Gay Talese: "High Notes"
Reportagen
Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Alexander Weber
Hoffmann & Campe Verlag, Hamburg 2018
368 Seiten, 22 Euro
Reportagen mit Raffinesse und Eleganz
55 Seiten im Magazin "Esquire" über Frank Sinatra machten Gay Talese vor mehr als 50 Jahren schlagartig berühmt. Zum 85. Geburtstag des US-Journalisten erscheint nun ein dicker Sammelband mit seinen Reportagen. Rezensentin Eva Hepper ist begeistert.
Eigentlich war die Lage aussichtslos. Über Wochen hinweg, fast den gesamten Winter 1965 hindurch, bemühte sich Gay Talese um ein Interview mit Frank Sinatra. Doch zunächst wurde ein fest verabredeter Termin wegen Halsschmerzen abgesagt, dann ließ sich partout kein Ausweichdatum finden.
Den Artikel über den legendären Entertainer, der gerade ein famoses Comeback feierte, sterben zu lassen, war keine Option. Weder für den jungen Journalisten, noch für seinen Auftraggeber, das amerikanische "Esquire"-Magazin. Also interviewte Gay Talese Sinatras Umfeld: über 100 Leute, darunter Schauspieler, Musiker, Studiobosse, Produzenten – tatsächlich eine reine Männerwelt – aber auch Freunde und Freundinnen, Familienmitglieder und einige seiner Bediensteten.
Sinatra-Artikel machte Talese über Nacht berühmt
So entstand "Frank Sinatra ist erkältet", ein 55-seitiger Artikel, der seinen Autor über Nacht berühmt machte und vom "Esquire" Magazin Jahrzehnte später "zur besten Geschichte aller Zeiten" gekürt wurde (hier das englischsprachige Original). Zum 85. Geburtstag von Gay Talese erscheint das journalistische Glanzstück nun gemeinsam mit anderen seiner großen Reportagen in einem dicken Jubiläumsband.
Mit stilistischer Raffinesse und Eleganz schreibt Talese über jedwedes Thema und die verschiedensten Charaktere. Er porträtiert die Welt der Mafia ("Das Verschwinden Joe Bananos") genauso wie das Imperium der New York Times ("Das Reich, die Macht und die Herrlichkeit"), er beschreibt den Aufstieg eines Pornokönigs ("Eine Frage der Fantasie"), das illustre Leben einer Opernsängerin ("Reisen mit einer Diva") oder die Aufnahme eines Duetts von Tony Bennett und Lady Gaga – die Begegnung zweier Stars, die Generationen auseinanderliegen ("High Notes").
Grandioser Beobachter und detailversessener Erzähler
Talese erweist sich als grandioser Beobachter und detailversessener Erzähler, der sich seinen Protagonisten regelrecht an die Fersen heftet. Mit der Sopranistin Marina Poplavskaya etwa reiste er von Moskau nach Buenos Aires, war bei diversen Proben und Aufführungen zugegen und residierte im gleichen Hotel wie die Sängerin.
Sein Porträt besticht daher nicht nur durch akribische Recherchen, sondern auch durch gemeinsam Erlebtes. Wenn die kapriziöse Diva ihn eines Abends beim Essen plötzlich anherrscht, dass es seine Schuld sei, wenn sie schlecht singe, offenbart sich mit einem Schlag die ganze Launenhaftigkeit der Sängerin.
Zudem hat Talese ein wunderbares Gespür für Takt und Komposition seiner Storys. Großartig, wie er den 85-jährigen Tony Bennett beim Einsingen beschreibt und dann das verspätete, geradezu zelebrierte Erscheinen der vierzig Jahre jüngeren Lady Gaga samt Entourage minutiös festhält.
Mit Liebe für Randfiguren des Geschehens
Und auch seine Liebe für Randfiguren trägt Früchte: etwa wenn er eine kleine, grauhaarige Dame ins Licht rückt, die Frank Sinatra für 400 Dollar die Woche zur Seite stand – als Verantwortliche für dessen Toupets, immerhin über 60 an der Zahl.
Diese Reportagen gehören zum Besten, was der Journalismus zu bieten hat. Sie haben auch nach Jahrzehnten noch keinerlei Staub angesetzt. Ein wunderbarer Sammelband!