"Gastarbeiter"

Ein sprachloser Zimmermann im "Land des Geldes"

Der millionste Gastarbeiter in der Bundesrepublik, Armando Rodrigues de Sa (l.) aus Portugal, steht neben dem Moped, das er bei seiner Ankunft am 10.09.1964 im Köln-Deutzer Bahnhof geschenkt bekam.
Armando Rodrigues de Sá (l.) bei seinem Empfang in Köln. © picture-alliance/ dpa - Ossinger
Von Otto Langels |
Er kam aus Portugal und wurde im September 1964 als millionster "Gastarbeiter" in der Bundesrepublik begrüßt. Als Geschenk bekam Armando Rodrigues de Sá ein Moped und Blumen - er war ein Sinnbild des Wirtschaftswunders.
Großer Bahnhof für einen kleinen Mann in Köln-Deutz, für Armando Rodrigues de Sá aus Viseu in Portugal, der soeben ausgerufen wurde.
Der "große Bahnhof" galt einem 38-jährigen gelernten Zimmermann, der nach Deutschland kam, um Geld zu verdienen. Er saß in einem der beiden Sonderzüge, die am 10. September 1964 mit 1.100 sogenannten Gastarbeitern aus Spanien und Portugal in Köln eintrafen.
"Die Überraschung für Seňor Rodrigues wird darin bestehen, dass er als der millionste Gastarbeiter im Bundesgebiet als Geschenk ein zweisitziges Moped bekommt."
Das Foto des sichtlich irritierten Zimmermanns in schlichter Alltagskleidung mit breitkrempigem Hut und Dreitagebart, auf dem nagelneuen Moped sitzend, wurde zum Sinnbild des deutschen Wirtschaftswunders und der Arbeitsmigranten aus Südeuropa.
Billige Arbeitskräfte fürs deutsche Wirtschaftswunder
Die ersten "Gastarbeiter" waren knapp zehn Jahre zuvor ins Land geholt worden: Angesichts von Vollbeschäftigung und expandierenden Märkten suchten Industrie und Handwerk billige Arbeitskräfte. Im Oktober 1955 nahm Wirtschaftsminister Ludwig Erhard in einer Regierungserklärung vor dem Bundestag dazu Stellung.
"Im Hinblick auf die besonderen Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt wird die Bundesregierung unverzüglich Vorbereitungen treffen, um in bestimmten kritischen Arbeitsbereichen ausländische Arbeitskräfte heranzuziehen."
Bereits zwei Monate später wurde das erste Anwerbeabkommen mit Italien abgeschlossen. Es folgten weitere Vereinbarungen mit Spanien, Griechenland, der Türkei und Jugoslawien. Das Abkommen mit der Militärdiktatur Portugals unterzeichnete die Bundesregierung im März 1964. Kurz darauf trafen die ersten Portugiesen in Köln ein.
Armando Rodrigues de Sá kam nach Deutschland, weil er sich "im Land des Geldes", wie er es ausdrückte, bessere Verdienstmöglichkeiten erhoffte. Er sprach kein Wort Deutsch, ließ Frau und zwei Kinder in seinem Heimatdorf zurück und musste eine entwürdigende medizinische Untersuchung in Lissabon über sich ergehen lassen, bevor er einen Arbeitsvertrag als Zimmermann unterschreiben konnte.
In Köln begrüßten ihn Wirtschaftsvertreter und Politiker mit Musik, Blumen und Ansprachen, darunter Werner Mühlbradt von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände.
"Wir rechnen im Durchschnitt mit einer monatlichen Zunahme von etwa 20.000 und glauben, dass wir für das Jahr 1964 mit einem Saldo von 150.000 mehr abschließen."
Miserable Arbeits- und Lebensbedingungen
Die Rede des Arbeitgeber-Vertreters war symptomatisch: Wirtschaft und Politik jonglierten mit Zahlen und betrachteten die "Gastarbeiter" damals als mobile Reservearmee mit geringer Qualifikation ohne größere soziale oder rechtliche Ansprüche. Ihre Arbeits- und Lebensbedingungen waren miserabel, sie wohnten vorwiegend in Baracken und arbeiteten im Akkord- und Schichtsystem, vor allem dort, wo schmutzige oder schwere Tätigkeiten anfielen. Bis zum Anwerbestopp im Jahr 1973 stieg ihre Zahl auf 2,6 Millionen.
Die Erwartung, die ausländischen Arbeiter wären nur ein vorübergehendes Phänomen, erwies sich als Fehleinschätzung. Viele holten ihre Familien nach und richteten sich auf ein dauerhaftes Leben hierzulande ein, eine Entwicklung, auf die die deutsche Gesellschaft nicht vorbereitet war und zunächst hilflos bis abwehrend reagierte. Mit dem Satz "Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kamen Menschen" hat der Schriftsteller Max Frisch diesen schwierigen Prozess vom "Gastarbeiter"- zum Einwanderungsland prägnant zusammengefasst.
"Meine Kinder sind alle hier geboren. Ich fühle mich hier nicht als Portugiese, ich fühle mich hier als Groß-Umstädter", erklärt zum Beispiel Adolfo Castro Costa, langjähriger Präsident des Sport- und Kulturvereins Groß-Umstadt. In der südhessischen Kleinstadt lebt heute die größte portugiesische Gemeinschaft Deutschlands.
Das weitere Leben des "ein-millionsten Gastarbeiters" Armando Rodrigues de Sá war hingegen keine Erfolgsgeschichte. Er erkrankte an Krebs und kehrte nach Portugal zurück. Niemand sagte ihm, dass er Krankengeld beanspruchen konnte. So gab die Familie die in Deutschland erarbeiteten Ersparnisse für die ärztliche Versorgung aus. Armando Rodrigues starb 1979 im Alter von nur 53 Jahren. Das Moped, das man ihm 1964 bei seiner Ankunft in Köln geschenkt hatte, steht heute im Haus der Geschichte in Bonn.