Gaspard Koenig: "Das Ende des Individuums. Reise eines Philosophen in die Welt der Künstlichen Intelligenz"
Verlag Galiani, Berlin 2021
400 Seiten, 24 Euro
Mit künstlicher Intelligenz zur freiwilligen Knechtschaft?
06:50 Minuten
Ist künstliche Intelligenz das Ende von Selbstbestimmung und Demokratie? Oder hilft KI uns bei der Selbsterkenntnis? Diesen Fragen geht der französische Philosoph Gaspard Koenig in mehr als 100 Interviews nach.
Schon der Begriff künstliche Intelligenz (KI) lässt manchen erschaudern: Maschinen herrschen über die Menschheit wie in Science-Fiction-Filmen, schon jetzt manipulieren uns übergriffige Algorithmen bei jedem Gang ins Internet. Sind wir bald nur noch Marionetten?
Ja und nein und je nachdem, warnt und beruhigt der französische Philosoph (er lehrt an der Sorbonne) und Journalist Gaspard Koenig nach vielen Reisen um den Globus, um die wichtigsten Köpfe der KI-Forschung zu treffen: Weit mehr als 100 von ihnen hat er gründlich interviewt, um die ganze Bandbreite ihrer – oft widersprüchlichen – Zukunftsvisionen zu erfahren und zu vermitteln.
Gefährdung der offenen Gesellschaft
Ein Schwerpunkt seiner Untersuchung liegt auf dem Einsatz von künstlicher Intelligenz in den allgegenwärtigen sozialen Medien. Seine wichtigste Frage: Kann sich der und die Einzelne ihnen noch entziehen oder sind diese längst derart universell für den menschlichen Umgang, dass nur noch symbolische oder ornamentale Nischen bleiben, sozial wie politisch völlig wirkungslos? Kurzum: Gibt es überhaupt noch eine Öffentlichkeit, in der Argumente konkurrieren, einen "Marktplatz der Ideen" oder nur noch die mediale Planwirtschaft mit ihren Einheitsalgorithmen?
Das Leitmotiv ist also Karl Poppers alte Frage nach dem Überleben der demokratischen, offenen Gesellschaft, angesichts des neuen Trends zum digitalen Feudalismus. Natürlich sind die Tech-Mogule inzwischen viel zu gewitzt, als dass sie sich noch bei autoritären Gesten ertappen ließen.
Ihre Zwänge sind sanfter, sie befehlen und strafen nicht mehr wie in alten Zeiten; ihr Werkzeug ist der sogenannte Nudge, der unaufhörliche Anstupser, der uns – aufgrund des umfassenden Wissens über uns, das wir so gern weil sozialsüchtig preisgeben, ja darbieten – unaufhörlich in eine Reklameflut drängt.
So müssen wir zum Beispiel praktisch alle Cookies akzeptieren, um überhaupt Zugang zu gewünschten Informationen zu erhalten. Es ist ein ungleicher Handel: dauerhafte Preisgabe gegen momentanen Zugang. "Wir sind dabei, eine raffiniertere und überlegene Form der freiwilligen Knechtschaft zu erfinden", warnt Koenig.
Befreiung durch Manipulation?
Das sehen viele seiner Gesprächspartner anders. Yuval Harari etwa, dessen Bücher – zuletzt "Homo Deus" – auch hierzulande Bestseller wurden, gerät geradezu ins Schwärmen angesichts der wohlwollenden Entmündigung durch die KI:
"Die neue Menschheit wird von den belastendsten und hinderlichsten Begierden befreit sein", zitiert Koenig ihn. "Sie wird pazifistisch, ökologisch und gemeinschaftlich sein. In dem Maße, wie sie zu unserer Manipulation fähig ist, macht sich die KI perverserweise zur Gehilfin unserer Befreiung."
Gar nicht so absurd, sinniert Koenig, angesichts Googles Anspruch, "mich besser zu kennen als ich mich selbst". Denn wohl tatsächlich "könnte die KI eine solche [Selbst-]Erkenntnis leichter zugänglich machen, indem sie uns auf Wunsch ein beweiskräftiges, detailliertes Protokoll unseres Selbst liefert".
Big Data führt zum Tunnelblick
Freilich, gerade in der Vollständigkeit und Perfektion liege wiederum die Gefahr, dass genau dieses Ziel verfehlt wird, gibt Koenig zu bedenken. Zielstrebigkeit sei nicht nur ein Beschleuniger mancher Entwicklung, sondern könne Entwicklung und Innovation durch ihren Tunnelblick geradezu lähmen.
Außerdem wachse mit der Menge angehäufter Daten exponentiell auch "das Risiko einer falschen Korrelation", zitiert Koenig den Mathematiker Nassim Taleb, Begründer der "Fragilitätstheorie": Ganz allgemein erzeuge Komplexität und Vernetzung Fragilität und damit Unzuverlässigkeit.
Dass Koenig die politischen Aspekte – die Zähmung, Steuerung technologischer Entwicklungen und überhaupt den Erhalt einer kritischen Öffentlichkeit als Grundfeste der Demokratie einfach so ausspart, ist zwar sein gutes Recht als Reporter (als solchen begreift er sich hier); er weicht aber auch just dem Problem aus, das er auf Hunderten Seiten ausgebreitet hat: Wer denn die widersprüchlichen Positionen regeln könnte oder sollte – und in welcher (trans-)medialen Öffentlichkeit? Gerade angesichts der fruchtbaren Ambivalenzen, die er mit Blick auf die KI aufzeigt, ist das eine schmerzliche Leerstelle.