher komme ich? Wohin gehe ich? In allen Kulturen ringen Menschen um Antworten auf die fundamentale Frage, was Leben und Tod bedeuten und wie die Vorbereitung auf das Sterben gelingen kann. Erhard Weiher, Seelsorger aus Mainz, hat damit täglich zu tun.
"Was ich erlebe, ist der Wunsch, gut aufgehoben zu sein, also nicht, wird es im Himmel ein neues Leben geben, sondern werd ich auch im Tod und nach dem Tod gut aufgehoben sein? Das scheint sich mir mehr als Frage in der heutigen Zeit zu entwickeln, als die Frage: Gibt es ein explizites Leben nach dem Tod, werd ich da moralisch zur Verantwortung gezogen oder nicht. Das scheint mir sekundär geworden sein."
Spiritualität ist Weg und Ergebnis eines lebenslangen Prozesses, der nicht erst im Angesicht von Krankheit und Sterben beginnt. Sie gehört zur menschlichen Grundausstattung. Jeder, so Erhard Weiher, habe einen "inneren Geist" – spiritus –, aus dem heraus er sein Leben entwerfe und gestalte. Damit habe der Mensch spirituelle Ressourcen, die auch bei Krankheit und Sterben aktiviert werden können.
"In meinem Beruf geht es darum, mit Patienten das zu erkunden, was wesentlich war in ihrem Leben und was sie sozusagen auf den Altar des Lebens legen können. Das sind meistens ganz kleine, alltägliche Dinge, die aber, weil sie in diesem Leben verwirklicht worden sind, eine ganz große Bedeutung haben. Und das gilt dann in den Augen des Seelsorgers und den Augen des Mannes der Kirche, ich steh ja für das Heilige, das gilt dem Heiligen anvertraut, das gilt der heiligen Sphäre gesagt, in der man hofft, dass sie von dort her gewürdigt wird, obwohl es ganz kleine alltägliche, banale Dinge sind. Erzählungen vom Hund, von den Enkeln. Da liegt das Glück der Menschen drin, darin haben sie etwas vom großen Heiligen erfahren."
Bettina Jungen und Cornelia Rienäcker vom ambulanten Palliativteam sind einmal quer durch Jena gefahren, um Kranke zu besuchen.
"Manchmal fahren wir auch hin, wenn medizinisch gar nichts Wichtiges ist, sondern weil wir merken, die Angehörigen sind massivst überlastet und überfordert. Die Angehörigen brauchen häufig diese Sicherheit, dass es in Ordnung ist, so wie zu Hause ist, dass es auch in Ordnung ist, wenn der Angehörige zuhause stirbt. Und dann sind die schon beruhigt und es kann weiter gehen."
Es geht hinauf auf einen der Berge, die Jena umgeben. Ein schmaler, holpriger Weg führt zu einem Haus mit schönem Gartengrundstück.
"Jetzt fahren wir zu einem Patienten, der letzte Nacht verstorben ist, um noch mal kurz mit der Angehörigen zu sprechen, wie es für sie war, ob alles in Ordnung war, wie es ihr jetzt geht."
Die Frau des Verstorbenen wartet schon am Gartentor. Sie umarmt die Schwester und die Ärztin, schluchzt, die Stimme versagt ihr. Dann gehen alle ins Haus und setzen sich an den Küchentisch. Der Verstorbene war schwer an Krebs erkrankt, in der Klinik konnte ihm nicht mehr geholfen werden. In der Nacht ist er gestorben und gleich in den frühen Morgenstunden abgeholt worden. Seine Frau hat ihn auf seinem letzten Weg ein Stück begleitet. Es war schwer, sagt sie. Einem Menschen beim Sterben beizustehen, bedeutet, ihn im "Loslassen" zu unterstützen. Abschied zu nehmen heißt, den anderen gehen lassen zu können. Auch das gehört zu einem würdevollen Sterben dazu.
Zum Thema - Buchhinweis:
"Und was mach ich, wenn ich tot bin? Eine Entdeckungsreise ins Leben danach" heißt eine Sammlung von Texten, in denen 50 Menschen Auskunft geben, wie sie sich das nach dem Tod vorstellen – und dabei viel über das Leben erzählen. Darunter so bekannte Namen wie Margot Käßmann, Eugen Drewermann oder Juli Zeh.
Das Buch wurde herausgegeben von Claudia Toll und Iris Schürmann-Mock, ist erschienen bei Pendo, hat 272 Seiten und kostet 16,95.
Die beiden Frauen kümmern sich täglich um vier bis fünf Menschen, die am Ende ihres Lebens stehen und nun zuhause ärztlich und pflegerisch versorgt werden müssen.
Der erste Patient, den sie besuchen, wurde vor fünf Tagen aus der Klinik entlassen: Der Darmtumor hatte Metastasen gebildet und die Chemotherapie bei dem 66-Jährigen nicht angeschlagen. Jetzt liegt er im Bett, mit eingefallenem Gesicht, blass, mager, kaum ansprechbar. Seine Frau ist plötzlich mit seinem nahenden Tod konfrontiert.
"Er war vorher überhaupt nicht krank, ich darf nicht drüber nachdenken. Es ist eigentlich unmenschlich, zu sehen, wie ein Mensch zerfällt. Aber was soll’s. Es ist der Lauf der Zeit, des Lebens überhaupt. Man muss sich damit auseinandersetzen, aber es ist so schwer zuzugucken. Man kann nichts machen. Irgendwo ist man so hilflos, dass ich überhaupt nicht damit klarkomme."
Keiner denkt gerne ans Sterben. Und doch kommt der Tod täglich, in Altersheimen, Krankenhäusern, auf der Straße, zuhause - mal still und leise, mal gewaltsam und laut. Auch wenn, nach langen Jahren des Stillschweigens, das Sterben als Thema in die Gesellschaft zurückgekehrt ist, so ist es für viele Menschen immer noch ein Tabu, über Krankheit und Tod zu sprechen. Denn damit ist vieles verbunden, was in unserer leistungsorientierten Gesellschaft keinen Raum haben darf: Schwäche, Abhängigkeit von anderen, Schmerzen. Mit dem Prozess des Sterbens und dem Tod sind die wenigsten vertraut. Den ersten Toten sehen die meisten erst in fortgeschrittenem Alter.
Vor zwei, drei Generationen war das noch anders, erinnert sich Erhard Weiher, Seelsorger aus Mainz und Buchautor. Was er über seine Großeltern erzählt, ist heute kaum noch vorstellbar: einerseits die klare Vorstellung eines Lebens nach dem Tod, andererseits eine zum Leben dazugehörende Vorbereitung auf den Tod.
"Mein Großvater ist, das war vor 50, 60 Jahren inzwischen, der ist mitten im Sterbekoma aufgewacht und hat gesagt: ‘Ach, ich hab geglaubt, ich wäre schon drüben. Jetzt bin ja doch noch mal hier.’ Und diese Ideenwelt war ganz tief im Menschen verankert. Meine Großmutter hat mich einmal abends ans Bett gerufen, ich möge ihr doch ein Taschentuch aus dem Schrank holen. Ich hab dabei ein ganz langes, weißes Stück Stoff herausgezogen. Und da hat sie gesagt: ‘Ach, leg’ s wieder zusammen, das ist mein Totenhemd.’ Das gibt es heute nicht mehr. Also, wir hatten diese Art von Kultur, in die der Mensch hinein genommen war, die musste man sich nicht aneignen, da ist man hineingewachsen, die haben wir heute nicht mehr, und von daher müssen wir das neu lernen."
Denn irgendwann müssen wir alle durch das Tor, das wir Tod nennen. Was sich dahinter verbirgt, übersteigt unser Vorstellungsvermögen. Was passiert, wenn ich diese Welt verlasse? Komme ich in den Himmel? In die Hölle? - das fragten sich die Menschen im Mittelalter voller Angst.
In unserer Gesellschaft hingegen fürchtet man sich mehr vor dem Prozess des Sterbens selbst. Schreckensvorstellung: Dement im Pflegeheim einsam und entmündigt vor sich hinzusiechen. Oder: in Kliniken künstlich an Apparaten an einem Leben zu hängen, das nicht mehr lebenswert erscheint. Manche lassen es erst gar nicht so weit kommen, sondern bestimmen ihr Ende selbst und lehnen lebensverlängernde Maßnahmen ab. Sterbehilfe und Patientenverfügung sind die Stichworte, sagt Andreas Heller. Er leitet den Lehrstuhl für Palliative Care und Organisationsethik an den Universitäten Klagenfurt, Graz und Wien. Die interdisziplinäre Einrichtung ist in Europa einmalig. Der Schwerpunkt der Arbeit: eine Kultur der Hospiz- und Palliativversorgung in das gesamte Gesundheitssystem zu integrieren. Und das ist gar nicht so einfach.
"Die moderne Gesellschaft, die den Menschen leistungsorientiert und selbstbestimmt sieht und in einer hohen Flexibilität, mutet uns eigentlich allen zu, dass wir nicht nur unser Leben gestalten, sondern auch das Sterben gestalten, bis hin in die Patientenverfügung, die uns vor die Zumutung stellt, Situationen vorwegzunehmen, die man sich nicht vorstellen kann. Und unterschätzt dort völlig die Notwendigkeit menschlichen Lebens in den Brüchen, in den Erschütterungen der eigenen Biografie auf Beziehungen zu anderen, die für mich Sorge tragen, die Sorgen für mich übernehmen. Wir diskutieren menschenwürdiges Sterben unter anderem sehr stark unter diesem Beziehungsaspekt. Natürlich ist notwendig eine gute medizinisch-pflegerische Versorgung einerseits, und auf der anderen Seite hat der Soziologe Norbert Elias sehr schön gesagt: Das Problem der Moderne ist die Einsamkeit des Sterbens und der Sterbenden."
In einer Welt, in der mehr und mehr Singles leben, nimmt die Einsamkeit zu. Wer wird sich um sie kümmern, wenn es keine Familie gibt? Wer kann sie auf dem letzten Weg begleiten? Wird die Zahl der Pflegeheime und Palliativstationen zunehmen? An der Universitätsklinik Jena wurde ein solche im vergangenen Jahr neu eröffnet. Ulrich Wedding leitet sie.
"Ich denke, wir müssen Angehörige weniger dann als familiär-biologisch definiert sehen, sondern Angehörige sind dann auch Freunde, sind ein Bekanntenkreis, sind ein soziales Umfeld. Ich denke, die Entwicklung geht dahin, dass die Einbindung in die Familie weniger relevant ist, aber der Freundeskreis immer mehr Bedeutung gewinnt, und das ist Aufgabe schon zu aktiven Zeiten, ein soziales Netzwerk zu haben, das möglicherweise in solchen Situationen auch tragen kann."
Eine große Herausforderung rollt auf die Gesellschaft zu. Da ist es erfreulich, dass inzwischen mehr Gelder für die Einrichtung von Palliativstationen bereitgestellt werden und dass in der Medizinerausbildung der Umgang mit dem Sterben thematisiert wird. Auch das Pflegepersonal ist sensibilisierter, wie der Mainzer Seelsorger Erhard Weiher beobachtet hat.
"Es stirbt heute keiner mehr im Badezimmer oder in der Abstellkammer der Klinik. Das gibt es nicht mehr. Das Personal weiß ganz genau, dass es hier um etwas ganz Großes, Würdiges geht. Und die Pflegekräfte sagen heute in einem Krankenhaus, wenn jemand verstorben ist zu den Angehörigen: Sie haben Zeit, nehmen Sie sich Zeit. Das war vor zehn Jahren nicht denkbar. Auch das müssen wir sehen, dass sich etwas gewandelt hat."
Bettina Jungen und Cornelia Rienäcker vom ambulanten Palliativteam sind auf dem Weg zum nächsten Patienten: ein ausgemergelter Mann im Trainingsanzug, gezeichnet von seiner Krankheit, freundlich und zugewandt.
"Ich habe CLL, chronisch-lymphatische Leukämie. Ich habe die schon zwölf Jahre lang, die Krankheit, die ist nicht heilbar, aber man kann es eben rausziehen. Richtige Schmerzen und so habe ich eigentlich während der Krankheit kaum kennengelernt. Die letzte Zeit bin ich öfter in der Klinik wie am Anfang der Krankheit, aber es geht eben noch."
Er freut sich, dass er nach so langer Krankheit noch laufen kann, hin und wieder Mofa fahren und sich tagsüber, wenn seine Frau arbeitet, selbst versorgen kann. Aber der Tod ist in seinem Leben allgegenwärtig. Ob er sich vorstellen kann, dass danach noch etwas kommt?
"Ich glaube eher nicht. Ja vielleicht zwei, drei Moleküle, dass die dann mal übrig bleiben von mir, dass die in einem anderen, in einem Maikäfer vielleicht rumfliegen, das kann schon möglich sein. Aber so kompakt nicht."
Der Prozess, das Sterben anzunehmen, beginnt mitten im Leben. Der mongolische Schamane und deutschsprachige Schriftsteller Galsan Tschinag schreibt dazu:
"Wenn wir schmerzarm und angstfrei sterben können und nicht peinvoll sterben müssen, kommen wir am Ende zu der Einstellung, sterben zu dürfen. Wir werden würdig sterben. Man muss glauben, man muss an die Güte der Natur, der Dinge, des Himmels glauben. Und immer hoffen. Man muss zum All, zum Universum gut sein. An das Gute glauben und zu allem, was es auch sei, Ja sagen. Nicht zagen. Ja sagen immer, wenn es auch der Tod ist. Also nicht vor dem Tod flüchten – das ist Unsinn, wir können nirgendwohin flüchten. Alle Ecken sind abgesperrt. Dem Tod entgegengehen, dann hat man weniger Schmerzen. Aber dann, wenn es sein muss, schnell entgegengehen."
Dem Tod schnell entgegenzugehen - das wird oft verhindert und führt dazu, dass für viele Menschen der Sterbeprozess voller Mühen ist: weniger Schmerzen einerseits, langes Siechtum andererseits. Ulrich Wedding, der die Palliativstation der Universitätsklinik Jena leitet, meint, der gute Tod sei ein Mythos.
"Oft gelingt es, Beschwerden zu nehmen und einen sanfteren Tod zu erzielen, aber immer wieder erleben wir auch hier trotz aller Möglichkeiten und Maßnahmen, die wir versuchen einzuleiten, dass das Sterben belastend, anstrengend, mit Beschwerden verbunden sein kann für die Patienten, für die Angehörigen und auch für die Betreuenden. Auch mit allen Maßnahmen der Palliativmedizin werden wir nicht erreichen, dass es immer einen sanften und guten Tod gibt."
Um einen guten, begleiteten Tod bemühen sich auch Mitarbeiter in Hospizen. Die Hospizidee stammt aus dem Mittelalter: Damals dienten Hospize Pilgern auf ihren Reisen als Herberge. Auch Kranke wurden dort gepflegt. Nach diesem Vorbild wollen die neuen Hospize nun Herbergen für sterbenskranke Menschen sein. Als ihre Begründerin gilt Lady Cicily Saunders. Weil sie aktive Sterbehilfe strikt ablehnte, gründete sie in den 1960er-Jahren in England ein Haus, in dem sie die letzten Tage eines Menschen möglichst angenehm gestalten wollte – im Sinne christlicher Nächstenliebe. Ihre Idee ging um die Welt. Der englischen Ärztin ist im Wesentlichen die Entwicklung der Palliativmedizin und der Hospize zu verdanken, sagt Andreas Heller, Leiter des Lehrstuhls für Palliative Care und Organisationsethik.
"Die Begründerin der modernen Hospizbewegung, Cicily Saunders, hat das ja auch einmal als Antwort auf die Frage: Muss man ein Christ sein, um in der Hospizarbeit tätig sein zu können? gesagt: Man muss so etwas haben wie eine philosophische, spirituelle Basis. Man muss jemanden haben, zu dem man gehen kann, wenn man verzweifelt ist. Und ich finde, diese beiden Bedingungen, ein spirituelles, religiöses Gedankengebäude, eine religiöse Orientierung zu haben einerseits und andererseits sie einzubinden in menschliche Beziehungen, ist nach wie vor eine hohe Qualität, auch eine hohe spirituelle Qualität in dieser Arbeit."
Vielleicht hat derjenige weniger Angst vorm Sterben, der als Schwerkranker um eine gute palliativmedizinische Versorgung weiß.
Die Patientin in Zimmer sieben auf der Palliativstation in Jena fühlt sich dort jedenfalls besser umsorgt als zuhause. Ihr Zimmer ist in hellen, warmen Farbtönen gestrichen. Eine Glastür geht hinaus auf eine hölzerne Terrasse, von dort schweift der Blick über einen sanft geschwungen grünen Hügel. Wie früher Babys im Bettchen an die frische Luft geschoben worden seien, so würden jetzt die Leidenden auf die Terrasse gerollt, erzählt die Sechzigjährige.
"Man sagt ja, die Hoffnung ist das Letzte, was stirbt, daran halte ich mich. Ich denke, das wird schon in Ordnung gehen. Manchmal ist man schon hoffnungslos, da ist man depressiv, da weiß man nicht mehr. Wenn man so starke Schmerzen hat und weiß nicht, was hinten und vorne ist, da möchte man mit niemandem reden, da möchte man einfach seine Ruhe haben. Und das hatte ich in letzter Zeit nicht mehr, seitdem ich hier bin überhaupt nicht und ich denke, das verliert sich bestimmt auch."
Die Patientin leidet an Eierstock- und Darmkrebs. Die frühere Krankenschwester verdrängt, wie schwer ihre Erkrankung bereits fortgeschritten ist. Nur wenige Tage nach dem Interview ist sie gestorben.
"Ich bin nicht gläubig, aber ich denke, wer Glauben hat, dem geht es besser. Meine Meinung, ne Erziehungsfrage. Ich weiß es nicht. Die haben bestimmt einen Halt, die wissen, was sie tun, ich habe es nicht."
Die Schwerstkranke, die zwei Zimmer weiter liegt, fühlt sich hingegen in ein großes Ganzes eingebettet.
"Ich denke, gerade wenn man Christ ist, ist man schon gläubig bis zur letzten Minute. Man klammert sich schon daran, dass man irgendwie etwas von sich wiederfindet, manche Erinnerungen, die sind doch auch was wert. Ist schon in Ordnung, man möchte ja nicht mutterseelenallein irgendwo da rumirren."
Sie ist Mitte fünfzig, die Haut ist eingefallen, die Knochen treten hervor. Vor einigen Tagen wurde sie auf die Palliativstation verlegt, ihr Mann kann dort mitwohnen, die Tochter kommt täglich zu Besuch. Sie erzählt, dass ihre Mutter sich hier geborgen fühle.
"Auf der Station, wo die Mama vorher war, die waren auch total engagiert, die Ärzte haben alles versucht, aber da kommen halt Ärzte rein, die knallen einem irgendwelche medizinischen Fachbegriffe vor, wo man so dasteht, so bummbummbumm. Und hier ist es halt viel ganzheitlicher, wo es um die Mama als Mensch geht, das hat viel zu tun mit Würde."
Für viele Menschen verbinden sich mit einem würdevollen Sterben folgende Vorstellungen: Sie möchten bei möglichst klarem Bewusstsein in die Familie integriert und zu Hause sein. Sie hoffen, dass sie das eigene Leben noch mal reflektieren und Beziehungen klären können. Sie wünschen keine künstlich lebensverlängernden Maßnahmen, aber ausreichende Schmerzbehandlung.
Religion, der Glaube an ein Leben nach dem Tod spielen dabei eine untergeordnete Rolle. Christliches Gedankengut ist hierzulande von einem Bündel an spirituellen Richtungen abgelöst worden. Dahinter steht die Sehnsucht nach einem Geheimnis hinter dem im Jetzt verhafteten Dasein.
Im Umfeld des Sterbens spielt der inzwischen überstrapazierte Begriff der Spiritualität eine große Rolle: Woher komme ich? Wohin gehe ich? In allen Kulturen ringen Menschen um Antworten auf die fundamentale Frage, was Leben und Tod bedeuten und wie die Vorbereitung auf das Sterben gelingen kann. Erhard Weiher, Seelsorger aus Mainz, hat damit täglich zu tun.
"Was ich erlebe, ist der Wunsch, gut aufgehoben zu sein, also nicht, wird es im Himmel ein neues Leben geben, sondern werd ich auch im Tod und nach dem Tod gut aufgehoben sein? Das scheint sich mir mehr als Frage in der heutigen Zeit zu entwickeln, als die Frage: Gibt es ein explizites Leben nach dem Tod, werd ich da moralisch zur Verantwortung gezogen oder nicht. Das scheint mir sekundär geworden sein."
Spiritualität ist Weg und Ergebnis eines lebenslangen Prozesses, der nicht erst im Angesicht von Krankheit und Sterben beginnt. Sie gehört zur menschlichen Grundausstattung. Jeder, so Erhard Weiher, habe einen "inneren Geist" – spiritus –, aus dem heraus er sein Leben entwerfe und gestalte. Damit habe der Mensch spirituelle Ressourcen, die auch bei Krankheit und Sterben aktiviert werden können.
"In meinem Beruf geht es darum, mit Patienten das zu erkunden, was wesentlich war in ihrem Leben und was sie sozusagen auf den Altar des Lebens legen können. Das sind meistens ganz kleine, alltägliche Dinge, die aber, weil sie in diesem Leben verwirklicht worden sind, eine ganz große Bedeutung haben. Und das gilt dann in den Augen des Seelsorgers und den Augen des Mannes der Kirche, ich steh ja für das Heilige, das gilt dem Heiligen anvertraut, das gilt der heiligen Sphäre gesagt, in der man hofft, dass sie von dort her gewürdigt wird, obwohl es ganz kleine alltägliche, banale Dinge sind. Erzählungen vom Hund, von den Enkeln. Da liegt das Glück der Menschen drin, darin haben sie etwas vom großen Heiligen erfahren."
Bettina Jungen und Cornelia Rienäcker vom ambulanten Palliativteam sind einmal quer durch Jena gefahren, um Kranke zu besuchen.
"Manchmal fahren wir auch hin, wenn medizinisch gar nichts Wichtiges ist, sondern weil wir merken, die Angehörigen sind massivst überlastet und überfordert. Die Angehörigen brauchen häufig diese Sicherheit, dass es in Ordnung ist, so wie zu Hause ist, dass es auch in Ordnung ist, wenn der Angehörige zuhause stirbt. Und dann sind die schon beruhigt und es kann weiter gehen."
Es geht hinauf auf einen der Berge, die Jena umgeben. Ein schmaler, holpriger Weg führt zu einem Haus mit schönem Gartengrundstück.
"Jetzt fahren wir zu einem Patienten, der letzte Nacht verstorben ist, um noch mal kurz mit der Angehörigen zu sprechen, wie es für sie war, ob alles in Ordnung war, wie es ihr jetzt geht."
Die Frau des Verstorbenen wartet schon am Gartentor. Sie umarmt die Schwester und die Ärztin, schluchzt, die Stimme versagt ihr. Dann gehen alle ins Haus und setzen sich an den Küchentisch. Der Verstorbene war schwer an Krebs erkrankt, in der Klinik konnte ihm nicht mehr geholfen werden. In der Nacht ist er gestorben und gleich in den frühen Morgenstunden abgeholt worden. Seine Frau hat ihn auf seinem letzten Weg ein Stück begleitet. Es war schwer, sagt sie. Einem Menschen beim Sterben beizustehen, bedeutet, ihn im "Loslassen" zu unterstützen. Abschied zu nehmen heißt, den anderen gehen lassen zu können. Auch das gehört zu einem würdevollen Sterben dazu.
Zum Thema - Buchhinweis:
"Und was mach ich, wenn ich tot bin? Eine Entdeckungsreise ins Leben danach" heißt eine Sammlung von Texten, in denen 50 Menschen Auskunft geben, wie sie sich das nach dem Tod vorstellen – und dabei viel über das Leben erzählen. Darunter so bekannte Namen wie Margot Käßmann, Eugen Drewermann oder Juli Zeh.
Das Buch wurde herausgegeben von Claudia Toll und Iris Schürmann-Mock, ist erschienen bei Pendo, hat 272 Seiten und kostet 16,95.