Gareth Stedman Jones: Marx. Die Biografie
Aus dem Englischen von Thomas Atzert und Andreas Wirthenson
S. Fischer, Frankfurt am Main 2017
896 Seiten, 32 Euro
Auf der Suche nach Karl (ohne Marx)
In seiner monumentalen Monografie will der britische Historiker Gareth Stedman Jones zeigen, dass der Marxismus mit Marx selbst nicht allzu viel zu tun habe. Sein Buch ist vor allem eine weit ausgreifende politische Ideengeschichte.
Es mag erstaunen, dass das Geburtsjahr von Karl Marx wirklich schon zwei Jahrhunderte zurück liegt. Marx erscheint jünger als er ist, und das liegt vor allem daran, dass der "Marxismus", den wir kennen, erst gegen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts entstand.
In seiner üppigen Monografie will der britische Historiker Gareth Stedman Jones zeigen, dass der Marxismus mit Marx selbst gar nicht so viel zu tun hat; er nennt Marx daher auch konsequent nur "Karl", nicht Marx.
Stedman Jones’ Studie ist keine Biografie im eigentlichen Sinn, sondern eine weit ausgreifende politische Ideengeschichte, in die Marx’ biografische Daten eher en passant einfließen.
Elendsjahre in London
Die Reise beginnt im noch französisch besetzten Rheinland und führt durch die komplexe, zwischen Fortschritt und Reaktion hin und her gerissene Epoche ab 1830 bis in den Vormärz. Marx, der anfangs Dichter werden wollte, radikalisierte sich in dieser Zeit.
Dass sich die Revolutionen von 1848 nicht fortsetzten, wollte der mittlerweile im Londoner Exil lebende Marx lange nicht glauben. Stedman Jones beschreibt die Elendsjahre der Familie Marx in London, die gruseligen Leberleiden und Karbunkel (die Marx mit Alkohol kurierte), Marx’ Korrespondententätigkeit für die "New York Daily Tribune", seine oft nicht klar zu definierende "Partei"-Arbeit und das zähe Ringen um das Großprojekt einer "Kritik der politischen Ökonomie".
Die Arbeit an den Werken, die heute als "Grundrisse", "Die Kritik der politischen Ökonomie", "Das Kapital I-III" bekannt sind und zum Teil postum erschienen, schildert der Biograf als zäh und fast schon traumatisch.
Denn Marx sei zunehmend klar geworden, dass er die "Bewegungsgesetze des Kapitals" nicht begründen konnte; sie ließen sich in der Empirie nicht nachweisen. Einen "historischen Materialismus" jedenfalls oder auch eine "Verfallstheorie" des Kapitals kann Stedman Jones hier nicht finden.
Erst Revolutionsromantik, dann Evolutionstheorie
Der Biograf betont vor allem den ideengeschichtlichen Unterschied zwischen der ersten und zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Während die Jahre bis 1848 im Zeichen einer revolutionären Romantik standen, sei die zweite Hälfte von den Ideen Darwins bestimmt gewesen.
Marx habe zwar die Evolutionstheorie begrüßt, sie entspreche seinem Denken aber weitaus weniger, als es spätere Deutungen behaupten, die in Marx’ Theorie eine wissenschaftliche Grundlage für den Sozialismus/Kommunismus suchten.
Stedman Jones will "wie ein Restaurator" das ursprüngliche Bild von "Karl" als einem Menschen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wieder freilegen. Dabei gerät er allerdings in Gefahr, seine Marx-Ideen-Biografie maßlos zu überfrachten.
Stedman Jones weiß viel, fast zu viel, und die Leserin kann sich in dieses Konvolut allenfalls hineinfallen lassen wie in einen wimmelnden Fischteich und versuchen, in der unglaublichen Fülle der Details nicht ganz unterzugehen. Wer freilich keine Angst vorm Schwimmen hat, findet hier eine faszinierende Lektüre.