Gay Talese: "Der Voyeur"

Die nackte Wahrheit

Cover des Buchs "Der Voyeur", im Hintergrund ein Brautpaar im Bett eines Hotelzimmers
Cover des Buchs "Der Voyeur", im Hintergrund ein Brautpaar im Bett eines Hotelzimmers © Tempo / imago/imagebroker / Collage: Deutschlandradio
Von Svenja Flaßpöhler |
Durch ein Guckloch beobachtet ein Motelbesitzer, was seine Gäste im Bett so treiben. Laut Starreporter und Autor Gay Talese hat seine Hauptfigur in "Der Voyeur" ein reales Vorbild. So oder so wirft sein Buch drängende Fragen in Bezug auf Macht und Moral von heimlichen Beobachtern und Überwachern auf.
Gerald Foos, Motelbesitzer, geht es um die nackte Wahrheit. Den echten Sex. Einen Sex, der nicht (wie im Porno) für eine Kamera als authentisch inszeniert wird, sondern sich spontan ereignet zwischen Menschen, die sich unbeobachtet wähnen. Wähnen, wohlgemerkt. Um seine voyeuristische Neigung zu befriedigen hat Foos nämlich in zwölf der insgesamt 21 Motelzimmer Gucklöcher installiert. In die Decke. Direkt über das Bett. Und zwar so, dass er alles beobachten kann, aber selbst nicht gesehen wird.
Und wie es sich für die nackte Wahrheit gehört, ist auch Foos keine Figur, sondern durch und durch real. Ihn gibt es wirklich. Seine Geschichte ist wahr. Zumindest behauptet genau das Gay Talese, der US-amerikanische Starreporter und Autor des Buches. Foos, so ist gleich zu Beginn zu lesen, habe im Jahr 1980 erstmals Kontakt zu ihm aufgenommen, per Brief. "Um die alte Frage zu beantworten, wie Menschen sich wirklich sexuell verhalten", schreibt Foos an Talese, habe er seit 1966 weite Teile seines Lebens liegend auf dem Dachboden seines Motels verbracht: "Ich tat dies einzig aufgrund meiner grenzenlosen Neugier, nicht weil ich lediglich ein gestörter Spanner wäre."
Weit entfernt davon, rein sexuell zu sein, ist die Neugier des Gerald Foos getragen von einem "Willen zum Wissen", den der Historiker Michel Foucault just zu jener Zeit (1976) zur Triebfeder der Sexualwissenschaften erklärte. Ganz in diesem Sinne versteht sich auch Foos als Forscher. Seine Beobachtungen hält er akribisch in einem "Tagebuch" fest, das uns Talese nun, viele Jahre später, in ausgewählten Auszügen zu lesen gibt.

Macht und Ohnmacht des Voyeurs – zwei Seiten seiner Lust

Die nackte Wahrheit, wie genau also sieht sie aus? Die Antwort lautet: Düster. "Man sieht einem Menschen in der Öffentlichkeit fast nie an, in welcher privaten Hölle er lebt", hält Foos an einer Stelle fest. "Ich bin mir sicher, würde man das Leid der Menschen in seiner Gesamtheit enthüllen, es würde einen massenhaften Genozid zur Folge haben."
Paare, die sexuell nicht zueinander finden. Männer, die vom weiblichen Geschlecht nicht die geringste Ahnung haben. Frauen, die nicht wissen, wohin mit ihrem Frust. Aggression, Langeweile, Schweigen. Die Wahrheit des Menschen, so Foos, ist sein Unglück. Und seine Falschheit. Zornig und hilflos beobachtet der Voyeur von seinem Posten aus immer wieder Hotelgäste, die im öffentlichen Raum Vornehmheit vorgaukeln, im Schutz des Zimmers aber ihre Popel und Fettfinger im Bettzeug abwischen. Foos kann nicht eingreifen, ohne sich zu verraten; selbst einem Mord muss er tatenlos zusehen: Macht und Ohnmacht des Voyeurs gehen Hand in Hand, sind die zwei Seiten seiner Lust.
Stark sind Foos' Beobachtungen immer dann, wenn er die menschlichen Abgründe in den Blick nimmt und in seinem obligatorischen "Fazit" auf fast rührende Weise engführt. Viele seiner Eintragungen jedoch könnten genauso gut einem pornografischen Roman entnommen sein. Große männliche Geschlechtsteile, Fellatio, Gruppensex, stöhnende Frauen: Auch die Lust des Gerald Foos ist letztlich stereotyp, Ausdruck eines kollektiven sexuellen Phantasmas.

"Den wirklichen Sex" gibt es nicht

Wie real also ist das Reale, das Foos uns zu zeigen vorgibt? Diese Frage ist in der Tat mehr als berechtigt – gibt es doch an der Korrektheit der Aufzeichnungen starke Zweifel, wie Talese selbst in einem Nachwort anmerkt. Der erwähnte Mord etwa, den Foos beobachtet haben will, ist in keiner Polizeiakte auffindbar.
Der Wert des Buches jedoch wird dadurch in keiner Weise gemindert, zeigt sich doch nur einmal mehr, dass es "den wirklichen Sex" schlicht nicht gibt. Ja, der wahre Erkenntnisgewinn dieses Werks liegt im Grunde gar nicht ausschließlich im Sexuellen, zumal Foos von seinem Beobachterposten aus über weite Strecken überhaupt keinen Sex beobachtet, sondern zumeist nur einen laufenden Fernseher.
Mindestens genauso interessant am Fall Foos ist die Verschaltung von Macht und Moral im unbeobachteten Beobachter. So ist sich Gerald Foos vollkommen sicher, keine Schuld auf sich geladen zu haben. Niemand seiner Gäste habe schließlich gewusst, beobachtet worden zu sein. Ob, so gibt Foos dem Autor gegenüber zu bedenken, die heutige Überwachungstechnologie denn nicht viel verwerflicher sei als sein kleiner, privater Voyeurismus, an dem niemand Schaden genommen hat? Eine von vielen komplexen Fragen, die dieses Buch aufwirft.

Gay Talese: Der Voyeur
Aus dem amerikanischen Englisch von Alexander Weber
Tempo, Hamburg 2017
224 Seiten, 20 Euro

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