Reihe "Wer ist Wir? Von Menschen und Anderen"
Wir, wer ist das eigentlich? Wie eng oder weit fassen wir diese kollektive Selbstbezeichnung? Und gehören nur Menschen dazu oder auch andere Wesen? In "Sein und Streit" begeben wir uns diesen Sommer im Rahmen der Denkfabrik 2021 auf die "Suche nach dem Wir" und finden es in Tiermetaphern, Maschinenträumen, Sci-Fi-Welten und dem "Gaia-Prinzip":
11. Juli: Tier, Maschine oder Ebenbild Gottes? "Das Wesen des Menschen ist, dass er keins hat" Gespräch mit Thomas Macho.
11. Juli: Welches Tier sind wir? Wenn folgsame Schafe auf machthungrige Schweine treffen Von Florian Werner.
18. Juli: Werden wir zur Maschine? Vom menschlichen Uhrwerk zum Cyborg Von Constantin Hühn.
25. Juli: Das Wir in der Science-Fiction: Sternenflotte oder Borg-Kollektiv? Von Christian Berndt.
1. August: Sind wir ein Planet? Mit Gaia gegen die Klimakrise Von Niklas Angebauer.
Mit ganzheitlichem Denken gegen die Klimakrise
05:48 Minuten
Beim "Wir" denken wir an unsere Familie, unsere Gesellschaft, die ganze Menschheit vielleicht – aber müssen wir das Wir im Angesicht der Klimakrise nicht noch größer denken? Für die "Gaia-Theorie" sind wir nur ein Teil der Erde als Ganzer.
Was ist der Mensch? In dieser Frage mündet alle Philosophie. Wer sind wir, wo kommen wir her, wo gehen wir hin?
Seit jeher hat die Philosophie versucht, diese Frage im Rückgriff auf die Einzigartigkeit des Menschen zu beantworten. Die Suche nach dem Wir wird so zur Suche nach der spezifischen Differenz zum Nicht-Wir – zur Natur, zu anderen Lebensformen. Was uns von der Welt trennt, tritt in den Vordergrund. Das Gemeinsame, Geteilte hingegen wird unsichtbar. Hier der Mensch, dort die Natur; hier der Organismus, dort seine Umwelt; hier das Leben, dort die bloße Materie.
Leben und Umwelt gehören zusammen
Gegen diese atomistische Perspektive zieht die Gaia-Theorie ins Feld, die der Wissenschaftler und Erfinder James Lovelock und die Biologin Lynn Margulis in den 1970er-Jahren entwickelt haben. Die Theorie geht von einer einfachen Beobachtung aus: "Wir leben in einer Welt, die unsere frühen und neueren Vorfahren aufgebaut haben und die von den heutigen Lebewesen fortwährend erhalten wird." So schreibt James Lovelock 1979 in seinem Buch "Das Gaia-Prinzip".
Unsere Atemluft, der fruchtbare Boden, das Klima: Was uns am Leben hält, sind die Produkte des Lebens selbst. Deswegen gibt es nirgendwo auf der Erde eine klare Grenze zwischen Leben und bloßer Materie, so Lovelock: "Es besteht nur eine Abstufung in der Intensität, die von der ‚materiellen‘ Umgebung der Steine und der Atmosphäre bis zu den lebenden Zellen reicht."
Das Leben, so die These, verschmilzt im Laufe der Erdgeschichte mit der Erde. Leben wird Teil der Umwelt, die Umwelt zum Teil des Lebens. Diesem Zusammenhang von Leben und Umwelt geben Lovelock und Margulis den Namen Gaia, nach der griechischen Göttin der Erde. Gaia ist kein esoterisches Wesen, sondern die ständige Interaktion der Biosysteme und ihrer Umwelten. Gaia ist die lebendige Erde. Ebenso wie ein riesiger Mammutbaum lebendig ist, obwohl er hauptsächlich aus totem Material besteht, so "lebt" auch Gaia.
Korrektiv gegen menschliche Selbstüberschätzung
Die Konsequenz aus dieser Einsicht ist nicht gefühlig, sondern knallhart. Wenn alles Lebendige durch wechselseitige Abhängigkeiten miteinander verbunden ist, dann schaufelt sich jede Art, die ihr Ökosystem gefährdet, ihr eigenes Grab. Was lebensfeindlich ist, stirbt mittelfristig aus. Gaias "unsichtbare Hand" sorgt dafür, dass nur das überlebt, was das Leben insgesamt voranbringt.
Der Philosoph Andreas Hetzel sieht die Gaia-Idee als nützliches Korrektiv gegen eine gefährliche Selbstüberschätzung des Menschen: "Wenn wir eine solche holistischere Perspektive einnehmen, können wir einmal stärker erfahren, wie abhängig wir nach wie vor sind, was wir der Natur verdanken, und dass wir selbst, ob wir das wollen oder nicht, nach wie vor Teil der Natur sind."
Wir stehen auf einem Berg ökologischer Schulden
Auch wenn es auf den ersten Blick nicht so scheint: Gerade wir Modernen stehen besonders tief in Gaias Schuld, sind besonders abhängig von ihr. "Wenn wir uns die wesentlichen geschichtlichen Entwicklungssprünge der Menschheit anschauen", so Hetzel, "dann können wir sehen, dass diese Sprünge immer einhergingen mit der Nutzung neuer Energiequellen, und das waren zum Großteil fossile Brennstoffe, die auf die ökosystemaren Leistungen früherer Wälder der Erdfrühgeschichte zurückgingen. Das heißt, den Großteil der industrialisierten modernen Welt, die wir heute als selbstverständlich empfinden, schulden wir einer Natur, die wir selbst nicht gemacht haben und die wir auch nicht mit technischen Mitteln einfach kompensieren können."
Unsere Lebensform basiert auf einem gigantischen Berg ökologischer Schulden. Und dieser Berg wächst schneller denn je: In den letzten 30 Jahren hat die Menschheit mehr CO2 produziert als in den 100.000 Jahren davor. Allen erneuerbaren Energien zum Trotz steigt die Nachfrage nach fossilen Brennstoffen weiter, jeden Tag rotten wir Hunderte von Arten aus. Wir alle leben auf Pump. Wäre die menschliche Zivilisation ein Unternehmen, wir wären längst bankrott.
Die Gaia-Theorie ist eine Warnung
Die Natur braucht uns nicht – wir sie aber umso mehr. Wenn die Menschheit eine Zukunft haben will, muss sie daher anfangen, das Wir größer zu denken. Nicht nur aus Mitleid mit der Schöpfung, sondern schon aus bloßem Überlebenswillen.
Darauf läuft auch die Gaia-Theorie hinaus: "Gaia ist […] weder die gütige, alles verzeihende Mutter noch eine zarte, zerbrechliche Jungfrau, die einer brutalen Menschheit hilflos ausgeliefert ist. Vielmehr ist sie streng und hart. Denen, die die Regeln einhalten, verschafft sie eine stets warme, angenehme Welt; unbarmherzig aber vernichtet sie jene, die zu weit gehen. Ihr unbewusstes Ziel ist ein Planet, der für das Leben bereit ist. Stehen die Menschen diesem Ziel im Weg, werden sie mit der gleichen Mitleidlosigkeit eliminiert, mit der das Elektronengehirn einer atomaren Interkontinentalrakete sein Ziel ansteuert." In diesem Sinne ist die Gaia-Theorie vor allem eins: eine Warnung.
Zum Weiterlesen:
James Lovelock: Das Gaia-Prinzip.
Oekom Verlag, München 2021
320 Seiten, 24 Euro
Lynn Margulis: Der symbiotische Planet.
Westend Verlag, Frankfurt 2018
208 Seiten, 20 Euro