Gangster mit Pensionskasse
Die Camorra, die neapolitanische Ausprägung der Mafia, wird in den Vororten Neapels nur "das System" genannt. Und sie operiert wie ein hochmodernes Wirtschaftsunternehmen, garantiert ihren Mitgliedern regelmäßige Einkommen und Renten. Der Schriftsteller Roberto Saviano ist in den kriminellen Untergrund eingetaucht und schildert die Strukturen der Camorra in seiner literarischen Reportage "Gomorrha".
"Begreifen bedeutet, irgendwie beteiligt zu sein", heißt es an einer Stelle in Roberto Savianos atemberaubender Studie über die Camorra, die neapolitanische Ausprägung der Mafia. Mit einer Mischung aus literarischer Reportage und dokumentarischem Roman versucht der 28-jährige Schriftsteller, dem Phänomen auf die Spur zu kommen.
1979 in einer Hochburg der Camorra namens Casal di Principe unweit von Neapel geboren und seit seiner Jugend mit den Auswüchsen der organisierten Kriminalität konfrontiert, untersucht Saviano die Anziehungskraft der Camorra, schildert die militärische Effizienz der Organisation und stellt die Gründe dar, weshalb die Camorra zu einem wirtschaftlichen und sozialen Erfolgsmodell avancieren konnte.
Saviano, der Philosophie studiert hat und mit Gomorrha sein erstes Buch vorlegt, ist tief eingetaucht in die Grauzone Neapels. Er hat sich als Hilfsarbeiter am Hafen verdingt, geschmuggelte Ware umgeschlagen und die Gepflogenheiten in den Kleiderfabriken kennen gelernt. Er hat auf seiner Vespa die camorraverseuchten Vororte Secondigliano und Scampia durchkämmt, Freundschaft mit jugendlichen Drogenkurieren und Hilfskräften der Camorra geschlossen, einschlägige Bars frequentiert, den Polizeifunk abgehört und regelmäßig die Anschlagsorte aufgesucht. Er hat Berge von Gerichtsakten durchforstet und stapelweise Abhörprotokolle studiert.
Gomorrha liest sich über weite Strecken wie ein Roman: Saviano tritt als Ich-Erzähler auf, agiert unter Klarnamen, wechselt fortwährend die Register und lässt auf Analysen und Zahlen erzählerische Passagen folgen. Geschickt operiert er mit drastischen Bildern, wie gleich zu Beginn, wo ein Kran tief gefrorene chinesische Leichname verschifft und eines Morgens seine grausige Fracht verliert.
Immer wieder fließen Porträts in die Reportage ein, die großen Bosse und ihre Frauen kommen ebenso vor wie kleine Handlanger, die die Camorrafamilien wöchentlich mit Lebensmitteln versorgen. Nach und nach klärt sich der Mythos der Camorra, den Saviano nicht verleugnet, sondern analysiert. Nicht nur Geld und Macht machen die Camorristi zu Idolen unter den Jugendlichen, sondern vor allen Dingen die Tatsache, dass sie alles auf eine Karte setzen. Sie riskieren selbst jeden Tag, erschossen oder gefangen genommen zu werden, und sie gebieten über Leben und Tod ihrer Männer.
In einem der beeindruckendsten Kapitel schildert Saviano die Stilisierung der Camorristi: ihre Modelle beziehen sie aus Kinofilmen. Die Camorristi tragen Frisuren aus Pulp Fiction und Kill Bill, seit Pulp Fiction schießen sie anders, und der Boss Valter Schiavone hat in Casal di Principe die Villa von Tony Montana aus Scarface nachgebaut.
In Italien ist Roberto Saviano längst ein Star: seit über einem Jahr steht Gomorrha auf der Bestsellerliste. 700.000 Mal hat sich Savianos Buch in Italien verkauft. Vor einigen Monaten erhielt der Schriftsteller Morddrohungen, seitdem steht er unter Polizeischutz. Vor allem unter Jugendlichen ist Gomorrha angesagt, was einerseits an Savianos kämpferischer Haltung liegt, andererseits aber auch an den vielen Geschichten, die er in seinem Buch erzählt.
Zum Beispiel die von Pasquale, einem Schneider, der schwarz für die Chinesen arbeitet und ohne es zu wissen eine Sonderanfertigung für Angelina Jolies Oscar-Auftritt genäht hat. Als er die Schauspielerin bei ihrem Defilee über den roten Teppich zufällig im Fernsehen sieht und entdeckt, dass er um seinen Erfolg gebracht wurde, erleidet er einen Zusammenbruch. Schon am nächsten Tag hängt der hochbegabte Schneider seinen klandestinen Job an den Nagel und wird Fahrer bei einer der einschlägigen Familien.
Oder die Geschichte der vierzehnjährigen Drogenkuriere Kitkat und Pikachu, die 300 Euro pro Woche verdienen und die Oberkörper voller blauer Flecken haben, weil sie, bekleidet mit kugelsicheren Westen, sich dem Hagel der Geschosse aussetzen müssen. Schließlich sollen sie in Extremsituationen auf alles gefasst sein.
"Das System" wird die Camorra in den Vororten von Neapel genannt, so als handele es sich um eine staatliche Einrichtung. Die Camorra bietet den Mitgliedern ein regelmäßiges Einkommen, Pensionskassen, Versicherungen und ist für Jugendliche ein attraktiver Arbeitgeber, der sie zusätzlich mit einem gewissen Glamour ausstattet.
Anschmiegsam reagiert die Camorra auf die Herausforderungen der Globalisierung und operiert wie ein hochmodernes Wirtschaftsunternehmen: effiziente Rekrutierungspraxis, militärische Strukturen, virtuose Verlagerungen der Kompetenzen bei Einbußen, Investitionen in legale Bereiche. Sie ist die Perversion des Kapitalismus.
Als Entwicklungsmotor wird die Camorra zum Partner der Politik, bringt wirtschaftlichen Aufschwung und zerstört zugleich das zivile Fundament der Gesellschaft. Wer etwas über Süditalien erfahren möchte, kann keinen besseren Lehrmeister als Roberto Saviano finden.
Rezensiert von Maike Albath
Roberto Saviano: Gomorrha. Reise in das Reich der Camorra
Aus dem Italienischen von Friederike Hausmann und Rita Seuß
Carl Hanser Verlag München 2007
367 Seiten. EUR 21,50
1979 in einer Hochburg der Camorra namens Casal di Principe unweit von Neapel geboren und seit seiner Jugend mit den Auswüchsen der organisierten Kriminalität konfrontiert, untersucht Saviano die Anziehungskraft der Camorra, schildert die militärische Effizienz der Organisation und stellt die Gründe dar, weshalb die Camorra zu einem wirtschaftlichen und sozialen Erfolgsmodell avancieren konnte.
Saviano, der Philosophie studiert hat und mit Gomorrha sein erstes Buch vorlegt, ist tief eingetaucht in die Grauzone Neapels. Er hat sich als Hilfsarbeiter am Hafen verdingt, geschmuggelte Ware umgeschlagen und die Gepflogenheiten in den Kleiderfabriken kennen gelernt. Er hat auf seiner Vespa die camorraverseuchten Vororte Secondigliano und Scampia durchkämmt, Freundschaft mit jugendlichen Drogenkurieren und Hilfskräften der Camorra geschlossen, einschlägige Bars frequentiert, den Polizeifunk abgehört und regelmäßig die Anschlagsorte aufgesucht. Er hat Berge von Gerichtsakten durchforstet und stapelweise Abhörprotokolle studiert.
Gomorrha liest sich über weite Strecken wie ein Roman: Saviano tritt als Ich-Erzähler auf, agiert unter Klarnamen, wechselt fortwährend die Register und lässt auf Analysen und Zahlen erzählerische Passagen folgen. Geschickt operiert er mit drastischen Bildern, wie gleich zu Beginn, wo ein Kran tief gefrorene chinesische Leichname verschifft und eines Morgens seine grausige Fracht verliert.
Immer wieder fließen Porträts in die Reportage ein, die großen Bosse und ihre Frauen kommen ebenso vor wie kleine Handlanger, die die Camorrafamilien wöchentlich mit Lebensmitteln versorgen. Nach und nach klärt sich der Mythos der Camorra, den Saviano nicht verleugnet, sondern analysiert. Nicht nur Geld und Macht machen die Camorristi zu Idolen unter den Jugendlichen, sondern vor allen Dingen die Tatsache, dass sie alles auf eine Karte setzen. Sie riskieren selbst jeden Tag, erschossen oder gefangen genommen zu werden, und sie gebieten über Leben und Tod ihrer Männer.
In einem der beeindruckendsten Kapitel schildert Saviano die Stilisierung der Camorristi: ihre Modelle beziehen sie aus Kinofilmen. Die Camorristi tragen Frisuren aus Pulp Fiction und Kill Bill, seit Pulp Fiction schießen sie anders, und der Boss Valter Schiavone hat in Casal di Principe die Villa von Tony Montana aus Scarface nachgebaut.
In Italien ist Roberto Saviano längst ein Star: seit über einem Jahr steht Gomorrha auf der Bestsellerliste. 700.000 Mal hat sich Savianos Buch in Italien verkauft. Vor einigen Monaten erhielt der Schriftsteller Morddrohungen, seitdem steht er unter Polizeischutz. Vor allem unter Jugendlichen ist Gomorrha angesagt, was einerseits an Savianos kämpferischer Haltung liegt, andererseits aber auch an den vielen Geschichten, die er in seinem Buch erzählt.
Zum Beispiel die von Pasquale, einem Schneider, der schwarz für die Chinesen arbeitet und ohne es zu wissen eine Sonderanfertigung für Angelina Jolies Oscar-Auftritt genäht hat. Als er die Schauspielerin bei ihrem Defilee über den roten Teppich zufällig im Fernsehen sieht und entdeckt, dass er um seinen Erfolg gebracht wurde, erleidet er einen Zusammenbruch. Schon am nächsten Tag hängt der hochbegabte Schneider seinen klandestinen Job an den Nagel und wird Fahrer bei einer der einschlägigen Familien.
Oder die Geschichte der vierzehnjährigen Drogenkuriere Kitkat und Pikachu, die 300 Euro pro Woche verdienen und die Oberkörper voller blauer Flecken haben, weil sie, bekleidet mit kugelsicheren Westen, sich dem Hagel der Geschosse aussetzen müssen. Schließlich sollen sie in Extremsituationen auf alles gefasst sein.
"Das System" wird die Camorra in den Vororten von Neapel genannt, so als handele es sich um eine staatliche Einrichtung. Die Camorra bietet den Mitgliedern ein regelmäßiges Einkommen, Pensionskassen, Versicherungen und ist für Jugendliche ein attraktiver Arbeitgeber, der sie zusätzlich mit einem gewissen Glamour ausstattet.
Anschmiegsam reagiert die Camorra auf die Herausforderungen der Globalisierung und operiert wie ein hochmodernes Wirtschaftsunternehmen: effiziente Rekrutierungspraxis, militärische Strukturen, virtuose Verlagerungen der Kompetenzen bei Einbußen, Investitionen in legale Bereiche. Sie ist die Perversion des Kapitalismus.
Als Entwicklungsmotor wird die Camorra zum Partner der Politik, bringt wirtschaftlichen Aufschwung und zerstört zugleich das zivile Fundament der Gesellschaft. Wer etwas über Süditalien erfahren möchte, kann keinen besseren Lehrmeister als Roberto Saviano finden.
Rezensiert von Maike Albath
Roberto Saviano: Gomorrha. Reise in das Reich der Camorra
Aus dem Italienischen von Friederike Hausmann und Rita Seuß
Carl Hanser Verlag München 2007
367 Seiten. EUR 21,50