Deutschlands Gasversorgung
Steht Deutschland im Winter eine Gaskrise bevor, könnte das vor allem die Chemiebranche und Lebensmittelindustrie schwer treffen. © picture alliance / Sven Simon / Frank Hoermann
Angst vor dem kalten Winter
31:22 Minuten
Gasspeicher auffüllen, Verbrauch reduzieren, Flüssiggas aus Katar einkaufen. Kann Deutschland so über den Winter kommen? Vor allem die Industrie fürchtet Einschränkungen der Produktion.
Auf der Friedrichsbrücke in Berlin spielen Straßenmusiker. Touristen fotografieren: vorne die Spree, hinten der Fernsehturm, rechts der Dom. Das Repertoire der Brücken-Band kennt Sebastian Kemper mittlerweile auswendig. Sein Arbeitsplatz liegt gleich gegenüber, in einem modernen Bürogebäude im vierten Stock. Hier entscheidet sich jeden Tag aufs Neue, wie gut Deutschland durch den Winter kommt.
Kemper und seine Kollegen kaufen Gas, rund um die Uhr, in der ganzen Welt. „Die Händler sind immer da“, so Kemper. „Ich komme meistens zwischen acht und neun, nachdem die Kinder in die Schule oder Kita gegangen sind.“ Kemper ist einer der Geschäftsführer von THE. Das steht für „Trading Hub Europe“, ein Gemeinschaftsunternehmen der elf großen Ferngasnetzbetreiber.
Durch 40.000 Kilometer Hochdruckleitungen strömt das Gas durch die Republik, 700 nachgelagerte Netze verteilen den Brennstoff weiter zu den Kunden. „Morgens kommt immer eine erste Mail aus dem Dispatching, wo der durchschnittliche Gaspreis des Tages wohl liegen wird.“ Darauf blickt Kemper immer zuerst. An diesem Morgen Mitte September liegt der Gaspreis an der Energiebörse bei 197 Euro pro Megawattstunde. Ende August waren es mehr als 300 Euro. Vor einem Jahr gab es die Megawattstunde noch für 30 Euro, also gerade mal ein Zehntel.
Gasspeicher füllen ist der Auftrag
Dass im deutschen Gas-Netz alles stabil läuft, das ist die eigentliche Aufgabe von THE. „Keeping the Balance“ – das Unternehmensmotto. Normalerweise kaufen und verkaufen Kemper und seine Kollegen nur Gas, um den Druck im Leitungssystem stabil zu halten. Regelenergiebeschaffung nennt sich das. Profit machen darf THE dabei nicht. „Wir haben immer sehr viel Geld bewegt durch unseren Regelenergiehandel. Es gab immer auch schon mal Tage, wo wir 30, 50, 60 Millionen Euro am Tag für Gas ausgegeben haben oder auch für Gas kassiert haben, weil wir auch verkaufen im Sommer.“ Aber die Summen, mit denen sie derzeit hantieren, seien besonders. „So viele Nullen kann man sich ja kaum vorstellen.“
55 Prozent der Gaslieferungen kamen 2021 aus Russland. Die müssen nun ersetzt werden. Seit Juni kauft THE Gas im Auftrag der Bundesregierung. 15 Milliarden Euro hat die zur Verfügung gestellt. Gasspeicher füllen, das ist die Order. Mehr als 40 dieser Speicher gibt es in Deutschland. Die gigantischen Hohlräume sind Puffer- und Reservekapazität zugleich. Komplett gefüllt können sie das Land zwei bis drei Monate lang mit Gas versorgen. „Das ist für die Dispatcher natürlich auch eine ganz spannende Zeit“, sagt Kemper, „und dieses 24/7 ist natürlich auch ein herausfordernder Job, muss man sagen“.
Flüssiggas für Deutschland
Über einen langen Flur geht es, vorbei an hellen Holztüren. Kemper erinnert sich noch gut an den ersten Regierungsauftrag. Der kam im März. „Da bekam ich feuchte Hände“, sagt er. Flüssiggas für Deutschland sollten sie ordern. Damit hatte THE keine Erfahrung. Das sogenannte LNG-Gas wird auf minus 162 Grad gekühlt, verflüssigt und kann dann per Schiff um die halbe Welt transportiert werden. Deutschland fehlte aber die nötige Infrastruktur zur Entladung. Deshalb musste das LNG in anderen europäischen Häfen angelandet und dann ins Gasnetz eingespeist werden.
Zehn Ladungen, sogenannte Cargos, sollten Kemper und seine Kollegen beschaffen. „Dann haben wir eine weltweite Ausschreibung gemacht, relativ spontan, innerhalb von einer Woche oder zehn Tagen und haben zehn LNG-Cargos gekauft.“ Die seien mittlerweile über ganz Deutschland verteilt, in Speichern auch eingespeichert, sozusagen als „Last Reserve“ für die Bundesregierung.
Eine erste Energie-Versicherung für den Winter. Für insgesamt 1,5 Milliarden Euro. Nun werden auf die Schnelle provisorische LNG-Terminals auch an der deutschen Küste gebaut, die noch in diesem Jahr erste Gaslieferungen annehmen sollen.
Die Anweisung ist klar: Kaufen, kaufen, kaufen
„Nicht erschrecken, wir bringen jemanden mit, der vom Deutschlandfunk ist und mal kurz einen Blick reinwerfen wollte, wie ihr hier arbeitet“, kündigt Kemper den Radio-Reporter bei der Führung durch die Büroräume an. Die beiden Mitarbeiter nicken. Ein älterer Mann mit Vollbart und eine jüngere Frau mit großer Brille sitzen sich gegenüber.
Auf ihren Schreibtischen je zwei große Monitore mit Zahlen, Kurven, Diagrammen. In der Ecke eine Grünpflanze, die Rucksäcke der Gas-Händler stehen auf dem Boden. Oben auf den Monitoren thront ein Maskottchen aus der Fernsehserie SpongeBob. „Man sieht die Preise, den Börsenbildschirm, also alles, was die Kollegin und die Kollegen brauchen, um hier so das Gas einzukaufen, wie wir es wollen“, und so wie die Bundesregierung es will.
Deren Anweisung ist klar: kaufen, kaufen, kaufen. Aus Norwegen zum Beispiel, den Niederlanden oder Belgien. „Bei uns ist natürlich, anders als bei allen anderen, Geld nicht die endgültig bestimmende Komponente. Das heißt, wir können halt immer noch ein bisschen mehr zahlen als die anderen, weil die Versorgungssicherheit und nicht der Profit im Vordergrund steht – beziehungsweise überhaupt zählt.“
Deutsche Gasoffensive lässt Preise steigen
Die deutsche Gasoffensive treibt den Preis und verknappt das Angebot. Doch auch Sebastian Kemper und seine Kollegen müssen gelegentlich eine Pause einlegen. „Es gibt da noch eine Kennlinie. Wir könnten nicht unendlich viel Gas kaufen, weil wir es da gar nicht reinkriegen, sondern wir gucken dann, wie viel Kapazität kriegt man in diesen Speicher pro Tag?“, so Kemper. „Diese Mengen versuchen wir zu beschäftigen oder zu kaufen. Es dauert dann trotzdem 100 Tage, bis so ein Speicher voll ist.“
95 Prozent Speicherfüllstand im November, plus 20 Prozent Einsparung bei Industrie und Verbrauchern, dazu noch verstärkter Import von Flüssiggas – das ist grob die Formel, mit der die Bundesregierung das Land durch die Gaskrise steuern will.
"Wir wissen nicht, wie kalt der Winter wird"
Hans-Joachim Polk sitzt vor seinem Laptop in der Zentrale von VNG in Leipzig und scrollt sich durch die „Transparenzplattform Gas“. Die zeigt die tagesaktuellen Füllstände aller europäischen Gasspeicher. Polk ist Vorstand Infrastruktur/Technik bei der Verbundnetz Gas AG. 18,5 Milliarden Euro Umsatz machte das Unternehmen im vergangenen Jahr und ist damit der drittgrößte Gashändler der Republik und einer der großen Speicherbetreiber.
Polk ruft die Angaben zu den deutschen Speichern auf. „Erstmal sehen wir, dass zurzeit die deutschen Speicher prozentual zu 62,27 Prozent gefüllt sind.“ Anfang Juli ist das. Ein für die Jahreszeit guter Füllstand, urteilt Polk. Trotzdem stehen ihm die Schweißperlen auf der Stirn. Nicht nur, weil draußen die Sonne knallt. Ihn treibt die Sorge um – vor dem Winter.
400 Stadtwerke und Industriebetriebe – vor allem in Ostdeutschland – beliefert VNG mit Gas. Gas, das das Unternehmen jahrzehntelang direkt oder indirekt vor allem aus Russland bezog und das jetzt deutlich spärlicher fließt. Die Bundesregierung hat die sogenannte Alarmstufe des „Notfallplans Gas“ ausgerufen. Der soll im Krisenfall die Gasversorgung regeln.
„Wir wissen nicht, wie kalt der Winter wird. Wir kennen die ganzen Einflüsse nicht. Von daher kann ich nur sagen: Bitte alle, jetzt vorbereiten, jetzt überlegen, um dann wirklich für den Winter und für mögliche weitere Einsparungen vorbereitet zu sein“, ist Polks Appell. Die VNG-Speicher sind im Juli bereits zu 84 Prozent gefüllt.
Es sind zum einen sogenannte Kavernenspeicher, die VNG in Sachsen-Anhalt und in Niedersachen betreibt. Das sind unterirdische, künstlich angelegte Hohlräume in mächtigen Salzschichten. „Ich denke mal, das Völkerschlachtdenkmal in Leipzig ist vielen ein Begriff in der Region. So etwas können Sie zweimal in so eine Kaverne reinstecken, hat so ein Volumen von 50.000 Kubikmeter“, erklärt Polk. Das sei die eine Variante. Ihr Vorteil: „Sie ist sehr flexibel. Wir können in schneller Geschwindigkeit ein- wie ausspeichern, und das hat die Kavernen in letzter Zeit auch ausgezeichnet.“
Porengasspeicher dagegen liegen in porösen Gesteinsschichten und lassen sich viel langsamer befüllen und entleeren. Der größte Gasspeicher Deutschlands im niedersächsischen Rehden ist so ein Porenspeicher. 3,9 Milliarden Kubikmeter kann er fassen, ein Fünftel der gesamten deutschen Speicherkapazität.
Doch zu Jahresbeginn war er quasi leer. Wohl kein Zufall, denn der Speicher gehört Astora, einer Tochter der Gazprom Germania. Erst als im April die Bundesnetzagentur die Treuhandschaft für das Unternehmen übernahm, wurde die Befüllung hochgefahren. Anfang Juli ist der Speicher zu rund einem Viertel gefüllt. Doch wie lange noch Gas aus Russland kommt, ist zu diesem Zeitpunkt ungewiss.
VNG muss weitere Staatshilfen beantragen
North Stream 1 wird Mitte Juli routinemäßig außer Betrieb genommen. „Die Wartung startet ja am 11. Juli. Die sind jetzt bei 40 Prozent des normalen Volumens. Ich habe noch einen Funken Hoffnung, dass wir danach auch wieder dahinkommen“, sagt Polk.
Fest steht: Je stärker Gazprom die Lieferungen über North Stream 1 drosselt, desto mehr muss VNG zukaufen. Gas, das zu den vereinbarten, deutlich niedrigeren Preisen an die Vertragskunden abgegeben werden muss. Mit der Folge, dass der Konzern Tag für Tag Verluste einfährt. Doch die finanzielle Lage möchte Polk zu diesem Zeitpunkt nicht kommentieren. Die Kreditanstalt für Wiederaufbau und die Konzern-Mutter EnBW unterstützen das Unternehmen. Der Kreditrahmen wurde um eine Milliarde erhöht. Doch das wird nicht reichen. Anfang September muss VNG weitere Staatshilfen beantragen.
Gasöfen bei Großbäckereien
Knapp 400 Kilometer weiter westlich wird Gas verfeuert, um riesige Backöfen zu beheizen. Zehn Produktionslinien arbeiten rund um die Uhr. Im Sekundentakt greifen zwei Industrieroboter Kuchenformen, platzieren sie auf einem Fließband. Das ruckelt Richtung Teigstation und dann weiter zu den großen Backöfen.
Es ist Mitte Juli in Soest, einer Kleinstadt auf halbem Weg zwischen Paderborn und Dortmund. Gerade werden hier Pucks gebacken. „Schokoladenkuchen mit einer Sahnefüllung oder einer Cremefüllung und mit Kuvertüre“, sagt Geschäftsführer Fabian Meiberg. „Das ist eine Fotozelle“, warnt ein Mitarbeiter – und Meiberg, in Schutzanzug mit Haar- und Bartnetz, hebt entschuldigend die Hand. Er hat die Lichtschranke übersehen und so den Produktionsprozess gestoppt.
Mehr als 20.000 Kuchen entstehen hier pro Stunde bei der Firma Kuchenmeister, einem der größten Hersteller von süßen Backwaren in Europa. „In diesem Fall backen wir 36 Kuchen in einer Form auf einmal, und die fahren dann durch den Ofen, das ist ein Fließbanddurchlaufofen, zur nächsten Station“, erklärt Meiberg. „Der Ofen wird mit Gas beheizt: einer, wie wir ihn in vielen Produktionslinien verwenden.“
Deutsche Industrie im Krisenmodus
Aber das Gas könnte bald knapp werden. Alle Großverbraucher mussten in den letzten Wochen ihre Gas-Bedarfe an die Bundesnetzagentur melden. Auch die Firma Kuchenmeister. „Wir haben dort angekündigt, dass wir natürlich als Lebensmittelhersteller wichtig sind, um die deutsche Bevölkerung zu ernähren. Wir backen hier am Standort neben Kuchen auch Vollkornbrot“, sagt Meiberg. „Aber wie da am Ende entschieden wird und welche Ressourcen überhaupt zur Verfügung stehen, die dann auch die Stadtwerke Soest aufteilen können, ist uns heute nicht bekannt.“
Seit Monaten ist die gesamte deutsche Industrie im Krisenmodus. Jedes Unternehmen betont seine Systemrelevanz, versucht seine Ausgangsposition für den Gasmangelfall zu verbessern. 37 Prozent des Gasverbrauchs geht hierzulande auf Kosten der Industrie. Der größte Verbraucher ist die Chemiebranche, gefolgt von der Lebensmittelindustrie. „Dass so viele Dinge gleichzeitig kommen, ist noch nie dagewesen“, so Meiberg. Rohstoffknappheit, Verpackungsmaterial-Knappheit, Personalmangel und jetzt auch Energiekrise. „Das hat es noch nicht gegeben.“
Suche nach Gasersatz
Dabei sah sich Kuchenmeister eigentlich gut für die Zukunft gewappnet. Das Familienunternehmen gilt in Sachen Energieeffizienz als Vorbild. Die Abwärme der Öfen wird genutzt. Auf den Dächern der Produktionshalle erzeugen Photovoltaikanlagen Strom. Die LKW-Flotte ist schon lange auf Gas umgerüstet. Energie sparen, wo immer es geht. Weg vom Öl, hin zum umweltfreundlicheren Gas und zu regenerativen Energien – das ist seit über zehn Jahren die Firmenstrategie.
Doch nun muss vollkommen neu kalkuliert werden. Die Einsparpotenziale sind schon lange ausgeschöpft, jetzt bleibt nur die Suche nach einem Gasersatz. „Wir können zum Beispiel diese Brenner ohne große Probleme umstellen auf Öl, und wir denken, dass wir mit Öl noch langfristiger versorgt werden“, sagt Meiberg. Etliche Ölbrenner sind bestellt, Platz für den Einbau wird gerade geschaffen.
Doch nicht bei allen Öfen wird das funktionieren. Der Baumkuchen etwa, ein Klassiker im Unternehmensangebot, wird traditionell an einer offenen Gasflamme gebacken. „Natürlich müssen wir auch intern überlegen, wenn es dazu kommt, dass wir vielleicht eine prozentuale Versorgung nur bekommen, welche Produkte wir dann herstellen“ Intern arbeiteten Experten bereits an der sinnvollsten Lösung, „was den Verbrauch angeht, aber auch auf Kundenseite, wie wir es am besten machen können“.
Vorbereitungen für den Notfall
Mit dem Fahrstuhl geht es nach oben im Hochhaus am Bonner Tulpenfeld. Dem Sitz der Bundesnetzagentur. Hier fließen alle Daten rund ums Gas zusammen. Bis Ende Mai hatten große Industrie-Verbraucher Zeit, ihre Bedarfe anzumelden. Für den Aufbau der sogenannten. „Sicherheitsplattform Gas“.
„Das sind also wirklich schon sehr, sehr große Verbraucher. Das sind in Deutschland rund 2700 Unternehmen, die wir alle angeschrieben haben, wo wir eine enorm hohe Rückmeldequote haben von fast 100 Prozent dieser Unternehmen, die dort eben ihre Gasverbräuche und die Spezifika eingetragen haben und jetzt aktuell halten können“, sagt Fiete Wulff. Seit gut acht Jahren ist er Pressesprecher der Bundesnetzagentur. Die wacht über den Wettbewerb in den sogenannten Netzmärkten, also Gas, Strom und Telekommunikation.
Doch seit Ausrufung der Gas-Frühwarnstufe im März sind ihre Aufgaben vielfältiger geworden. Dutzende Gesetze und Verordnungen sind in den letzten Monaten verabschiedet worden, um die Energieversorgung in Deutschland zu sichern. Täglich veröffentlicht die Bundesnetzagentur nun Situationsberichte, berechnet Szenarien zur Versorgungssicherheit – und sie bereitet sich auf den Worst Case vor: die Ausrufung der Gasmangellage. Dann nämlich wird die Bundesnetzagentur bestimmen, wer wieviel Gas erhält.
Wenn das Gasnetz sich abschaltet
„Wir sind in der Lage, einen 24/7 Schichtbetrieb im Krisenzentrum hier aufrechtzuerhalten“, so Wulff. „Wir sind in der Lage, jederzeit kurzfristig solche Entscheidungen zu treffen. Dafür brauchen wir eine fundierte Lagebewertung. Das bereiten wir vor. Dazu brauchen wir funktionierende Kommunikationsstränge mit den Unternehmen, mit der Gaswirtschaft, mit den Schaltzentralen der Fernleitungsnetzbetreiber, auch das bereiten wir intensiv vor.“ Um im Fall der Fälle die Gasversorgung stabil zu halten und zu verhindern, dass der Druck in Teilen des Netzes zu stark abfällt.
Denn sinke der Druck zu sehr ab, schalteten sich überall die Sicherheitsventile zu, so Wulff. Das gesamte Gebiet, das gesamte Netz würde dann von der Versorgung abgekoppelt werden, „und das ist anders als im Strombereich. Der Strom fällt aus und dann ist er wieder da, dann leuchtet die Glühbirne wieder.“ Beim Gasnetz müsste ein Fachmann die Ventile wieder öffnen. „Das ist in einer mittelgroßen Stadt, in einer Großstadt, in einem ländlichen Gebiet, völlig egal wo, sicherlich eine Sache von Tagen und Wochen, bis man dann die Gasversorgung wiederhergestellt hätte“, erklärt Wulff.
Kritische Infrastruktur wird geschützt
Grundsätzlich geschützt vor einer Abschaltung sind private Haushalte, Kleinverbraucher und kritische Infrastruktur wie etwa Krankenhäuser, Pflegeheime, Kitas, Schulen, Polizei oder Feuerwehr. Sie werden so lange beliefert, wie es geht.
Kleinere Industriebetriebe würden im Mangelfall pauschal zehn,15, 20 oder 30 Prozent weniger Gas bekommen, so Wulff. Bei den Großverbrauchern wird individuell entschieden. „Wir würden dann zusätzlich berücksichtigen wollen, zum Beispiel Vorlaufzeiten: Wie lange brauchen Unternehmen, um ihren Verbrauch geregelt, ihre Produktion geregelt herunterzufahren, wie groß sind bleibende Schäden?“ All das würde die Bundesnetzagentur abfragen, um das nach Möglichkeit zu berücksichtigen.
Wirtschaftsprognosen sind schwierig
Mit den Folgen der Gaskrise beschäftigt sich auch Stefan Kooths – nicht für ein einzelnes Unternehmen, sondern für die gesamte Volkswirtschaft. An einem Donnerstag Anfang September eilt er in der Landesvertretung Schleswig-Holstein in Berlin eine helle Holztreppe nach oben, den Alukoffer in der Rechten.
Der Wirtschaftsprofessor ist spät dran. Er musste vormittags länger rechnen als geplant. „In der Krise rechnen ist nicht ganz einfach“, sagt er. „Denn, was wir ja versuchen in der Konjunkturprognostik, ist, aus Mustern zu lernen und daraus Schlüsse darüber zu ziehen, wie es mit der wirtschaftlichen Entwicklung weitergeht. „Wenn jetzt so heftige, wir nennen das dann Schocks eintreten, die aus heiterem Himmel kommen, dann macht das natürlich das Prognosehandwerk schwieriger, aber zugleich auch interessanter.“
Voraussichtlich kein Gasmangel in diesem Winter
Kooths ist Vizepräsident des Kieler „Institut für Weltwirtschaft“ (IfW). Wohin steuert die deutsche Volkswirtschaft? Was treibt die Märkte? Dazu äußert er sich regelmäßig. Zweimal im Jahr bittet die Bundesregierung das IfW und vier weitere Wirtschaftsforschungsinstitute um einen ökonomischen Ausblick, die sogenannte Gemeinschaftsdiagnose.
In diesem Frühjahr mussten Kooths und Kollegen erstmals mit dem Gasmangel rechnen. „Da stand im Raum, ob wir ab Mitte April, also mit Veröffentlichung des Gutachtens, ob dann noch weitere Gaslieferungen folgen.“ Für diesen Fall sei die Aussage getroffen worden. „Wenn also ab April dieses Jahres kein russisches Gas mehr gekommen wäre, dann hätten wir in diesem Winter voraussichtlich eine Gasmangellage gehabt.“
Es hätte nicht mehr für alle gereicht: der Worst Case. Doch Russland lieferte damals weiter, drehte dann aber Schritt für Schritt den Gashahn zu. Kooths und seine Kollegen rechneten wieder. Mit zehn Faktoren – unter anderem verfügbare Gasmenge, mögliche Einsparpotenziale, Wettereinflüsse, Preisgestaltung.
Gut 1000 Simulationen schickten sie durch ihre Rechner. „Damit wir jetzt nicht alle 30 Tage mit einer neuen Studie aufwarten müssen, haben wir im Juni das Modell so gebaut, dass wir für jeden ersten eines Monats die Ergebnisse schon mal bestimmt haben“, so Kooths. „Deshalb können wir jetzt mit den Ergebnissen erst einmal arbeiten, die uns sagen Lieferstopp ab 1. September.“ Die aktuelle Einschätzung lautet: Voraussichtlich kein Gasmangel in diesem Winter, aber eine angespannte Situation noch im nächsten, und die Preise bleiben hoch.
Wirtschaftsabschwung wegen hoher Gaspreise
Das hat Folgen. Die Ökonomen gehen davon aus, dass es im nächsten Jahr zu einem wirtschaftlichen Abschwung kommen wird, und die Verwerfungen werden nicht an den deutschen Grenzen haltmachen. Denn auch die anderen EU-Staaten brauchen dringend Gas.
„Im Zweifel wird ja der das Gas bekommen, der am meisten dafür auf den Tisch legt. Ich glaube, da muss man nicht allzu viel in die Solidaritätsprosa hineininterpretieren“, sagt Kooths. „Das ist nun mal so und das lasse ich jetzt erst einmal so stehen. Unsicherheitsfaktoren gibt es natürlich überall da und das ist dann auch für die politische Debatte in Europa vermutlich wichtig: Wie ist man bereit, sich gegenseitig zu helfen?“
Neue Flüssiggas-Terminals an der Küste
Wilhelmshaven, in der dritten Septemberwoche: Schnurgerade zieht sich die Straße „Am Tiefen Fahrwasser“ hinter dem Deich entlang. Rechts die Nordsee, links eine große Raffinerie. Entlang der Straße arbeitet rund ein Dutzend Bagger. Einige heben Schächte für Gasröhren aus. Mehr als 1500 werden hier aneinandergeschweißt, führen knapp 30 Kilometer ins Hinterland, zum nächsten Gasspeicher in Etzel.
Vorne, auf der alten Anlande-Brücke, einige hundert Meter vom Ufer entfernt, rammen Arbeiter riesige Stahlpfeiler in den Meeresgrund. Hier entsteht die neue Anlegestelle für ein schwimmendes LNG-Terminal: ein Industrieschiff, das komprimiertes, auf minus 162 Grad gekühltes Gas wieder in den ursprünglichen Zustand zurückverwandeln kann.
Bau in kürzester Zeit
„Normalerweise braucht man für ein solches Projekt mindestens fünf Jahre, inklusive Planung, Einkauf, Errichtung, Genehmigung. Wir versuchen das innerhalb von kürzester Zeit fertigzustellen. Das ist eine Herausforderung“, sagt Christian Janzen, der für den Energie-Konzern Uniper das Projekt koordiniert. Die andere Herausforderung: das Wetter. „Denn jeder Tag Sturm, wo wir nicht bauen können, heißt einen Tag Verzögerung.“
Janzens Unternehmen soll dafür sorgen, dass Gas vom Terminal ins Netz eingespeist werden kann. Uniper ist einer der größten Gashändler Deutschlands, importierte den Brennstoff vor allem aus Russland. Zwölf Milliarden Euro Verlust machte das Unternehmen allein im ersten Halbjahr 2022. Um Uniper vor der Pleite zu retten, steigt nun der Staat ein und wird zum neuen Eigentümer.
LNG-Gas aus Australien, Katar und den USA
Derweil arbeiten Janzen und seine Kollegen an den schwimmenden Terminals, um Ersatz für russisches Gas zu besorgen. „Wir schaffen bis zu 7,5 Milliarden Kubikmeter LNG, das entspricht so ungefähr acht Prozent des deutschen Erdgasverbrauches“, sagt er. Insgesamt fünf Flüssiggasterminals sollen in Zukunft das LNG-Gas, das über den Seeweg geliefert wird, ins deutsche Netz einspeisen. Das könnte rund die Hälfte der russischen Gaslieferungen ersetzen.
Der Brennstoff kommt aus Australien, Katar und den USA. Darunter ist auch Fracking-Gas, dessen Förderung ganze Landstriche zerstört. Wilhelmshavens parteiloser Oberbürgermeister Carsten Feist sieht diese Gaslieferungen nur als Zwischenlösung.
Es gebe im Moment Alternativen, die „mehr oder weniger gut oder schlecht sind“, sagt er. „Das muss man ehrlich auch so sagen. Natürlich ist jede Kilowattstunde Strom, die wir mit fossiler Energie erzeugen, fürs Klima schädlich. Wir müssen uns auch mit der Frage beschäftigen, unter welchen Bedingungen dieses Gas in den Herkunftsländern produziert wird. Aber wir werden im Moment keine Lösungen finden, die allen ökologischen, sozialen, politischen und ethischen Standards gerecht wird.“
Auf Kosten des Klimas und der Umwelt
Versorgungssicherheit first. Umwelt und Klima später. Das ist der Gas-Deal in Wilhelmshaven. Doch der darf langfristig nicht zu einer neuen Abhängigkeit führen, mahnt Feist. „In Wirklichkeit wollen wir aber in die regenerativen Energien.“ Deswegen was jetzt gebaut wird, die Pipeline aber auch die Anleger, „green gas ready“. „Das heißt, sie sind von der Technologie her, von der Materialbeschaffenheit her so gebaut, dass dann eben, ich hoffe, in fünf Jahren, in spätestens sieben Jahren auch Wasserstoff durch die Röhren geht, damit wir dann auch das fossile Energiezeitalter endgültig hinter uns lassen.“
Erstmal aber warten alle auf die erste LNG-Lieferung: Mitte Dezember soll der Anleger fertig sein, dann das schwimmende Terminal festmachen. Kurz vor Weihnachten wird der erste Tanker erwartet.
Unsichere Lieferketten
Bei der Firma Kuchenmeister laufen weiter die Backwaren vom Band. Die ersten Ölbrenner sind installiert. Im Oktober sollen Dreiviertel der Öfen umgestellt sein. So will die Firma 70 Prozent ihres Gasverbrauches reduzieren. Auch weitere Sparmaßnahmen hat man durchgerechnet: Es könnten Produktionslinien stillgelegt oder die Anzahl der Schichten reduzieret werden, sagt Geschäftsführer Fabian Meiberg. Produktionseinschränkung zur Energieeinsparung. Das kann funktionieren.
Doch ob im Fall des Gasmangels wichtige Vorprodukte – etwa Öl, Mehl, Eier und Verpackungsmaterial – noch geliefert werden, das weiß hier niemand. “Nehmen wir mal an, die Firma ist systemrelevant und bekommt 100 Prozent ihres Gases, um zu produzieren. Werden wir versorgt mit Rohstoffen und Verpackung? Oder werden unter Umständen Betriebe, die uns beliefern, abgeschaltet, weil sie nicht als relevant gelten? Am Ende sind wir dann auch Leidtragende.“
Die Gasspeicher sind voll
Auf der Berliner Friedrichsbrücke, gleich hinter dem Dom, spielen immer noch die Straßenmusiker. Ende September liegt der Gaspreis um die 170 Euro pro Megawattstunde. Verbraucher und Unternehmen ächzen unter den Energiekosten. Die Bundesregierung kündigt einen Energiepreisdeckel an.
Sebastian Kemper und seine Kollegen von THE kaufen weiter Gas. “Dieses Speicher-Gesetz ist ja auch auf drei Jahre befristet. Wir hoffen mal, dass danach alles wieder normal ist“, sagt Kemper. „Unsere Kernaufgabe ist weiterhin die Regelenergie, und da haben wir natürlich auch keinen bangen Blick. Aber wir sind gespannt, was der Winter da so bringt.“
Die Speicher sind voll, die Arbeiten an den LNG-Terminals sind im Zeitplan. Bei THE denkt man mittlerweile über bisher Undenkbares nach: den Verkauf von Gas. „Dass wir jetzt auch anfangen werden, in naher Zukunft die Mengen wieder auf den Markt zu geben für den Februar und März. Weil es auch wichtig ist für den Markt zu wissen, das Gas kommt auch wieder raus, wir sind kein Eichhörnchen, was irgendwie jetzt Nüsse einsammelt und die nicht mehr wiederfindet im Februar. Doch wir wissen sehr genau, wo das ist, und wir wissen auch genau, wann wir es wie verkaufen.“
"Wir sind heute besser vorbereitet als im Frühjahr"
Während bei der THE bereits über den Verkauf von Gas nachgedacht wird, beobachtet man bei der Bundesnetzagentur weiterhin argwöhnisch die aktuellen Verbrauchsdaten. “Wir sind jetzt, Mitte September, deutlich besser vorbereitet, als wir das im Frühjahr waren“, fasst Fiete Wulff, Pressesprecher der Bundesnetzagentur, die Lage zusammen.
Die deutschen Gasspeicher haben – Wochen vor dem anvisierten Termin – die 90 Prozent-Marke geknackt, obwohl kaum Gas aus Russland kommt. Dafür haben Norwegen, Belgien und die Niederlande ihre Lieferungen erhöht und der heimische Gasverbrauch ist zurückgegangen. „Wir sehen einen deutlichen Rückgang des Gasverbrauchs in der Industrie im Juli 21, im August 22 Prozent, der sicherlich zurückzuführen ist auf die sehr, sehr hohen Preise, der bei der Industrie sicher auch mit harten Produktionsrückgängen verbunden ist“, so Wulff. „Insofern ist er eher auch Zeugnis der Schwierigkeiten, die wir insgesamt bei der Gasversorgung haben“, und auch kein Anlass für Entwarnung, zumal der Verbrauch zuletzt wieder angestiegen ist.
Für die Kommunen gilt seit September ein verordneter Sparkurs: Raumtemperatur auf 19 Grad absenken, überflüssige Beleuchtung abschalten, warmes Wasser zum Händewaschen abdrehen. Das sind nur einige der Sparmaßnahmen. In den nächsten Wochen kommt es auf das Wetter an und auch auf das Heizverhalten der Verbraucher, sagt Fiete Wulff. 31 Prozent des Gasverbrauchs geht aufs Konto von Privathaushalten.
Welchen Einspareffekt die enorm gestiegenen Preise haben werden, ist noch unklar, ebenso wie die Wirkung der angekündigten Gaspreisbremse. Auf 20 Prozent weniger Verbrauch hofft die Bundesnetzagentur und bleibt weiter im Alarmmodus. “Was erwarten wir auch für die nächsten Tage und Wochen? Kommen wir aus der Kältewelle raus oder laufen wir in die Kältewelle rein? Wie viel Gas bekommen wir aus anderen Quellen? Wo befinden wir uns im Netz? Ist es ein regionaler Engpass? Ist es ein bundesweiter Engpass? Das ist etwas, was man dann hier im Krisenstab der Bundesnetzagentur nach Lage wird bewerten und entscheiden müssen.“
Sprecherin: Johanna Zehendner
Technik: Jan Fraune
Regie: Frank Merfort
Redaktion: Gerhard Schröder