Ganze Kerle und benachteiligte Frauen
Die Autorinnen betrachten "die weibliche und die männliche Seite der Medizin". Ihnen gelingt der Nachweis, dass gesellschaftliche Rollenmuster eine direkte Auswirkung auf unsere Gesundheit haben. Veraltete Ansichten gefährden das Leben von unzähligen Patientinnen.
Gender-Medizin nennen die Autorinnen ein in der Öffentlichkeit so gut wie unbekanntes Teilgebiet der Medizin, das sich erst langsam als neue Denkrichtung für Ärzte etabliert.
Zwar leben Frauen gesundheitsbewusster und reagieren auf erste Alarmsignale des Körpers:
Allerdings werden ihre Gesundheitsprobleme weniger ernst genommen, wenn sie medizinische Hilfe suchen. Mit ein Grund, warum beispielsweise Herzprobleme bei ihnen oft als psychosomatisch fehlgedeutet werden. All diese Faktoren des sozialen Geschlechts haben also Einfluss auf den Gesundheitszustand.
Diese soziale Benachteiligung der Frauen hat enorme Dimensionen angenommen, wie die Autorinnen minutiös belegen. Zum Beispiel im Bereich der Arzneimittelforschung: Neue Wirkstoffe wurden vorwiegend an Männern geteste:
Der Grund dafür ist ebenso simpel wie unlogisch: Seitdem das Schlafmittel Contergan Anfang der 1960er-Jahre bei Ungeborenen zu gravierenden Fehlbildungen geführt hat, befürchtet die Pharmaindustrie, dass Kinder geschädigt werden könnten, wenn eine Probandin während einer Medikamentenstudie ungewollt schwanger wird. Das bedeutet, dass bei vielen auf dem Markt befindlichen Arzneimitteln gar nicht bekannt ist, ob sie für Ungeborene potenziell schädlich sind und ob sie bei Frauen überhaupt anders wirken als bei Männern.
Die Folgen sind mitunter fatal. Bestimmte Antibiotika lösen bei Frauen eher Herzrhythmusstörungen aus als bei Männern. Beruhigungsmittel wiederum entfalten im weiblichen Körper bereits in geringen Dosen die erhoffte Wirkung – denn anders als bei Männern setzt die Wirkung unabhängig vom Körpergewicht der Patientin ein. Trotzdem werden die Mittel überdosiert.
Tschachler und Kautzky-Willer machen schnell klar, wie brisant ihre Befunde sind:
Wer geschlechtsspezifische Unterschiede zu seinem Forschungsschwerpunkt macht, gerät schnell in die Diskussion um politische Korrektheit. Und ebenso schnell kommt der Vorwurf, allein schon die Suche nach solchen Unterschieden beweise eine sexistische Haltung und zementiere gewisse Vorurteile ein.
Wie direkt gesellschaftliches Rollenbild und Erkrankungen zusammenhängen, zeigt ein anderes Beispiel:
Ein ganzer Kerl zu sein, das wird auch von den Medien meist auf einen Chefposten, eine dicke Brieftasche, ein schnittiges Auto und eine schicke Frau an der Seite reduziert. Männer, die das nicht erreichen, fühlen sich schnell als komplette Versager. Dabei kann die überwiegende Mehrheit der Männer den Karriere- und Erfolgsvorstellungen überhaupt nicht gerecht werden, weil es gar nicht so viele Chefsessel gibt. Die Folge ist andauernder Stress.
Stark, hart, zäh. Weil Mann so denkt, stirbt er mitunter früher – und unnötig. Obwohl Hodenkrebs für Männer im Alter von 20 bis 40 Jahren die häufigste Krebserkrankung ist, untersuchen nur die wenigsten Männer ihre Hoden selbst. Bösartiger Hautkrebs indes wird bei Frauen um 50 Prozent häufiger diagnostiziert als bei Männern – dennoch sterben 50 Prozent mehr Männer daran, weil sie nicht rechtzeitig zum Arzt gehen.
Indem sie sich ungesund verhalten, wollen Männer allen zeigen: Ich bin ein richtiger Mann. Begeben sich Männer in eine medizinische Einrichtung, dann in einem Gesundheitszustand, der als ernst bezeichnet werden muss.
Wie massiv gesellschaftliche Mythen und soziale Faktoren unsere Gesundheit beeinflussen, zählen die Autorinnen akribisch auf. Noch in den 1990er-Jahren etwa galt die Prämisse, wonach Frauen vor koronaren Herzgefäßerkrankungen geschützt sind. Der klassische Herzinfarkt im besten Alter blieb dieser Doktrin zufolge Männersache, belegen die Autorinnen – und enttarnen diese fatale Denkweise als Mythos.
Und kommt es dann zu einer Herztransplantation, haben Frauen ohnehin das Nachsehen. Denn eingepflanzt werden im weiblichen Körper mitunter Männerherzen – die aber verträgt der Frauenkörper nicht. Abstoßungsreaktionen mit tödlichem Ausgang sind dabei keine Seltenheit.
Den Autorinnen gelingt der Nachweis, dass gesellschaftliche Rollenmuster eine direkte Auswirkung auf unsere Gesundheit haben. Und sie zeigen: Veraltete Ansichten gefährden das Leben von unzähligen Patientinnen. Abhilfe schaffen kann das, was Kautzky-Willer und Tschachler im Buch immer wieder durch ihre Fakten fordern: Ein Umdenken innerhalb der ganzen Gesellschaft.
Rezensiert von Vlad Georgescu
Alexandra Kautzky-Willer und Elisabeth Tschachler: Gesundheit: Eine Frage des Geschlechts. Die weibliche und die männliche Seite der Medizin
Verlag Orac
Zwar leben Frauen gesundheitsbewusster und reagieren auf erste Alarmsignale des Körpers:
Allerdings werden ihre Gesundheitsprobleme weniger ernst genommen, wenn sie medizinische Hilfe suchen. Mit ein Grund, warum beispielsweise Herzprobleme bei ihnen oft als psychosomatisch fehlgedeutet werden. All diese Faktoren des sozialen Geschlechts haben also Einfluss auf den Gesundheitszustand.
Diese soziale Benachteiligung der Frauen hat enorme Dimensionen angenommen, wie die Autorinnen minutiös belegen. Zum Beispiel im Bereich der Arzneimittelforschung: Neue Wirkstoffe wurden vorwiegend an Männern geteste:
Der Grund dafür ist ebenso simpel wie unlogisch: Seitdem das Schlafmittel Contergan Anfang der 1960er-Jahre bei Ungeborenen zu gravierenden Fehlbildungen geführt hat, befürchtet die Pharmaindustrie, dass Kinder geschädigt werden könnten, wenn eine Probandin während einer Medikamentenstudie ungewollt schwanger wird. Das bedeutet, dass bei vielen auf dem Markt befindlichen Arzneimitteln gar nicht bekannt ist, ob sie für Ungeborene potenziell schädlich sind und ob sie bei Frauen überhaupt anders wirken als bei Männern.
Die Folgen sind mitunter fatal. Bestimmte Antibiotika lösen bei Frauen eher Herzrhythmusstörungen aus als bei Männern. Beruhigungsmittel wiederum entfalten im weiblichen Körper bereits in geringen Dosen die erhoffte Wirkung – denn anders als bei Männern setzt die Wirkung unabhängig vom Körpergewicht der Patientin ein. Trotzdem werden die Mittel überdosiert.
Tschachler und Kautzky-Willer machen schnell klar, wie brisant ihre Befunde sind:
Wer geschlechtsspezifische Unterschiede zu seinem Forschungsschwerpunkt macht, gerät schnell in die Diskussion um politische Korrektheit. Und ebenso schnell kommt der Vorwurf, allein schon die Suche nach solchen Unterschieden beweise eine sexistische Haltung und zementiere gewisse Vorurteile ein.
Wie direkt gesellschaftliches Rollenbild und Erkrankungen zusammenhängen, zeigt ein anderes Beispiel:
Ein ganzer Kerl zu sein, das wird auch von den Medien meist auf einen Chefposten, eine dicke Brieftasche, ein schnittiges Auto und eine schicke Frau an der Seite reduziert. Männer, die das nicht erreichen, fühlen sich schnell als komplette Versager. Dabei kann die überwiegende Mehrheit der Männer den Karriere- und Erfolgsvorstellungen überhaupt nicht gerecht werden, weil es gar nicht so viele Chefsessel gibt. Die Folge ist andauernder Stress.
Stark, hart, zäh. Weil Mann so denkt, stirbt er mitunter früher – und unnötig. Obwohl Hodenkrebs für Männer im Alter von 20 bis 40 Jahren die häufigste Krebserkrankung ist, untersuchen nur die wenigsten Männer ihre Hoden selbst. Bösartiger Hautkrebs indes wird bei Frauen um 50 Prozent häufiger diagnostiziert als bei Männern – dennoch sterben 50 Prozent mehr Männer daran, weil sie nicht rechtzeitig zum Arzt gehen.
Indem sie sich ungesund verhalten, wollen Männer allen zeigen: Ich bin ein richtiger Mann. Begeben sich Männer in eine medizinische Einrichtung, dann in einem Gesundheitszustand, der als ernst bezeichnet werden muss.
Wie massiv gesellschaftliche Mythen und soziale Faktoren unsere Gesundheit beeinflussen, zählen die Autorinnen akribisch auf. Noch in den 1990er-Jahren etwa galt die Prämisse, wonach Frauen vor koronaren Herzgefäßerkrankungen geschützt sind. Der klassische Herzinfarkt im besten Alter blieb dieser Doktrin zufolge Männersache, belegen die Autorinnen – und enttarnen diese fatale Denkweise als Mythos.
Und kommt es dann zu einer Herztransplantation, haben Frauen ohnehin das Nachsehen. Denn eingepflanzt werden im weiblichen Körper mitunter Männerherzen – die aber verträgt der Frauenkörper nicht. Abstoßungsreaktionen mit tödlichem Ausgang sind dabei keine Seltenheit.
Den Autorinnen gelingt der Nachweis, dass gesellschaftliche Rollenmuster eine direkte Auswirkung auf unsere Gesundheit haben. Und sie zeigen: Veraltete Ansichten gefährden das Leben von unzähligen Patientinnen. Abhilfe schaffen kann das, was Kautzky-Willer und Tschachler im Buch immer wieder durch ihre Fakten fordern: Ein Umdenken innerhalb der ganzen Gesellschaft.
Rezensiert von Vlad Georgescu
Alexandra Kautzky-Willer und Elisabeth Tschachler: Gesundheit: Eine Frage des Geschlechts. Die weibliche und die männliche Seite der Medizin
Verlag Orac