Ganz alt, ganz neu

Von Michael Laages |
Diese Inszenierung ist ein Ereignis: Womöglich noch nie in bald zwei Hamburger Spielzeiten hat Thalia-Hausregisseur Perceval alles so fundamental richtig gemacht wie mit diesem unendlich schwierigen Text von Wolfgang Borchert.
Kaum vorstellbar, wie dieses Stück, wie dieser Text die Zeitgenossen gepackt haben muss – "Draußen vor der Tür", im ersten Jahr nach dem Krieg wie im Fieber (und schon auf dem Totenbett!) geschrieben von Wolfgang Borchert, der 26 Jahre alt war und die Urauf-führung 1947 schon nicht mehr erlebte. Zuerst als Hörspiel im NWDR, dann an den Hamburger Kammerspielen wurde Borcherts Passionsdrama zum Dokument einer Ge-neration: der der Kriegsheimkehrer, die die alte Hei-mat und alles, was sie ausgemacht hatte, in Trümmern liegen sahen. Keine Liebe mehr, keine Stadt mehr, keine Wohnung – und die Eltern, das erfährt der Heimkehrer Beckmann jetzt, waren Nazis und haben sich umgebracht. So bedeutend das Stück, so fraglich mag sein, wovon es heute erzählen kann – in Hamburg hat der Regisseur Luk Perceval für das Thalia Theater neue Formen gesucht. Das Ergebnis ist ein Ereignis.

Gott höchstpersönlich schaut zu, sieht den Jungen schon an der Elbe stehen, bereit zum letzten Schritt, aber der Fluss will dieses Opfer noch nicht haben. Und so beginnt bekanntlich Beckmanns Passion – vergessen von der Freundin, die längst einen anderen hat, landet er bei einer anderen Einsamen, deren Mann aber auch gerade heimkehrt, mit einem Bein und wie ein Alptraum; Beckmann zieht weiter – zur Villa vom Oberst zuerst, der ihn vor kurzem noch mit dem Einsatzbefehl und dann mit dem schlechten Gewissen über elf Tote allein ließ; von dort flieht Beckmann ins Kabarett der Nachkriegszeit – wo aber der Herr Direktor Beckmanns todessehnsüchtiges Chanson für (was Wunder!) viel zu wenig unterhaltsam hält. Und weiter treibt Beckmann, bis vor die Tür der Eltern. Dahinter aber wohnen längst andere.

Von den drei Hamburger Endstationen lässt Borcherts Text diese Nachbarn sprechen – vom Friedhof in Ohlsdorf (da "wohnen" jetzt die Eltern), vom Knast in Fuhlsbüttel und vom "Irrenhaus" in Alsterdorf. Natür-lich spricht niemand heute mehr vom "Irrenhaus", aber nicht wenig denken noch so – und darum gehört es zu den herausragenden Ideen dieses herausragenden Thea-terabends, dass Luk Perceval (quasi als Chor aus Traum-Figuren für Beckmann) acht Mitspieler vom "Eisenhans"-Projekt eingeladen hat, das seit bald 20 Jahren in Hamburg Menschen mit Behinderung behutsam und beharrlich heranführt an die Möglichkeiten des künstlerischen Ausdrucks. Wenn dieses Ensemble im Ensemble zum Beispiel marschiert mit dem alten Oberst, entstehen für Augenblicke Bilder, wie sie kein Schau-spieler, keine Schauspielerin zur Verfügung hat im Handwerksrepertoire. Gerade mal drei "Profis" stellt Perceval diesen "Draußen vor der Tür"-Persönlichkeiten von hier und heute gegenüber – und schafft so Augenhöhe.

Womöglich noch nie in bald zwei Hamburger Spielzeiten hat Thalia-Hausregisseur Perceval alles so fundamental und grundsätzlich "richtig" gemacht wie mit diesem unendlich schwierigen Text. Alles Hanseatisch-Lokalpatriotische hat er ihm ausgetrieben, fast alles Dekor ist reduziert; nur die "Eisenhans"-Leute dürfen zum Beispiel Uniform tragen, und auch die berühmte Beckmann-Brille, dieses notdürftig hinter den Ohren verschnürte Modell wie für’s Sehen unter Wasser, trägt nicht der neue Hamburger "Beckmann" Felix Knopp selbst, sondern der einbeinige Nachtmahr des anderen Heimkehrers, der ihn mit der neuen Liebsten überrascht. Perceval meidet alles, was zu sehr nach erster Nachkriegszeit schmecken könnte; und entkernt so auch das fiebrige Pathos aus verspätetem Expressionismus und Schmerzbeschwörung, was Borcherts Zeit-Literatur oft so schwer zugänglich werden lässt – statt dessen platziert der Regisseur zwischen den Stationen der Passion stets demonstrativ langes Schweigen. Und das Publikum, gebannt wie selten, schweigt mit – kein Husten, nirgends. Auch Kleinigkeiten zählen.

Katrin Brack hat einen bühnenfüllenden Spiegel über den Spiel-Raum gehängt, im Winkel von 45 Grad. So kann zum Beispiel Gott zu sich selber hinauf in den Himmel schauen, und zugleich uns ins Gesicht. Auf der Drehscheibe unter diesem Spiegel kriecht das geschundene Personal hinein und heraus – nur Beckmann bleibt aufrecht am Mikrofon. Denn er singt ja auch – und selbst diese sonderbarste Abweichung hilft: "The darkest Star" nennt sich das Rock-Trio, mit dem der Schauspieler Felix Knopp seit geraumer Zeit musiziert. Und alle überbordende Emotion, alle Emphase und Schmerz-Ekstase der Beckmann-Figur fließt ein in den mächtigen Sound dieses Abends.

Nur Peter Maertens und Barbara Nüsse geben Knopps Beckmanns hier Antwort, in fast allen Rollen, die das Stück nennt – und wie schließlich diese beiden Echos den politischen Horizont von Beckmanns Epoche durchmessen und gestalten, knapp, kalt, klar, und ohne zu viel Gefühl, das erst macht diese Wiederbegegnung mit einem fremden Stück zum Erlebnis. Die Söhne, die Enkel, wir, bekommen die Welt von Vater und Opa zu sehen – und müssten spüren, dass auch wir nie wirklich sicher sind.
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