Gaye Boralioglu: "Die Frauen von Istanbul"

Gefangen zwischen Kopftuch und Lippenstift

Solidarität nach der Räumung des Gezi-Park in Istanbul im Juni 2013: In Berlin-Kreuzberg startete damals eine Demonstration.
Solidarität nach der Räumung des Gezi-Park in Istanbul im Juni 2013: In Berlin-Kreuzberg startete damals eine Demonstration. © imago/Christian Ditsch
Von Ursula März |
Die türkische Autorin Gaye Boralioglu ist eine politische Person, sie war wegen ihrer politischen Haltung sogar im Gefängnis. Ihre Prosa zeichnet sich durch sachlichen Minimalismus aus - und doch liegen ihre Erzählungen in einem politischen Kontext, den der Leser nur erahnt.
Der hierzulande erbittert geführte Kopftuchstreit hat das Bild arabischer und türkischer Frauen seltsam verzerrt. Indirekt unterstellt die Dauerdebatte, auch für die Frauen selbst sei die Entscheidung, ob sie ein Kopftuch tragen oder nicht, so ausschlaggebend für ihre Identität wie sie es für westliche Betrachter zu sein scheint. Der Blick auf die tatsächliche Lebensrealität heutiger Frauen in islamischen Kulturen geht dabei verloren, beziehungsweise an der Realität vorbei.
Der Erzählband "Die Frauen von Istanbul" der 1963 in Istanbul geborenen Schriftstellerin und erfolgreichen Drehbuchautorin Gaye Boralioglu hat schon aus diesem Grund für den deutschen Leser nicht nur literarische, sondern kultursoziologische Reize. Jede dieser dreizehn, gebündelt und konzentriert erzählten, bisweilen szenischen Geschichten führt den Leser nah heran an den Alltag, die Gedanken- und Lebenswelt türkischer Frauen.

Woran starb der Mann plötzlich?

Ein Kopftuch taucht schon auf der ersten Seite der ersten Geschichte auf, handlungsentscheidend ist es nicht. Die junge Hatice bindet es sich zum Nachmittagsgebet routiniert um. Als sie später im Zug sitzt und nach der Arbeit aus der Innenstadt Istanbuls zu ihrer Wohnung an die Peripherie der Stadt fährt, trägt sie es nicht mehr. Fast ereignislos verläuft diese Erzählung zunächst. Hatice beobachtet Mitpassagiere, schaut zum Fenster hinaus, überlässt sich Assoziationen, begrüßt ihren Ehemann, der an einer Station zusteigt. Mit kleinen Zeichen und diskreten Hinweisen bereitet der Text den Schrecken vor, der sich im allerletzten Absatz ereignet. Der Kopf des Ehemanns fällt zur Seite, Hatice fühlt seinen Puls – er lebt nicht mehr. Woran er plötzlich starb, teilt die Geschichte nicht mit. Eben diese Lücke macht sie zu einer Parabel immerwährender, aber diffuser, ungreifbarer Bedrohung und Gefahr.

Sie sind ein heimliches Leben gewohnt

Gaye Boralioglu, die nach dem Militärputsch des Jahres 1980 wegen ihrer politischen Haltung zu einer Haftstrafe verurteilt wurde und ins Gefängnis kam, kommentiert den politischen Kontext ihrer Erzählungen nicht. Man kann nur erahnen, dass die Sängerin eines Casting-Wettbewerbs von der Jury weggeschickt wird, weil sie Jüdin ist und in ihrem Lied hebräische Wörter benutzte. Unklar bleibt auch, weshalb eine junge Frau im Gefängnis ist, die durch das Gitter des Besucherraums hindurch mit ihren verzweifelten Eltern spricht und ihnen tröstliche Lügen über den Zustand ihrer Zelle und die Ernährung der Haftanstalt erzählt.
Ein sachlicher und eindrücklicher Minimalismus zeichnet die Prosa Boralioglus aus. Beinahe physisch wird der Druck erlebbar, unter dem viele der Frauen stehen. Sie sind gewohnt, kein Wort zu viel über ihre Träume, Sehnsüchte und ihre Fluchten in Freiheiten zu verraten. Und sie sind es gewohnt, eine Art heimliches Leben zu führen, und sei es mit Hilfe eines Etuis, in dem sie Lippenstift und falsche Wimpern verstecken. Düstere Schwermut und helle Sehnsucht halten sich bei diesen Frauen von Istanbul die Waage.

Gaye Boralioglu: "Die Frauen von Istanbul. Erzählungen einer unbekannten Gesellschaft"
Aus dem Türkischen von Wolfgang Riemann und Monika Carbe
Größenwahn Verlag, Frankfurt am Main 2016
180 Seiten, 17, 40 Euro

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